Gusto's Entgegnung siehe unten

Münchner Merkur, Montag, den 3. Juli 1950, Nr. 171, Seite 3


"Ich heisse Gräser, aber sagen Sie Gras!"

Begegnung mit dem Kohlrabiapostel" -  Rohkost und verschiedenfarbige Gedichte

     Er sitzt mir plötzlich in der Linie 6 gegenüber. Nicht dass ich ihn, dass er mich sofort wiedererkennt, ist erstaunlich. Ich habe mich in vier Jahrzehnten immerhin verändert. Er nicht. Zwar ist sein schöner Prophetenbart grau und sein Haar noch länger unter dem bunten Stirnband. Aber das Urgewand, das er trägt, ist das gleiche wie vor fünfundvierzig Jahren, als ich ihn kennenlernte: ein über der Brust gekreuzter weitärmliger Kittel mit Gürtelstrick und eine Sackhose mit weitem Gesäss, um die Beine enggewickelt, wie man sie auf dem Balkan trägt. Und umugehängt das geräumige Netz, in dem er seine vegetarische Rohkost herumträgt. Früher befanden sich auch noch die blauen, roten, grünen und gelben Papierrollen drin, auf die er in grosser Blockschrift seine Gedichte schrieb.
     Diese Gedichte brachten uns einst zusammen. Ich sass damals als Jüngster in der Redaktion der "Jugend". Eines Morgens stand dieser ungewöhnliche Besucher vor meinem Schreibtisch, auf den er die fünf buntfarbigen Papyrusrollen legte: ‘'Ich heisse Gräser", sagte er, "aber sagen Sie Gras. Ich bin ein Individualist. Hier sind meine Dichtungen, nach Themen gefärbt; rot die Liebe, grün die Natur, blau der Traum, gelb die Spiesser, die mich beneiden." Die "Jugend"druckte einige gelbe Proben ab, und wir halfen dem sympathischen Sonderling mit dem wohlklingenden tiefen Bariton seine Propaganda-Vorträge füllen, die er bald hier, bald dort hielt, um die Masse der Stadtmenschen durch sein Beispiel zum Naturleben su bekehren. Er selbst lebte - aus Propagandagründen - nicht ganz das Leben, das er predigte. Allnächtlich sass er im Tabakqualm und der drangvollen Enge des '’Simpl" und trug öfters ein rotes, grünes oder auch gelbes Gedicht vor. Die Schwabingerinnen,vor allem aber die Kommerzienratstöchter mit den Salome - Allüren, die damals in Mode kamen, frassen ihn mit den Augen: "Jochanaan, ich bin verliebt in deinen Bart!" Es war der schönste Bart in damals noch bärtigen Schwabing.
     Wie, wofür und wovon er lebte, danach fragte niemand. Das war im damaligen Schwabing kein Problem. Man "lebte mit"! Unser Freund Jochanaan war abwechselnd Schlafgast bei jedem von uns. Doch eines Morgens klingelte es nachdrücklich an der Tür meines Ateliers in der Ainmillerstrasse. Ein gemütlicher Schutzmann stand draussen und machte mich schmuzelnd aufmerksam, dass an meinem Atelierfenster ein '’nacketer Kerl" stehe. Unten auf der Strasse hastte sich schon eine kleine Ansammlung gebildet und sah sich die Frühstücksgymnastik meines Sonnenanbeters an. "Wissen's i möchts net melden!" sagte der biedere Ordnungsmann. Wir wurden also nicht eingesperrt.
     Heute fällt mir das alles ein, weil ich ihn wiedergesehen habe, unseren Kohlrabi-Apostel und mich staunend frage, wie er die lange Zwischenzeit überstehen konnte. Zwei Weltkriege und ein tausendjähriges Reich! Nach der ersten Katastrophe 1918 traf ich ihn zufällig wieder und stellte offen die Frage. Ja, gestand er, drei lange Tage habe man ihn in einer Kaserne fesgehalten , dann aber wieder fortgeschickt, weil damals kein Feldwebel etwas mit ihm anfangen konnte. Er habe sich daraufhin an einem verlassenen Bergsee eine Hütte gebaut und aus einem Baumstamm ein Boot geschnitzt, das just zum Friedensschluss fertig wurde. . .
     Aber seither kam es ja noch viel toller: Bombennächte, Hunger, Terror, organisiertes Kartenelend. Wie er das überlebt hat, vergass ich ihn zu fragen. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich möchte lieber kindhaft an eines der wenigen Wunder glauben, die es heute noch gibt.  E r   l e b t !

