Die mexikanische
Autorin Marcela Sánchez Mota baut dem Eremiten Gusto in ihrem Roman
einen Altar, die französische Erzählerin Marie-Laure de Cazotte feiert
ihn als Tänzer und Druiden, ein anderer Autor nennt ihn einen
„Weltstar“, ein dritter sieht ihn als Gegenspieler von Hitler. Der
britische Liedermacher Steve Hackett besingt ihn als erleuchteten
Eremiten: „The mantle of attainment weighs heavy on his shoulders ...“
Alles nur Projektionen, Wunschbilder, Fantasien? Keineswegs. So haben
ihn schon Zeitgenossen wie Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse gesehen,
die ihn persönlich kannten.
Eine solche Szene hatte es bis dahin in der europäischen
Geistesgeschichte noch nicht gegeben: ein langhaariger Einsiedler in
einer Höhle der Alpen, der mit einem schon berühmten Schriftsteller
zusammen die heiligen Schriften der Inder liest. Eine Urszene, ein
archetypisches Bild. Indien kennt es als „satsang“: ein Schüler sitzt
dem erleuchteten Meister zu Füßen. Beide befinden sich buchstäblich im
Schoß der Mutter Erde, aus dem im Mythos die Helden, die Befreier, die
Götter hervorgehen. Hesse hat die Szene im Sommer 1917 gemalt, nach
einem Besuch auf dem Monte Verità: In finsterer Nacht tanzen zwei
Gestalten in einer Felsgrotte um einen flammenden Feueraltar. Ein
Abbild ihrer damaligen Situation: Als aktive oder potenzielle
Kriegsdienstverweigerer standen sie außerhalb der bestehenden
Gesellschaft. Gusto Gräser war kurz zuvor wie durch ein Wunder seiner
Erschießung im Kronstädter Gefängnis entgangen, er lebte illegal als
unerwünschter Ausländer im Tessin.
Gusto Gräser im Alter. Foto: Gusto Gräser-Archiv FreudensteinEin
anderes Bild: der Mann im Eselwagen. 1930, als die Nationalsozialisten
in die Parlamente einzogen, sah Gusto sein Wirken durchs Wort als
gescheitert. Drei Jahre lang hatte er in öffentlichen Reden in Berlin
vergeblich gewarnt: „Stell dich nicht hoch, o Volk!“ Er hatte dem
„Großen Maul“ das „Große Ohr“ entgegengestellt, dem Diktator den
Dichter, dem hasspredigenden „Anführer“ den fühlenden „Fürkämpfer“.
Umsonst. Nun blieb ihm nur noch das Mittel der zeichenhaften Tat. Seine
Tochter sollte ihr Auto eintauschen gegen einen Eselskarren. So geschah
es. Und mit seinem Schwiegersohn zog Gusto mit einer Eselin durch die
deutschen Lande, seine Schriften verteilend, Lieder singend. Die Fahrt
endete, nach dem Bericht eines Zeitgenossen, im KZ Osterhofen. Beide
überlebten. Nach dem Krieg setzte sein junger Freund die Fahrt mit dem
Eselwagen fort. Die neue Eselin hieß wie die alte: Fanny. Ihr Lenker
Otto Großöhmig wurde in den Siebzigerjahren Mitgründer der Partei der
„Grünen“.
Gräser aber erfreute sich seit den Vierzigerjahren eines Mantels der
Geheimen Staatspolizei (Gestapo). Die hatte ihn in ein Warenhaus
geschleppt und ihm einen Havelock aufgedrängt: so wie er könne man im
Dritten Reich nicht herumlaufen. Gräser, als „Asozialer“ gebrandmarkt
und mit Schreibverbot belegt, flüchtete sich aus Berlin zu Freunden in
München. Dem Mantel der Staatspolizei schnitt er die Ärmel ab, stutzte
die Länge und setzte im Rücken ein Rübezahlschwänzchen an. So
umgerüstet trug er das Staatsgeschenk bis an sein Lebensende.
Zu Kronstadt auf der Burg, da fing sein Leiden an. In den Kasematten
der Cetatea, als Militärdienstverweigerer verurteilt, erschien ihm an
der Kerkerwand eine Vision: eine endlose Schar von lachenden
Erdensöhnen, die Menschen der Zukunft. „Hei, wie das lacht und kracht!“
Einer seiner jungen Freunde machte aus dieser Vision ein Büchlein,
schrieb die „Worte an eine Schar“ in der Hoffnung, dass sich aus der
Mitte der Jugend heraus „die heilige Schar bilden wird, die mit der
Leidenschaft der Liebe um die Geburt des neuen Menschenbildes ringt;
die Schar, die uns erlöst“. Die heilige Schar! Ein anderer junger
Freund, der Drechsler Friedrich Muck-Lamberty, unternahm es, diesen
Bund im Wandervogelfeld zu sammeln. Ab Pfingsten 1920 zog diese „Neue
Schar“ singend, tanzend und spielend durch Thüringen. „Ganz Thüringen
tanzt … Tausende auf einem Platz!“, schrieb damals der Verleger Eugen
Diederichs. Gräsers Gedichte flatterten dem Zug voran, er selbst sang
und sprach an den Lagerfeuern der Spiel- und Wanderschar. Von einem
„Kreuzzug der Fröhlichkeit“ war die Rede oder von einem
„Kinderkreuzzug“.
Hermann Hesse hat diese Fahrt als „Morgenlandfahrt“ in der
gleichnamigen Erzählung mythisch-religiös gedeutet: als den ewigen Zug
der Menschheit zu den Quellen des Lichts. Gusto Gräser-Leo, der
Löwenmensch, ist ihm der Diener und zugleich der verborgene Oberste
dieses Geheimbunds, mit dem er als „H. H.“ liebend sich vereint. Ihre
Verbindung blieb in der Tat geheim, nur im Schutze der Dichtung konnte
Hesse sich zu seinem Freund bekennen.
