12. April 2010

Gusto Gräser, der Freund und Lehrmeister Hermann Hesses – einer von uns?

Hans Bergel, einer der bedeutendsten siebenbürgisch-sächsischen Essayisten, Erzähler, Lyriker, Journalisten und Herausgeber des 20. und 21. Jahrhunderts, las am 26. März in der „Stuttgarter Vortragsreihe“ im Haus der Heimat in Stuttgart. Thema des gelungenen Vortrags war die erste seiner 2009 im Bamberger Johannis Reeg Verlag erschienenen 13 Porträtstudien über herausragende Persönlichkeiten, die zweierlei gemeinsam haben: den Herkunftsraum und dessen – meist politisch bedingte – Preisgabe.

Alle leisteten in ihrem Bereich Außerordentliches, einige erlangten Weltruhm. Sie stammen aus Siebenbürgen, der Bukowina und dem Banat beiderseits der Theiß. Der Titel des neuesten Werkes des „gelernten Polyhistors und sprachmächtigen Erzählers“ (Zitat Markus Fischer) lautet: Wegkreuzungen – Dreizehn Lebensbilder.

Die geistig, intellektuell und weltanschaulich wohl schillerndste dieser 13 Persönlichkeiten und einer der interessantesten und faszinierendsten Siebenbürger Sachsen überhaupt war „der lachende Apostel“ oder mehr noch „der lachende Siebenbürger“ Gusto Arthur Gräser. Er erblickte am 16. Februar 1879 im siebenbürgischen Kronstadt als viertes Kind des Juristen und späteren Bezirksrichters Carl Samuel Gräser und der Charlotte geb. Pelzen das Licht der Welt.

Im Alter von elf Jahren begann Gräser den Schulbesuch auf dem renommierten Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt. Doch schon in diesem zarten Alter empfand er „die Schule als Ballast und lehnte sich gegen sie auf, indem er so lange unvorbereitet im Unterricht erschien, bis er durchfiel“ und 1894 das Gymnasium verlassen musste.

In diesem Alter, mit 15 Jahren, treten verblüffende Parallelen zum jungen Hermann Hesse auf, der Gräser später als „seinen Lehrmeister“ bezeichnen sollte: Auch der zwei Jahre ältere Hesse verließ mit 15 das evangelisch-theologische Seminar in Maulbronn, „dessen pietistische Strenge“ ihn bedrängte. „Beiden war es um die Möglichkeit der Harmonisierung des Gegensatzes Geist – Welt, Mensch – Natur gegangen, der den Kern ihres Wesens berührte.“ „Verlegte Hesse jedoch die Auseinandersetzung mit diesen Fragen auf die Ebene des literarischen, so meinte Gräser die Auseinandersetzung auf der Ebene der praktischen Konfrontation, die er ein Leben lang konstant durchhielt.“

Wie nun aber lebte „Arthur Siebenbürger“ oder „Gusto Gras“, wie er sich auch nannte? „Die als Zwang empfundene Schule [...] und die ihm unverständlichen Suaden der lutherischen Pfarrer waren das eine, klar erkennbare Motiv des Aufbruchs. Das zweite darf im Tod des Vaters 1894 vermutet werden – die starke Bindung an den Vater begleitete diesen Mann sein Leben lang“. Gräser muss nach der Zwangsexmatrikulation im Brukenthal-Gymnasium eine Schlosser-Lehre in Kronstadt beginnen, wo er sich verkannt sieht und durchbrennt. Die letzte Information über seinen Verbleib stammt aus Budapest, wo er als Goldschmied-Lehrling als 17-jähriger für ein Holschnitzwerk auf der Weltausstellung mit der Goldmedaille ausgezeichnet wird.

Darauf bereist er halb Europa, predigt seine Ansichten auf Marktplätzen, verteilt seine Gedichte, lebt als „eine der eigenartigsten und bemerkenswertesten Gestalten der deutschen Kulturszene aus den Epochen um die beiden Weltkriege, ein Einzelgänger und Unbehauster, der in bayerischen Berghütten, in einer Höhle der Schweizer Alpen, in einem Wohnboot auf einem der Berliner Seen und Gott weiß wo sonst noch.

Er wird „aus mehreren Staaten und vielen Städten polizeilich vertrieben, in Gefängnisse und Irrenhäuser gesteckt, zum Tod verurteilt“. Allerdings ist die Liste seiner Fürsprecher lang. Viele Literaten seiner Zeit nahmen Gräser als Vorbild und Hauptgestalten ihrer Romane – wie Gerhart Hauptmann 1910 in „Der Narr in Christo Emanuel Quint“ und Hermann Hesse 1919 in „Demian“. Gräser „wurde 1933 von den Nazis ins Konzentrationslager Großöhmig gesteckt, 1940 abermals verhaftet und verbarg sich vor ihnen jahrelang in den Dachkammern der Wohnungen berühmter Münchner Universitätsprofessoren bis 1945.“ Lange Zeit seines Lebens verbrachte er in einer Höhle im schweizerischen Tessin, auf dem „Monte Verita“, bezeichnenderweise dem „Berg der Wahrheit“. Hier verbrachte er viel Zeit mit Hermann Hesse und empfing Gäste wie Lenin, Ernst Bloch und die berühmte Tänzerin Mary Wigman. Gusto Gräser starb 1958 in München den Hungertod. Vor allem in der Zeit von 1945 bis 1958 gehörte er zu einer der schillerndsten Figuren der Münchner Kulturszene. Gusto Gräser ist die einzige der 13 Persönlichkeiten der „Wegkreuzungen“, die Hans Bergel nicht persönlich kannte – wohl auch nicht kennen konnte, da er Ende der 50er Jahre von der Securitate inhaftiert war, da auch er wie Gräser sich weder von den Kommunisten noch von den Nazis in die Knie zwingen ließ. Sein Kapitel zu Gusto Gräser jedoch macht großen Appetit auf die folgenden zwölf Lebensbilder aus unserer geliebten alten Heimat.

Hans Bergel bezeichnete „Gusto Gras“ als Vorläufer der Grünen, der sich schon im 19. Jahrhundert Sorgen um unsere Natur, die Grundlage unserer Existenz, machte und die Konsequenzen der industriellen Revolution, welche die Menschen seiner Zeit ungemein beeindruckte und prägte, erkannte und nannte. Doch „niemals und von niemandem forderte Gustav Arthur Gräser je den von ihm vollzogenen, klaglos bis zu Ende gelebten Ausstieg aus den gesellschaftlichen Regeln seiner Zeit. Seine Aufforderungen seien höchstens als Lockrufe, nicht als ideologische Vorschrift zu verstehen. Gräser war der Gegenentwurf zu jederlei Ideologie und Demagogie, was schon der Beiname belegt, den man ihm gab: „Der lachende Siebenbürger“.

War nun Gusto Gräser einer von uns Siebenbürger Sachsen? Bergel sagt: „Sehen Sie, wir Siebenbürger sind ein interessantes Völkchen“. Wenn man der Aussage aus einem unserer bekanntesten Volkslieder „da keiner Herr und keiner Knecht“ sowie unserer Volksidentität die verinnerlichte Toleranz gegenüber Andersdenkenden unterstellt, so war Gusto Gräser einer von uns, und zwar ein ganz Großer, auf den wir ebenso stolz sein können wie er es immer auf uns war.

Hans Jürgen Albrich


Hans Bergel: „Wegkreuzungen“, Johannis Reeg Verlag, 176 Seiten, 16,50 Euro, zu bestellen im Buchhandel oder unter www.siebenbuerger.de/shop.