Der unglückliche Sohn

 
Helios Diefenbach

(1880-1950)

Helios ist das griechische Wort für den Sonnengott, für das von den Lebensreformern kaum weniger verehrte Licht. Die Geburt des neuen "Sonnengottes" stand unter keinem günstigen Stern. Diefenbach hatte seiner Geliebten Madeleine Atzinger von Anfang an und immer wieder erklärt, daß eine Ehe keinesfalls in Frage komme. Offenbar betrachtete er das Mädchen, das sich als Pflegerin  in seiner Krankheit an ihn "herangemacht" hatte (wie er später zu sagen pflegte), nicht als eine ebenbürtige und ihm angemessene Partnerin. Er war zur Trennung entschlossen und hatte sie ihr angekündigt, als ihn die Atzinger mit der Mitteilung überraschte, daß sie von ihm schwanger sei. Nun fühlte er sich moralisch verpflichet, für sein Kind zu sorgen und dessen Mutter, wohl oder übel, bei sich zu behalten.

Eine bedrückende Aussicht für den aufstrebenden Künstler und den in ihm erwachenden Reformer, der einem neuen, freieren Geschlecht voranleuchten wollte. Eine nicht unbegründete Angst kam belastend dazu: Beide Eltern waren kranke Menschen, sie an Tuberkulose leidend, er mit einem ganzen Bündel von schweren Gesundheitsschädigungen geschlagen. Würde das erwartete Kind gesund, würde es überhaupt lebensfähig sein? Noch aus einem anderen Grund wurde die Geburt zu einem Alptraum, auf den er später immer wieder zu sprechen kam: In eben der Nacht, da die werdende - uneheliche - Mutter in den Wehen lag, kam es zum Streit mit der Schwiegermutter, die eine erfahrene Hebamme war und sich die ungewöhnlichen Methoden des Lebensreformers nicht zu eigen machen wollte. Diefenbach wies ihr die Tür.

In der Tat kam diese Frucht einer längst gestörten, eigentlich schon gestorbenen Beziehung als außerordentlich schwaches Wesen zur Welt, dem der Arzt kaum eine Überlebenschance gab. Daß ihm der Vater dennoch den Namen Helios - Sonne oder Sonnengott - gab, zeigt seinen verzweifelten Willen zu Aufstieg und Sieg. Mußte er schon die Hoffnung auf eine glückliche Liebesverbindung begraben, dann sollte dieses Kind seinen Lebenswagen in lichte Höhen führen. Von Anfang an lastete auf diesem Sohn das Gewicht einer übersteigerten Hoffnung.

Der Vater freilich tat alles, um seine herausfordernde Namensgebung der Erfüllung nahezubringen. An diesem seinem Sohn mußte sich die Richtigkeit seiner bahnbrechenden Erkenntnisse erweisen. Deshalb konnte er die Pflege und Aufzucht des Kindes nicht der verhaßten Schulmedizin überlassen, auch nicht der in ihrer Unzulänglichkeit längst durchschauten Mutter. Er selbst nahm es in die Hand, das schwache Geschöpf zu ernähren, zu pflegen, seine Lebenskraft mit den Mitteln der Naturheilkunde zu stärken. Dazu gehörte, daß er statt den kleinen Helios, wie die Schwiegermutter es dringlich verlangte, in ein Wickelbett einzuschnüren, in einem Einkaufsnetz vor das Fensterbrett hängte, um das blasse Körperchen den heilenden und kräftigenden Strahlen der Sonne auszusetzen. Und siehe da: das Wunderbare geschah, daß das fast aufgegebene Wesen nicht nur gesundete, sondern sich zu einem ungewöhnlich schönen, wohlgebauten und von Lebenskraft strotzenden Knaben entwickelte. Ein strahlender Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie und Praxis. Nachdem der Junge ins gehfähige Alter gekommen war, nahm ihn der Vater wenn immer möglich zu seinen Stadgängen mit und genoß das Aufsehen und die Bewunderung, die er, selbst schon auffällig durch seine Gewandung, durch den blondgelockten Sonnenknaben in noch gesteigertem Maße, vor allem von Frauen, auf sich ziehen konnte.

Er zog auch die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich, die solche Sonnenbäder eines Säuglings als verantwortungslose Gesundheitsgefährdung betrachteten. Zum ersten aber nicht zum letzten Male kam er mit der allgegenwärtigen staatlichen Aufsicht und  ihrer Menschengängelung in Konflikt. Wenn er sich auch dieser Einmischung letztlich erfolgreich erwehren konnte, dank seiner unbeirrbaren Hartnäckigkeit - die Fama seines entsetzlichen Attentats auf die geheiligte Wickeltradition, ihre licht- und luft- und leibscheue Verdunklungs- und Vermuffungsmanie, blieb an ihm haften und erhielt sich als anstoßerregende Anekdote in der Münchner Kollektivseele bis auf den heutigen Tag.