Der Tänzer. An Ostern 1905 beobachtet der Ex-Erzherzog Lepold Wölfling
die „balabiott“ von Ascona. Karl Gräser, sein einstiger Untergebener,
hatte ihn eingeladen, jetzt als sein Gastgeber. Damals ging es als
Sensation durch die Weltpresse: Ein Erzherzog schließt sich mitsamt
seiner Frau den „Naturmenschen“ von Ascona an und nimmt teil an deren
nächtlichen Mondscheintänzen im Wald von Arcegno! Doch Wölfling ist
enttäuscht: „Diese Menschen, Männer und Frauen, hatten allen Gedanken
an Sex verloren“. Sie stampften, sprangen und stießen Schreie aus. Sie
tanzten ekstatisch die Befreiung von allem Zwang, von jeder Konvention.
„Sie tanzten wie die Araber [wie die Derwische der Sufis]! Sie waren ja
so religiös“, erzählt ein anderer Zeuge. Gräser hatte den heilenden
Ausdruckstanz erfunden, eine Vorform der Urschreitherapie. Seinen neuen
Tanz brachte er 1908 in München auf die Bühne, jetzt als
philosophischen Tanz, der die Entwicklung der Menschheit seit der
Zähmung des Feuers versinnbildlichen sollte. Durch seinen Landsmann
Rudolf von Laban und die befreundete Mary Wigman wurde sein
Ausdruckstanz in die Welt getragen. Heute stehen in Athen und Delphi
Museen seines Schülers, des Amerikaners Raymond Duncan, Bruder der
Isadora, die das Gräsersche Erbe weitertragen.
Während aber Duncan als Amerikaner sich frei entfalten konnte, wurde
Gräser in Europa ein Opfer der staatlichen Gewalt. Immer wieder
verhaftet, ausgewiesen und abgeschoben: aus Sachsen, aus Baden, aus
Württemberg, aus Bayern, aus der Schweiz. Ein Weg durch Gefängnisse und
Nachtasyle. Er galt ja offiziell als Ausländer, als „der
staatsgefährliche Rumäne Gusto Gräser“. Dass er auf sein Deutschsein
pochte, sich mit Bedacht „Arthur Siebenbürger“ nannte, half ihm wenig
oder nichts. Auch nicht die Fürsprache prominenter Schriftsteller wie
Gerhart Hauptmann oder Richard Dehmel. Nur das Wort Thomas Manns hatte
Gewicht genug, ihm 1926 die Ausweisung aus dem ganzen deutschen Reich
zu ersparen. Nach 1945 wollten ihn die Münchner Behörden zu den
„displaced persons“ abschieben, weil „Rumäne“. Fast nur noch im Café
Klein-Bukarest, hinter der Münchner TH, fand er eine Zuflucht. Der Wirt
dort war ein Landsmann, ein ehemaliger rumänischer Fliegeroffizier.
Hier hatte er seinen Stammplatz, hier war er Ehrengast, der nur den
halben Preis zu zahlen hatte und an seinem Geburtstag beschenkt wurde.
„Ein verrückter Sachse – aber genial“, sagte sein Wirt über ihn. Einmal
wurde ich Zeuge, wie ein schwarzer amerikanischer Sergeant dem greisen
Dichter wortlos einen Stoß Schreibpapier auf den Tisch klatschte und
ein Bündel Schreibstifte dazu. Er musste dem Mann, den er bewunderte,
ein Geschenk machen. Sie konnten sich mit Worten nicht verständigen,
sie schüttelten sich nur die Hände.
Reklamepostkarte
des Münchner Lokales „Klein-Bukarest“ mit seinem in rumänischer Tracht
posierenden Betreiber, dem ehemaligen Fliegeroffizier Aurică Popescu
(Ende 1960er Jahre). Die Aufnahmen hatte Franz Paulini (1915-1972), ein
ehemaliger Fotogehilfe von Fritz Römischer, gemacht. Sammlung Konrad
Klein
Als er unbemerkt gestorben war, verhungert in seiner unheizbaren
Dachkammer, sollte sein Lebenswerk auf den Müll geworfen werden. „Keine
Wertsachen“, lautete der amtliche Befund. Eine Verwandte von Gräser hat
einen Großteil davon bewahrt und später dem Archiv in Freudenstein
übergeben. Dort befindet sich heute die vollständigste Sammlung von
Gräseriana.
Über den Dichterpropheten Gusto Gräser sagte Hugo von Hofmannsthal in
einer berühmt gewordenen Rede: „Er ist auch Dichter, dieser unser
Ungenannter, vielleicht ist er mehr Prophet als Dichter. … Für ihn ist
alles überwunden und so wie es zu gelten scheint, nicht gültig, sondern
muss zu neuer Gültigkeit von ihm wiedergeboren werden.“
Propheten gelten nichts in ihrem Vaterland. Da bedeutet es schon viel,
dass etliche Siebenbürger ihn hoch geachtet oder gar sich für ihn
eingesetzt haben: Otto F. Jickeli, Emil Neugeboren, Oskar Kraemer,
Adolf Meschendörfer, Heinrich Zillich, Dieter Schlesak, Helmut Binder,
Hans Wühr, Hans Bergel und andere mehr. Wie schrieb Jickeli schon 1912
in den Karpaten? - „Wir sollen stolz sein, dass Gusto Gräser ein
Siebenbürger Sachse ist … Sein tapferes Leben ist uns ein Beweis, dass
die Menschheit noch Kraft und Mut hat, neue Wege zu gehen.“
Hermann Müller