Hans
Bergel, einer der bedeutendsten siebenbürgisch-sächsischen Essayisten,
Erzähler, Lyriker, Journalisten und Herausgeber des 20. und 21.
Jahrhunderts, las am 26. März in der „Stuttgarter Vortragsreihe“ im
Haus der Heimat in Stuttgart. Thema des gelungenen Vortrags war die
erste seiner 2009 im Bamberger Johannis Reeg Verlag erschienenen 13
Porträtstudien über herausragende Persönlichkeiten, die zweierlei
gemeinsam haben: den Herkunftsraum und dessen – meist politisch
bedingte – Preisgabe.
Alle leisteten in ihrem Bereich Außerordentliches, einige erlangten
Weltruhm. Sie stammen aus Siebenbürgen, der Bukowina und dem Banat
beiderseits der Theiß. Der Titel des neuesten Werkes des „gelernten
Polyhistors und sprachmächtigen Erzählers“ (Zitat Markus Fischer)
lautet: Wegkreuzungen – Dreizehn Lebensbilder.
Die geistig, intellektuell und weltanschaulich wohl schillerndste
dieser 13 Persönlichkeiten und einer der interessantesten und
faszinierendsten Siebenbürger Sachsen überhaupt war „der lachende
Apostel“ oder mehr noch „der lachende Siebenbürger“ Gusto Arthur
Gräser. Er erblickte am 16. Februar 1879 im siebenbürgischen Kronstadt
als viertes Kind des Juristen und späteren Bezirksrichters Carl Samuel
Gräser und der Charlotte geb. Pelzen das Licht der Welt.
Im Alter von elf Jahren begann Gräser den Schulbesuch auf dem
renommierten Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt. Doch schon in diesem
zarten Alter empfand er „die Schule als Ballast und lehnte sich gegen
sie auf, indem er so lange unvorbereitet im Unterricht erschien, bis er
durchfiel“ und 1894 das Gymnasium verlassen musste.
In diesem Alter, mit 15 Jahren, treten verblüffende Parallelen zum
jungen Hermann Hesse auf, der Gräser später als „seinen Lehrmeister“
bezeichnen sollte: Auch der zwei Jahre ältere Hesse verließ mit 15 das
evangelisch-theologische Seminar in Maulbronn, „dessen pietistische
Strenge“ ihn bedrängte. „Beiden war es um die Möglichkeit der
Harmonisierung des Gegensatzes Geist – Welt, Mensch – Natur gegangen,
der den Kern ihres Wesens berührte.“ „Verlegte Hesse jedoch die
Auseinandersetzung mit diesen Fragen auf die Ebene des literarischen,
so meinte Gräser die Auseinandersetzung auf der Ebene der praktischen
Konfrontation, die er ein Leben lang konstant durchhielt.“
Wie nun aber lebte „Arthur Siebenbürger“ oder „Gusto Gras“, wie er sich
auch nannte? „Die als Zwang empfundene Schule [...] und die ihm
unverständlichen Suaden der lutherischen Pfarrer waren das eine, klar
erkennbare Motiv des Aufbruchs. Das zweite darf im Tod des Vaters 1894
vermutet werden – die starke Bindung an den Vater begleitete diesen
Mann sein Leben lang“. Gräser muss nach der Zwangsexmatrikulation im
Brukenthal-Gymnasium eine Schlosser-Lehre in Kronstadt beginnen, wo er
sich verkannt sieht und durchbrennt. Die letzte Information über seinen
Verbleib stammt aus Budapest, wo er als Goldschmied-Lehrling als
17-jähriger für ein Holschnitzwerk auf der Weltausstellung mit der
Goldmedaille ausgezeichnet wird.