Die glückliche leibliche Entwicklung des jungen Helios fand freilich im Felde des Seelischen keine ebensolche Fortsetzung. Der Junge wurde zum Spielball oder vielmehr zum heiß und erbittert umstrittenen Zankapfel  in der Pflichtehe der Eltern. Hinundhergerissen zwischen Vater und Mutter, bald diesem, bald jener zugehörig, von der Mutter einerseits verwöhnt und verhätschelt, gegen den Vater eingenommen, dann wieder in Wutanfällen beschimpft und geschlagen, wurde dieses Kind Schlachtfeld und Opfer einer völlig zerrütteten Beziehung. Schon früh ist von Anfällen maßlosen Jähzorns des jungen Helios die Rede, der seine Mutter beschimpft und schlägt. Als der Junge ins Pubertätsalter kommt, lehnt er sich auch gegen den Vater auf, der sich immer weniger gegen diesen ungebärdigen Sohn zu helfen weiß. Während seiner Alpenwanderung 1895 entläßt er ihn schließlich, schickt ihn zusammen mit Paul nach Wien zurück, wo die beiden zusammen eine Wohnung beziehen, während Dfb sich für eineinhalb Jahre in Ägypten aufhält. Später, nachdem die Ungeratenheit dieses Sohnes sich aufs deutlichste erwiesen hat, wird Dfb behaupten, Helios sei in dieser Wiener Zeit durch Paul endgültig verdorben worden. In der Tat wurde der Sechzehnjährige damals zum Raucher, Kaffeehausgänger, Weintrinker und Modegecken, ein williger und letztlich unverbesserlicher Adept all jener Laster, die Dfb verabscheute und erbittert bekämpfte. Zugleich übernahm er die nietzscheanischen Ansichten Pauls und war außerdem im Widerspruch zu seinem Vater überzeugt, daß seine Mutter, an der er hing, von Dfb ins Grab gebracht worden sei.

Im Laufe des Jahres 1900, nun schon auf Capri, wurde das Zusammenleben von Vater und Sohn unerträglich. Dfb entließ Helios in juristischer Form aus seiner väterlichen Gewalt und verweigerte ihm jede weitere finanzielle Unterstützung. Der junge Mann, der schon seither sich wenig lernwillig und ebensowenig arbeitswillig gezeigt hatte, lernte auch weiterhin nichts, schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten wie Modellstehen durch, konnte auch, wegen mangelnder Ausbildung, anspruchsvollere Anstellungen nicht erlangen. Nun zur Einsicht der Realitäten gekommen, bat er seinen Vater flehentlich um Unterstützung für seine Weiterbildung. Der aber bestand hartnäckig auf vorgängiger Änderung seines Lebenswandels. Wiederholt ruft er ihn zu seiner eigenen Hilfe nach Capri, aber die Gegensätze bleiben unüberbrückbar. Immer wieder kommt es zum "Rasen" des Sohnes gegen den Vater, dem er gelegentlich auf offener Straße ins Gesicht spuckt, und ebenso regelmäßig erfolgen die immer selben Vorwürfe und Ermahnungen des Vaters, der sich zuletzt nicht mehr auf die Straße wagt oder aber Umwege macht, um seinem Sohn nicht begegnen zu müssen. Im Hause verkehren die beiden bald nur noch schriftlich miteinander oder über die Vermittlung durch Dritte, obwohl Helios mit der Verwaltung der Geschäfte und Ausstellungen seines Vaters betraut ist. Dabei erfüllt Vater wie Sohn die gleiche heiße Sehnsucht nach Versöhnung und harmonischer Gemeinschaft, die sich namentlich in den Briefen des Sohnes rührend und erschütternd ausspricht. Wiederholt flieht Dfb von Capri, weil er ein Zusammentreffen mit dem verlorenen Sohn nicht mehr erträgt. Die Lebensführung des Sohnes betrachtet er als Skandal und Schande für seinen Namen, denn selbst in der sonst duldsamen Bevölkerung von Capri gilt Helios als zügelloser Desperado. Wiederholt droht er seinem Vater mit Selbstmord und dieser sieht ihn ernsthaft vom Untergng bedroht, kämpft länger als ein Jahrzehnt verzweifelt um die "Rettung" seines Sohnes. Freilich muß sich diese "Rettung" auf seine Weise vollziehen; die Rettungsversuche von anteilnehmenden Frauen, die den Gefährdeten zeitweise aufnehmen und ihm mit mehr Verständnis und Duldung seiner Schwächen entgegenkommen, läßt er nicht gelten.

Im Jahre 1913, Diefenbachs Todesjahr, sind die Dinge dahin gekommen, daß auch die vermittelnden Frauen in ihrer Geduld und Kraft erschöpft sind. Helios soll nach Ägypten oder in ein Sanatorium abgeschoben werden. Beide zusammen können auf Capri nicht bleiben. Diefenbach, mittellos, hoch verschuldet und krank, kann nicht, Helios will nicht gehen - jedenfalls stellt er seine Bedingungen. Der mündliche wie der schriftliche Verkehr zwischen den beiden hat aufgehört. Die seitherigen Vermittler verweigern weitere Hilfe. In einem Kampf auf Leben und Tod haben Vater und Sohn sich gegenseitig mattgesetzt.

Da stirbt Diefenbach, erst 62jährig, einen plötzlichen, qualvollen Tod. "Ich kann nicht mehr", hatte er geschrieben. Die Hoffnungssonnne, die er in Helios hatte aufgehen sehen, hatte aufgehen sehen wollen, war erloschen; der Lichtbringer war zum Todesengel geworden.

 

I. Geburt und Kleinkindzeit (1880-1884)

Unerwünschte Schwangerschaft - kranke Eltern - schwaches Kind - Sonnenkur und Sondernahrung - Unterbringung bei Baltzer scheitert - Anlaß für die Eheschließung - Glückliche Zeiten im Steinbruch.

Ende Juli 1880   Clemens Driessen in seiner Geschichte der Ehe Diefenbachs:

Die [Maximiliane] Schlotthauer überschüttete von Paris aus Dfb mit Briefen, die in ihrem Jammerton und stets voll überschwenglicher Selbstanklagen, denselben in stetige Aufregung brachten. Die Atzinger verriet solches Beginnen, ebenso wie seitens Dfbs in besonnenster Weise geschah, der "Schwester" [Maximiliane Schlotthauer], indem sie anführte, daß sie in Korrespondenz mit Friedrich Diefenbach erst ganz einsehen gelernt habe, wie die verwickelten Familienstreitigkeiten Dfbs seinen Aufschwung hindern.