René Prévot

 
München-Freimann, den 5. Juli 1950.

An die
Schriftleitung des "Münchner MERCUR",
Hier.

Ich heiße Gräser, - oder sagen wir Gras, weil Namen nicht allzuviel wiegen.
 
Mein heutiger Gang durch die Stadt schmeckte ein wenig nach Spießruten. Die Kohlrabi, der Individualist, (der) Jochanaan und der "nackete Kerl"  waren etwas scharfer Tobak sogar für mich dickhäutig gewordenen Alten, der sich an so manches in seinem langen Leben gewöhnen konnt.

Was Sie da schreiben, (lieber) Herr Prevot, heißt auf gut deutsch: Der Gräser war verrückt und ist es noch immer.

Spaß muß ja freilich sein, doch obacht – zuviel und unangebracht verschwätzt er, verscherzt er unsere Freude, die köstlich freundliche.
Nun kann ich Ihnen nicht einmal so unrecht geben. Bin freilich verrückt, sogar weit von der in's Elend rasenden Zeit; zumal mir völlig klar ist, daß diese Erde von Verrückten wimmelt; die sich nur in der Farbe unterscheiden, sodaß – sagen wir – der Durchschnitt schwarz, rot, braune Vögel, und gerade ich einen grünen Vogel hab. –

Aber nun kommt die Summe, Herr Prevot.

Über ein halbes Jahrhundert trage ich meinen Grünspecht im Kopf und schaue hinein in den rot, braun, schwarzen Wahnsinn und erlebe 50 Jahre lang, wie das, was man die Menschen heißt, immer toller, verückter und immer schwärzer und schwärzer wird, wie sie immer schneller zu ihren "Suppenschüsseln" rasen, sich die Brocken vom Mund zu reißen, - wie sich der Krampf ihrer Verrücktheit immer höher und höher steigert, sodaß ihnen ein paar Weltkriege schon nicht mehr genügen, ihre Verrücktheit auszutoben, - während mein Grünspecht immer noch fidel über Wahnsinnwüsten in seine Wälder fliegt und damit mir selbst und meiner kilometerfressenden Umwelt den Beweis liefert, daß mein Vogel der gesündere ist.

Glauben Sie mir, der Alte hätte seiner Mitwelt, wo sie nur die Ohren, das Herze hätt', ihn unbefangen anzuhören, ihm ein wenig zu vertrauen, manch' heil-heitre Weisheit zu sagen.

Aber wo hat je ein Narr gewlebt, der sich selbst als Narr erkannt – und wo ein Weiser, der nicht zum Gespött der Närrischen ward? – Ein frischfromm Spiel muß beginnen, ein fröhlich Notwendspiel, wo treuer Ernst dabei. – Aus dunklem Ernst glüht auf der Freude Stern; hier glückt sie auf, nicht dort, werweißwiefern – Allhier – in – ew'ger – Gegenwart. –

Allso – ist nicht alles Kohlrabi, was Kohlrabi scheint und meine geistige Rohkost (Frohkost) – ich glaub' uns Menschen tät sie not.

Was ich bin, das weiß ich nicht,
sicherlich kein Wichtig-Wicht!
Daß ich bin – muß ich es wagen, treu mein Leben durchzuschlagen;
daß ich bin – muß ich mein Leben dem Lebendigen ergeben. –
Was wir sind? – Frag voll Beschwerden –
daß wir sind – wohlauf zu werden.

Im übrigen danke ich Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Bemühung
 
Ihr Gräser
oder sagen wir Gras