Darauf bereist er halb Europa, predigt seine Ansichten auf
Marktplätzen, verteilt seine Gedichte, lebt als „eine der
eigenartigsten und bemerkenswertesten Gestalten der deutschen
Kulturszene aus den Epochen um die beiden Weltkriege, ein Einzelgänger
und Unbehauster, der in bayerischen Berghütten, in einer Höhle der
Schweizer Alpen, in einem Wohnboot auf einem der Berliner Seen und Gott
weiß wo sonst noch.
Er wird „aus mehreren Staaten und vielen Städten polizeilich
vertrieben, in Gefängnisse und Irrenhäuser gesteckt, zum Tod
verurteilt“. Allerdings ist die Liste seiner Fürsprecher lang. Viele
Literaten seiner Zeit nahmen Gräser als Vorbild und Hauptgestalten
ihrer Romane – wie Gerhart Hauptmann 1910 in „Der Narr in Christo
Emanuel Quint“ und Hermann Hesse 1919 in „Demian“.
Gräser „wurde 1933 von den Nazis ins Konzentrationslager Großöhmig
gesteckt, 1940 abermals verhaftet und verbarg sich vor ihnen jahrelang
in den Dachkammern der Wohnungen berühmter Münchner
Universitätsprofessoren bis 1945.“ Lange Zeit seines Lebens verbrachte
er in einer Höhle im schweizerischen Tessin, auf dem „Monte Verita“,
bezeichnenderweise dem „Berg der Wahrheit“. Hier verbrachte er viel
Zeit mit Hermann Hesse und empfing Gäste wie Lenin, Ernst Bloch und die
berühmte Tänzerin Mary Wigman. Gusto Gräser starb 1958 in München den
Hungertod. Vor allem in der Zeit von 1945 bis 1958 gehörte er zu einer
der schillerndsten Figuren der Münchner Kulturszene. Gusto Gräser ist
die einzige der 13 Persönlichkeiten der „Wegkreuzungen“, die Hans
Bergel nicht persönlich kannte – wohl auch nicht kennen konnte, da er
Ende der 50er Jahre von der Securitate inhaftiert war, da auch er wie
Gräser sich weder von den Kommunisten noch von den Nazis in die Knie
zwingen ließ. Sein Kapitel zu Gusto Gräser jedoch macht großen Appetit
auf die folgenden zwölf Lebensbilder aus unserer geliebten alten Heimat.
Hans Bergel bezeichnete „Gusto Gras“ als Vorläufer der Grünen, der sich
schon im 19. Jahrhundert Sorgen um unsere Natur, die Grundlage unserer
Existenz, machte und die Konsequenzen der industriellen Revolution,
welche die Menschen seiner Zeit ungemein beeindruckte und prägte,
erkannte und nannte. Doch „niemals und von niemandem forderte Gustav
Arthur Gräser je den von ihm vollzogenen, klaglos bis zu Ende gelebten
Ausstieg aus den gesellschaftlichen Regeln seiner Zeit. Seine
Aufforderungen seien höchstens als Lockrufe, nicht als ideologische
Vorschrift zu verstehen. Gräser war der Gegenentwurf zu jederlei
Ideologie und Demagogie, was schon der Beiname belegt, den man ihm gab:
„Der lachende Siebenbürger“.
War nun Gusto Gräser einer von uns Siebenbürger Sachsen? Bergel sagt:
„Sehen Sie, wir Siebenbürger sind ein interessantes Völkchen“. Wenn man
der Aussage aus einem unserer bekanntesten Volkslieder „da keiner Herr
und keiner Knecht“ sowie unserer Volksidentität die verinnerlichte
Toleranz gegenüber Andersdenkenden unterstellt, so war Gusto Gräser
einer von uns, und zwar ein ganz Großer, auf den wir ebenso stolz sein
können wie er es immer auf uns war.
Hans Jürgen Albrich
Hans Bergel: „Wegkreuzungen“, Johannis Reeg Verlag, 176 Seiten, 16,50 Euro, zu bestellen im Buchhandel oder unter
www.siebenbuerger.de/shop.