Erst Ende Juli gelangte Dfb. nach Vollendung notwendigster Arbeiten dazu, einen Landaufenthalt in Aschau zu nehmen. Dieser Reise waren häufige Konflikte mit der M.Atzinger vorhergegangen und Dfb hatte eines Tages das Mädchen, welches ihm fortgesetzt stürmische Scenen bereitete, aus seiner Wohnung gewiesen und sich entschlossen, jegliche Beziehung mit ihr abzubrechen. Er hatte ihr häufig vorgestellt, daß sie nicht fähig sei, seinen ihr im vollen Umfang bekannten Anschauungen in einem von Engherzigkeit freien Tun - nicht bloß mit Worten und Schwärmerei - zu folgen.

Da erhielt er von ihr die schriftliche Mitteilung, daß sie sich schwanger fühle! Er nahm die dem von einem Dienstmann überbrachten Briefe auf dem Flecke Folgende wieder auf und das Mädchen begleitete ihn auch nach Aschau. Vorher schrieb sie an die Schlotthauer, für welche Dfb fortgesetzt eine milde Beurteilung an den Tag legte: "Daß unter solchen Umständen zwischen mir und Karl von Glück keine Rede sein kann, ist selbstverständlich und ist es wohl das Beste, daß Karl und ich uns trennen. Was das heißt, kannst Du, die in das Tiefe, Rätselhafte seines Innern nicht gedrungen, die Du für seinen Besitz nicht Ruf, Beruf, Annehmlichkeiten zu opfern brauchtest, die Du die Gefahren, die ihm seine edlen, die Welt umfassenden Grundsätze noch bereiten werden, nicht erkennst, nicht ermessen und bleibe ich denn auch in diesem Falle allein mit meinem unvergleichlichen Schmerz, der in mir rast. Daß Du ruhig geworden und in Arbeit Zerstreuung suchst, erfüllt mich mit Trost für Dich."

Dfb hielt es jedoch für geboten, das Mädchen [die Atzinger] in seiner gegenwärtigen Lage zu stützen. Er ließ dasselbe, als er auf einige Zeit zur Herstellung eines Gemäldes in die Villa Stoltenberg (?) in ... übersiedelte, in Aschau und schrieb an sie am 23. Sept.: "Die Folgen Deines seitherigen Wesens gegen mich sollten Dich belehrt haben, daß ein ferneres Zusammenleben unmöglich ist, wenn Du nicht dazu gelangst ... (S.8f.)

Im November schrieb das Mädchen [M A.] an Dfb wie folgt: "... Dein Bestreben, die Dir Nahestehenden in würdigem idealen Verein glücklich zu sehen, hat Dir viele Jahre verbittert, denn ein solches Bestreben ist - weil ausserordentlich - von den wenigsten Menschen verstanden, von den meisten gegenteilig beurteilt, und müssen daher solch göttlichen Verein Bildende aus innigem Verständnis sich finden oder durch Folgsamkeit sich zu hohen idealen Menschen heranbilden lassen. Ersteres war bei mir nur zum Teil der Fall und Letzteres artete in das Gegenteil aus bei mißfälligen Wahrnehmungen an M[aximiliane Schlotthauer] ... " (S.9)

M.Atzinger ... an die fortgesetzt in jammernden Selbstanklagen von Paris her sich ergießende Schlotthauer: "Nur einmal, ganz kurze Zeit ein Strahl namenlosen Glückes. Nicht sein Mund, [nicht] seine Worte kündeten es mir. Sein Wesen, ein innerer Zusammenhang machten mich es fühlen. Das aber ist durch meine und Deine Schuld vorbei! Trübe und kalt ist meine Gegenwart, sie bereitet mich auf eine düsterere öde Zukunft vor. Möge meinem für immer zu Grabe getragenen Glücke mein Sein bald folgen. Es wäre eine Wonne, ein hohes Glück, die Leiden eines Verkannten, eines Unglücklichen zu teilen, doch dazu gehört tiefe Innerlichkeit, die ich schmerzlich vermissen muß." (S.10)                                                                                  Clemens Driessen: Ehebericht (=CD)


3. 12. 1880  Kurt Helios geboren. 

Die Niederkunft der M.Atzinger fand in einer bei der Witwe Völlz (oder Döllz?F) gemieteten Wohnung statt. Der älteste Sohn Dfbs - Helios - wurde daselbst am 3.Dezember 1880 geboren.

(CD 10)

Aus Kindheitserinnerungen von Stella von Spaun:

Der Aufenthalt auf jenem Obstgut [bei Bozen, 1878] brachte die große Wandlung in meines Vaters Wesen und Leben ... So hatte er die gute Wirkung, die eine mehrerere Wochen lange Traubenkur auf die lang anhaltende Eiterung seines rechten Armes ausübte, zum Anlass genommen zu erproben, ob nicht überhaupt die Ernährung durch reine Fruchtkost der Fleischkost vorzuziehen war.

Er wurde darin bestärkt, als sein erstes Kind - kaum lebensfähig geboren - von 2 kranken Eltern stammend, durch seine ganz persönlich durchgeführte Ernährung mit Haferschleim und Fruchtsäften zu überraschenden Erfolgen führte. Natürlich die Ernährung im engsten Zusammenhang mit Luft, Licht und Wasser.

