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Diefenbachs Sonnengebet
 

   
Sonnenkult des Pythagoras
 

Sei mir, Mutter, gegrüßt! Dein Licht erleuchte mich, deine Gewalt, die Stürme erbrausen und Donner dröhnen lässt, stärke mich in dem Riesenkampfe meines Lebens. Deine Ruhe, der auch der dichteste Nebel weicht, beruhige auch mich, dem geistigen Nebel der Dummheit gegenüber. Deine Reinheit reinige mich, schwebe mir stets vor als Sinnbild der Wahrheit, die ganz und unverhüllt zu schauen keinem Sterblichen möglich ist., deren voller Glanz ein an Finsternis gewöhntes Auge tötet – sei mir Symbol, sei mir Vorbild in meinem Streben meinen Mitmenschen gegenüber. Vielen habe ich wehe getan, aus Unvernunft, indem ich ihnen plötzlich die nackte Wahrheit zeigen wollte, ohne wie Du unser Auge durch Dämmerung und Morgenröten – ihren schlaftrunkenen Geist langsam zu sich kommen und an größere Helle sich gewöhnen zu lassen. Sei mir ein Vorbild der Liebe, lasse mich nicht den Hass gegen das Schlechte auch auf den armen Menschen, der es begeht, übertragen. Lass mein Mitleid wie Deine Wärme – unerschöpflich – sein. Lehre mich, mit Hoheit und Würde und Liebe den Hohn, den Spott, die Schmach, das bittere Unrecht, das mir geschieht, ertragen. Zeige mir meine Fehler, deren Beseitigung mein höchstes Streben, deren Erkennen so schwer, deren Misserkennen so furchtbar, so entsetzlich in seinen Folgen. Zeige mir die Quelle alles Elends wie höchster Freude, lass mich einen Weg finden oder solchen bereiten, auf dem meine armen, verirrten, irregeleiteten Brüder und Schwestern zurückzuführen sind zu der Deiner Mutterliebe entsprechenden Glückseligkeit – zur Wahrheit.

Karl Wilhelm Diefenbach * Hohenpeissenberg, 28. Januar 1882