Diefenbach am 18. 7. 1888 an Arnold Rikli:

Im Herbste 1880 lernte ich zum ersten Male einen Naturarzt kennen, Dr. Hacker. In seiner Heilanstalt (Neuhausen bei München) nahm ich Dampfbäder ... Im Dezember 1880 wurde Helios geboren. Meine Überzeugung, dass ein Kind von so kranken Eltern (das schwindsüchtige Weib hustete beständig Schleim und Blut aus, hatte schmächtigen, aber sehr zähen Körper) nach einer solchen von den fürchterlichsten und scheusslichsten Empfindungen beeinträchtigten Schwanger-schaft, nur zu einem qualvollen Siechtum ins Leben treten könne, wurde bestärkt durch das Urteil Dr.Hackers, ... das, wenn es überhaupt lebend geboren, es in kürzester Zeit sterben würde. Unter grässlicheren Umständen ist wohl noch kein Mann Vater geworden, als ich. Unter Anleitung Dr.Hackers besorgte ich selbst die Pflege des armen Wurmes ... Es gelang mir,was kein Mensch geglaubt hätte, ich rettete das Kind!  (11) ...

dass jene Anzeige bei der Polizei über "das nackt in einem Marktnetz vor das Fenster hängen des Kindes und meine sonstige brutale Behandlung des Kindes" dem Urteil entsprang, dass ich mich durch den Tod des "ausserehelich" geborenen Kindes dessen Mutter mich entledigen wollte. (12)   

Stella Diefenbach:

Meine Eltern waren mittellos und damals auf den Verdienst meiner Mutter als Klavier- und Sprachlehrerin angewiesen, da der Arm meines Vaters - zwar auf dem Wege der Besserung - noch lange nicht die Kraft zu ständiger künstlerischer Betätigung hatte. Dadurch war mein Vater gezwungen, den weiblichenTeil der Arbeit zu verrichten, und das war vor allem die Pflege seines Kindes. Das ist ihm zum wertvollen Studium geworden, da es ihn dahin brachte, mit allen herkömmlichen Gewohnheiten auf diesem Gebiet zu brechen. Zum Entsetzen seiner Schwieger-mutter, die eine berühmte Hebamme jener Zeit war und nur in aristokratischen Kreisen ihres Amtes waltete.(13)

Also hatte die gute Frau alles Recht sich einzubilden, daß ihre Art, kleinen Erdenbürgern ins Leben zu helfen und sie zu pflegen, die einzig richtige war, und nun mußte sie erleben, daß ihr erster Enkel, das Kind ihrer ältesten Tochter, das als schwaches, mit Ausschlag behaftetes Wesen zur Welt kam, nicht auf ihre Weise, nach langjährigen Erfahrungen behandelt wurde, statt dessen spielte sich vor ihren Augen eine ganz seltsame Pflege ab, die das ohnehin schwächliche Kind von einer Lebensgefahr in die andere stürzen mußte. Mein Vater behauptete sein gesetzliches Vaterrecht und wies der standesbwußten Hebamme, die seine Schwiegermutter war, die Türe.

So fingen die Konflikte mit der "Welt", die in seinem späteren Leben eine so große Rolle spielen sollten, schon im engsten Familienkreise an. Sie kosteten wohl Zeit und Kraft, aber welche Fülle von Anregung, von Mut zur Selbstbehauptung weckten sie! Meine arme Mutter war diesem Kampfe nicht gewachsen, sie zog sich von ihm zurück.

Da sich aber das äußerst lebensschwach geborene Kind sehr bald kräftig entwickelte, beruhigten sich die Gemüter der amtlichen Kontrolleure.                                                         (Stella: Kindheit, S.15)

 

6. März   Atzinger an Dfb: "Mein Erlöser! ...an der Wiege unseres sehr krank gewesenen Kindes ... Ballast der Schuld ... " ... Es ist notwendig hier daran zu erinnern, daß bis zu dieser Zeit Dfb weder gegen die übliche Ernährungsweise noch auch gegen die gewöhnliche Kleiderordnung irgend etwas Grundsätzliches einwendete. ... seine negative Richtung ging bis dahin wesentlich gegen den äusserlichen Dogmen-Glauben der Kirchen und die landläufigen Moralitäts-Begriffe und Handlungen der Gläubigen. Auch hatte er sich im Nachdenkren über das Wesen der Ehe soweit geklärt, daß er dasselbe vorwiegend als soziales Institut und als dessen oberste Vorbedingung Einhelligkeit des Strebens und der Anschauungen auffasste.                                                                           (CD 10f.)

22. 5. 81 Dfb an Eduard Baltzer: Ich habe ein 6 Monate altes Kind in Pflege zu bringen. Seine unglückliche Mutter, die ... den Ruin meiner Kraft vollendete, würde mir das Kind nicht überlassen, wenn ich nicht ein Unterkommen für dasselbe finde ... meinen herzigen, über alles Erwarten gesundheitstrotzenden Buben  ... Ich pflege in meinem Knaben nichts als ein Kind, ich strebe, ihn zu einem Manne zu entwickeln, der meine Ideen für die Menschheit zur Tat machen soll"           (CD14)

Sommer 1881 Diefenbach hängt Helios vors Fenster:

Als Sie mir nach dem Bekanntwerden meines ersten "groben Unfugs" (Sommer 1881, Licht- und Luftbad meines damals 6 Monate alten Knaben Helios in freischwebender Hängematte vor dem Fenster meines im 4. Stocke befindlichen Schlafzimmers) schrieben ...    (Dfb an Rikli am 18.7.1888)

3. 6. 81  Der freireligiöse Theologe Eduard Baltzer, Propagandist und Philosoph der Lebensreform, soll Helios aufnehmen. Er lehnt ab.

Juli 1881 Im Juli 1881 bezog damals die Atzinger eine besondere Wohnung in dem Hause eines Bekannten Diefenbachs: Keim.  Dfb hatte ihr am 3.Juli geschrieben: "Wir dürfen uns vorläufig nicht wiedersehen. Wir würden uns gegenseitig zu Grunde richten.  ... Nimm Kurt [Helios] und pflege ihn in meinem Sinne."                                                                                                                (CD 14)

? Ich sehe das satanische Weib vor mir stehen, als ob ich es gestern erlitten, den kleinen, kaum dreijährigen Helios mit Fäusten schlagend und an den Haaren zerrend und mir, der ich wehrlos und hilflos dalag und der schier unglaublichen Bosheit dieser Rabenmutter machtlos zusehen mußte, mit Teufelsgrinsen zufletschen: "Das gilt DIR!"  (Dfb an Emmy Meyer am 26.2.1909, Tgb Nr.27)

 

II. Der Kampf um Helios (1885-1890)

Antrag auf Ehescheidung - Atzinger raubt Helios (1885) - Schläge und Wut (1886) - Atzinger nach Grünwald (1886) - Gräßliche Szenen zwischen Helios und seiner Mutter (1887)

1. Jan. 1885    Zusammen mit Otto Driessen und Helios, einem Italiener "Antonio" und 2 kleinen Kindern - getrennt von seiner Frau.

6. Febr. 1885  Stelle ich auf dem Amtsgericht II den Antrag auf Ehescheidung. Hatte Helios im Wagen mitgenommen - großes Aufsehen! Alle Geschäftsleute verweigern mir Kredit. Nicht länger ist diese Not zu ertragen.                                                                                                        (Tgb IV)

Dfb an Emmy Meier am 27.2.1909: Nicht bloß Helios sondern auch Stella hat als kleines Kind wie oft laut ausgesprochen: "die Mutter lügt". Ich übertreibe nicht, indem ich zur drastisch-kurzen Bezeichnung des Wesens  dieses Weibes sage, daß jedes zweite Wort von ihr, wenn nicht schon von vornherein eine bewußte Lüge, so eine solche unbewußte subjektive Entstellung im oben angedeuteten Sinne war, daß um diese aufrecht zu erhalten 10 weitere Lügen und Verdrehungen erfunden werden mußten, worin sie eine alle meine damaligen naiven Begriffe von den Menschen übersteigende phänomenale Fähigkeit besaß.

Der damals noch unverdorbene Sinn der Kinder empfand das sofort und sprach es als selbstverständlich in kindlicher Entrüstung aus, wofür die Armen von dem über alle Begriffe jähzornig-boshaften, vernunft- und herzlosen Weib auf das gräßlichste geschlagen  und an den Haaren und den Ohren gezerrt wurden. Mir ist nie vorher oder nachher eine solche scheusäliche Natur vorgekommen, als ich mit Grausen und Entsetzen jeden Tag mehr an jenem unter Lug und Hinterlist zu mir gekommenen Weibe kennen lernen mußte.                                                            (Tgb Nr.27)

 

7. 2. 85              Ankunft von Maja (von Italien her kommend) nach schier unglaublichen Hindernissen schickte Lucidus [=Driessen] sein Studiengeld (150 M.) an sie mit Telegrammm "Höchste Gefahr".

Am 7.Februar Rückkehr [von Maja nach Thalkirchen] - Driessen mit Helios an der Hand holen mich am Bahnhof ab. - endlich angekommen in d. Wohnung lag ich mit einem Freudenschrei an seiner Brust. Mein jahrelanges Sehnen ward endlich gestillt und ein neues, überglückliches Leben begann für mich.                                             (Tgb IV, hier von Maja am 18.März rückblickend geschrieben)

 

11. Febr. 85    2. Gerichtsverhandlung wegen "groben Unfugs". Maja ist überglücklich - ich beginne aufzuatmen.                                                                                                                       (Tgb IV)

12. Febr. 85    D. hatte, als die Schlotthauer zu ihm kam, seinen Sohn Helios bei sich und den Ehescheidungsprozeß eingeleitet. Am 12. Februar 1885 stand Sühne-Termin vor dem Amtsgericht an.  - Es ist nun zu beachten, daß im Hintergrunde des Ehescheidungsprozesses die Entscheidung steht, welchem der Ehegatten das Recht der Kinder-Erziehung zugesprochen wird.                 (CD 25)

Helios im Wanderkleid      1885

(Am 12.Febr.) wurde C.(arl) aufs Landgericht gerufen - wegen Ehescheidung, um 10 Uhr. Seine Frau benutzte die Gelegenheit, um Helios zu rauben, was ihr mit höchster List gelang. Driessen sprang, ihr das Kind zu entreißen, wurde aber von wild gewordenen Weibern mit Beißen und Kratzen abgewehrt und kam marmorbleich zurück, lag einige Zeit besinnungslos.

C. kommt 10 h heim - große Aufregung - Anzeige bei Gendarmerie (Protokoll). Antonio (Italiener) muß das Haus sofort verlassen. Am 15.Febr. holt er seine Sachen und O.Dr.[Otto Driessen] die Sachen aus der Wohnung von Frau Dfb.                                                                              (Tgb IV)

Rückkehr von Helios?


3. 4. 1886 Dfb an Lucidus [Otto Driessen], Berlin: ... Zitternd, schweisstriefend flüchtete ich aus meiner Einsiedelei. Der Satan fletschte mir wieder die Zähne entgegen. Es gilt: Hel zu retten. ... Gräßliche Wut erfaßt ihn, er tobt und schlägt seine Mutter, wie ich dem stumpfsinnigen Weibe es vorausgesagt, aber in solchem Grade ich nicht geglaubt hätte. Ihre Roheit und Bosheit reizt den Knaben zur Wut. Ich fürchte, er tötet sie einmal.

Ich floh - das wirkte. Blieb 4 Tage ohne Nachricht fort und kam vorgestern mit einem (fürchte nichts) erwachsenen Manne als Hilfe und Stütze zurück. ... Meine "Musikanten" werden die Welt durchtönen und freie Bahn und Achtung schaffen für meine weiteren Werke. - Hel und Stella spielen und arbeiten schon lange nackt im Freien. Turn- und Arbeitsgeräte habe ich gekauft und heute wird durch Schmidt (mein Gehilfe) und einen Taglöhner ein Turnplatz im Freien geschaffen. Durch photographische Momentaufnahmen bekomme ich gutes Studienmaterial. ... Homo.  

 (Tgb Otto Driessen, Anhang)

30. 4. 86  Frau früh zu mir "Liebe, Zärtlichkeit, Achtung, Besserung!" - Kinder nackt im Freien. (Tgb IV)

15. 7. 86  Plan, Frau Dfb mit Kindern wo anders unterzubringen, um die ständigen Störungen zu beenden. (Tgb IV)

18.7. 86  Frau Dfb hat Wohnung in Grünwald gefunden. (Tgb IV)

17. 2. 87  Frau zur Stadt. Hochgünstige Rezensionen in den Zeitungen. Das Bild in der Residenz zur Vorlage an den Prinz Luitpold! Helios oft Wutanfälle gegen seine Mutter.                            (Tgb. IV)

22. 2. 87  Gräßliche Szene zwischen Helios und dem Weibe - ich zittere am ganzen Leibe - schlaflose Nacht.                                                                                                                     (Tgb IV)

20. 4. 87  Schulpflicht des Knaben Diefenbach ( Helios).

14. 6. 87  Fidus kommt nach Höllriegelskreuth

Es waren schöne, glückliche Tage inmitten solch tobenden Lebenssturmes, welche die drei Einsiedler in dem weltentlegenen Steinbruche auf der sonnigen Terrasse des einsamen Hauses verlebten. Der Knabe (Helios) ... voll Begeisterung für die "Kindermusik", die er, "wenn wir erst die vielen armen Kinder hätten" ... in Wirklichkeit ausführen wollte. 

(Friedrich von Spaun: Diefenbach-Ausstellung, S.15)

1885-8? Unter Schauern brachte mir das eben Erduldete alle jene entsetzlichen Szenen ins Gedächtnis zurück, in welchen "Doktoren", Mediziner und Juristen, die genau so wie Dr.Meier und Fräulein Abels mich "achteten" und der Mutter Helios' auf deren teils verständnislosen, teils teuflisch raffiniert verleumderischen Darstellungen meines "tyrannischen Wahnsinns" den dringenden Rat und die Mittel zu dessen Ausführung gaben: "den Wahnsinnigen zu peitschen" und, als dies nichts half und das vergiftete Brot, welches ich schon im Munde hatte, wieder ausgespien war, ehe es seine tötende Wirkung tun konnte, mir auch den damals 8jährigen Helios, der mit Liebe und Begeisterung an mir hing, mit "List und Gewalt" zu entreißen.

(Tgb Nr.27. Dfb am 31.1.1909 an Frau Emmy Meier-Gudolf in Capri)

Stella Diefenbach:

Mein Vater, aufgerieben vom Kampf im engsten Kreis wie der Öffentlichkeit gegenüber - flüchtete in die Naturheilanstalt Kuhne in Leipzig und beantragte die Ehescheidung. Seinen 8jährigen Sohn Helios wollte er bei sich behalten, wozu er auch gesetzlich berechtigt gewesen wäre, wenn er nicht der berüchtigte Erneuerer und Fanatiker gewesen wäre, dem man nach der Meinung normaler Menschen und des damaligen Kultusministers Müller, an den sich mein Vater um Hilfe wandte, "keine Kinder anvertrauen dürfe"!

Daß ihn, den großen Kinderfreund, in dessen Familie Kinderpflege in höchstem Sinne Tradition war, diese Verkennung mit Erbitterung erfüllen mußte, ist nur zu begreiflich, und sein Ältester, um dessentwillen er sich dem Joch der Ehe überhaupt gefügt hatte, war eine strahlende Verkörperung seiner von frühester Jugend an erträumten und in höchster künstlerischer Vollendung dargestellten Jugend. Und diesen Sohn, dessen Erscheinung wie aus einem Heiligenbild entnommen wirkte, der sich in verständnisvoller Liebe dem Vater anschloß, in dem es aber auch ein ganz gefährliches Erbteil (offenbar von mütterlicher Seite), den krankhaften Jähzorn, zu beherrschen galt, diesen Sohn sollte er der kleinen Gozvernante überlassen, die ihn in moderne Kleidung stecken und in moderne Schulen schicken würde? Sollte er sein Lebensideal nur im Kunstwerk und nicht auch im Leben verkörpern? Dagegen bäumte ich meines Vaters Wahrheits- und Lebensdrang auf und er beschloß, den Kampf um seinen erstgeborenen Sohn bis zum Äußersten zu führen.

Clemens Driessen war durch seinen Bruder Otto mit meinem Vater bekannt geworden und war gewillt, meinem Vater zu helfen. Er machte den Vorschlag, meine Mutter mit den 2 kleinen Kindern bis zur erfolgten Ehescheidung zu sich nach Lichtenau zu nehmen. Dadurch sollte mein Vater zusammen mit seinem damaligen Schüler Hugo Höppener (Fidus) die Ruhe gewinnen, im Steinbruchhaus das begonnene Werk "Kindermusik" zu vollenden.

So übersiedelte meine Mutter mit uns 2 Kleinen nach Lichtenau, und damit war der Vorhang zu unserem Kinderparadies gefallen, das mein Vater uns geschaffen hatte, und damit auch vor dem Paradies, das meinem Vater für unser ganzes Leben vorschwebte. Und weil ich dieses Kinderparadies am eigenen Leib erlebte, und noch heute mir aus der Erinnerung daran Kraft und Zuversicht hole, trage ich die unumstößliche Gewißheit in mir, daß es möglich ist, das Paradies auf dieser Erde zu erleben. (17)                                                                              (Erinnerungen von Stella Dfb, S.16f.)

 

Febr.1888  Clemens Drießen für einige Wochen nach Höllriegelsgereute (CD 30). Veranlaßt Aufenthalt von Dfb mit Fidus und Helios in der Kurbadeanstalt Kuhne in Leipzig.

4. 2. - 12. 3. 88  In der Kurbadeanstalt für arzneilose Heilweise Louis Kuhne, Leipzig.

17. 3.   Dfb fährt mit Hugo Höppener und Benno Buerdorff nach der Kur von Leipzig nach München. Helios bleibt bei Frau Weber in Leipzig. Benno bleibt in "Humanitas"., um Hugo für seine Arbeit am Fries zu entlasten. (Nach 3 Monaten Hinauswurf - mit Frau Albeit).                           (KB Nr. 4, S.39)

6. 4. 88              Frau D. zieht mit 2 kl. Kindern nach Lichtenau zu Clemens Drießen. (CD 31)

Frau D. kommt mit den 2 kleinen Kindern in Lichtenau an. Taucht am 9.September wieder im Steinbruch auf! Helios bleibt bei seinem Vater im Steinbruch.                              (KB Nr.28, CD 223)

10. 6. 88 Drießen hatte noch am 10.Juni seinem Münchner Freunde Dr.jur. Hübbe-Schleiden aufgetragen, sich den Helios anzusehen ...                                                                            (CD32)

2. 8. 88  Bericht der MÜNCHNER POST: Drei Personen in Höllriegelskreuth:  Dfb, Fidus und Helios. Anklage wegen Baby-Sonnenbad. Prozeß vor dem Wolfratshausener Schöffengericht: Verurteilung wegen groben Unfugs.                                                                              (Frecot 71ff.)

Fidus barfuß im Gericht. Berufung. "Laß sie gehen, 's sind Diefenbacher - von diesem klassischen Rat will die Obrigkeit, die Gewalt über die Völker in und um Höllriegelsgereute hat, absolut nichts wissen."

So wurde Diefenbach zur Zahlung von 25 Mark Strafe und 32 Mark 85 Pfennige Gerichtskostenersatz - und sein ehemaliger Schüler Höppener ... zu 79 Mark Strafe und Kosten verurtheilt, weil Beide und auch Diefenbach's ältester Sohn Helios auf der Terrasse ihrer Einsiedelei - Sonnenbäder genommen hatten und dabei malten. ... und ausserdem noch zu je 20 Mark Geldstrafe verurtheilt worden, weil Beide gemäss ihrer Normalkleidung - barfuss vor Gericht erschienen sind.

                                                                                   (Wiener Tagblatt vom 22.1.1892, siehe B 90f.)

29. 8. 88  Clemens Driessen meldet Verschwinden seiner Frau aus Lichtenau (mit den 2 kl. Kindern Stella und Lucidus), derweil er wegen militär. Wehrübung abwesend war. (CD 233)

 

29. 8. 88  Rückkehr seiner Frau aus Lichtenau, 3 Wochen bleibt sie, dann nach  München.

Fidus: Helios kommt halb 7 mich zu wecken. Brei gekocht, weil kein Brod mehr und nur noch wenig Mehl da ist. Ich hole Tagebuch nach, wir hören Leute den Gang entlang kommen, ich hinausgeschaut - ich starre sprachlos in das freundlichlächelnde Antlitz der "Frau Diefenbach", welche die beiden Kinder [Stella und Lucidus] ins Zimmer schiebt. Der Meister zittert vor Entsetzen am ganzen Leibe und ich helfe ihm ins Bett. - Ich laufe hinauf und hinunter, um die gegenseitigen Erklärungen zu überbringen. Sie soll sofort das Haus verlassen, sonst werde an die Behörde um Schutz telegrafiert.

                                                                                                           (Tagebuch Höppener; CD 37)

Frau Diefenbach verblieb bis Mitte September in Höllriegelsgereute im Hause Diefenbachs. Dann führte sie einen für ihren Charakter bezeichnenden Plan aus.                                                  (CD 37)

16. 9. 88  Frau Diefenbach bringt Helios zurück und sagt, daß sie mit den 2 kl. Kindern nach Landeck [in Schlesien] zu Verwandten fährt. Stattdem nistet sie sich im Paukhäusl ein und lockt Helios tagsüber zu sich.                                                                                                     (Fridolin 6)

17. 9. 88      Helios verschwindet. (CD 38)

30. 9. 88  Fidus schreibt an Arnold Rikli (Wilhelm 173). Er findet eine Spur von Frau D. (CD 40)

Am 30. September fand Höppener eine Spur; es heißt darüber im Tagebuche: "Station Hesselohe 8 1/4. Regen, Sturm, Finsternis - schwere Bürde. In Pullach bei Köck übernachtet. Man fragt mich, ob Frau Diefenbach bei uns. Magd will mit der Sprache heraus, Tochter fällt ein: 'Hier ist sie auch nicht'. - Bei der Krämerin Petroleum mitgenommen. Diese hat Frau Diefenbach vorgestern und sonst vom Kalkofen bei Pullach heraufkommen gesehen."                                                                        (CD 40)

Oktober 88 meister in grosem schmerze. - körperpflege unterbleibt ganz. kraftnarung allein macht es nicht; arbeit get kaum forwärts. meister wil J.Feldner zur mithilfe rufen.

(Tgb Fidus, S.51)

8. 10. 88   Fidus findet Frau D. im Paukhäuschen.

Am 8.Oktober gelangte endlich Höppener, bis dahin durch ein Übermaß von drängenden Korrespon-denzen, Hausarbeiten, Stadtgängen, von Krankenpflege etc. behindert, dazu, im Paukhäuschen - eine Viertelstunde von Diefenbachs Hause - die Anwesenheit der Frau zu konstatieren.                  (CD 41)

9. 10. 88  Entdeckt Fidus den Schwindel. Dfb für mehrere Monate ins Krankenhaus. (Fridolin 6)

12. 10.             88  Diefenbach will sein Testament machen. "Dr.med.Schrenck hat D. untersucht und ist auch zu dem Resultat gekommen, daß Sie sich vergeblich bemühen. Es ist zu spät."                        (CD 41)

17. 10. 88  Hugo Höppener schreibt: am 16 oktober nachmittags 2 ur zum dritten male das "paukhäusl" fon frau Diefenbach und den kindern ferlassen gefunden, folgende mit bleistift geschribene zeilen in das zerbrochene fenster gelegt:

                                                           16. oktober mittags 2 ur

der meister  m u s  in di anstalt, aber er kan nicht allein sein! ich mus zu hause bleiben um geld zu erwerben, den wr haben nichts mer. - stimmen Si Helios um (natur-heilanstalt!) ... abends um 8 paukhäusl noch menschenler, zettel ligt nach am plazze.                                                            (LZ II)

20. 10. 88  Neuerlicher Nervenzusammenbruch von Dfb - Fidus bringt ihn in das Krankenhaus. Dort bleibt er vom 20.Okt. bis 21.Dezember 1888.                                                                               (LZ)

16.11. 88  Urteil des Landgerichts Müchen II: Wegen "öffentlichen Unfugs" zu 6 Wochen Gefängnis verurteilt, Fidus zu drei Wochen Haft. "Höchstens zwei Schüler". Frau D. kommt erst im Spätherbst ins Haus bis zum Frühjahr 88. Quelle im Steinbruch. Zeichnen an der KINDERMUSIK. Festzug sollte werbend vorgetanzt werden. (Frecot 73)

Dfb: Im folgenden Jahre wurde ich zu sechs Wochen Gefängniss verurtheilt, weil auf meine Anordnung mein damals achtjähriger Helios zusammen mit einem 18jährigen Schüler von mir vor dem Hause gymnastische Uebungen ... Diese Urtheile enthielten die Ausdrücke "Schweineleben", "grobe Sinnlichkeit", "unsittliche Excesse" u.s.w.                                                             (Beitrag I, 7)

 … mein ... unter dem ursprünglichen Titel "Kindermusik" schon mehrfach erwähntes Werk "Per aspera ad astra". Das Werk entstand in jener Zeit (1888), da mir meine Kinder jahrelang entrissen waren, meine Klage gegen diese gesetzwidrige Entreissung  von der Münchener Staatsanwaltschaft und Oberstaatsanwaltschaft abgewiesen worden war und der ehemalige Polizeipräsident Münchens mir zugeschrien hatte: "Sie werden Ihre Kinder nie mehr wiedersehen, einem solchen Menschen gehören keine Kinder!" Der Schmerz über die Entreissung meiner Kinder und über die Niedrigkeit, welcher dieselben ausgeliefert wurden, brachten mich in Verbindung mit dem von anderen verblendeten Staatsbeamten mit Missbrauch ihres Amtes seit Jahren betriebenen Trachten: "meinem Treiben ein Ende zu machen!" an die Grenze der Verzweiflung und warf mich, ... auf das Leidenslager nieder, das ich anderthalb Jahre nicht verlassen sollte. In dieser Zeit ... entstand durch die Hand meines damaligen Schülers "Fidus" dieses Werk ... Inzwischen führte mir "Gott" meine Kinder (durch den Tod ihrer Mutter, welche als Werkzeug zu meiner Vernichtung gebraucht worden war) wieder zu." (B I, 108)... "Ich erklärte ihm [Terke], dass ich das Schattenbild, die Silhouette, zu diesem Werke vor allen Dingen in dem Gedanken gewählt habe, dass wir, durch raffinirte Aftercultur und Uncultur  geistig, seelisch und leiblich verkrüppelte Menschen der Jetztzeit, den in weiter Ferne in paradiesischer Lebenslust und Lebenskraft und höchstem Lebensglück vorüberziehenden Zug göttlicher Naturmenschen einstweilen nur im Schattenbilde zu ahnen vermögen.                  (B I, 109)

Im Jahre 1888, als D. in Armuth und Krankheit an's Bett gefesselt lag ... entwarf er den Fries mit Hilfe seines damaligen Schülers "Fidus" (Hugo Höppener) - wie er selbst sagt, als eine Art von Antwort auf die Worte des Münchener Polizeipräsidenten: "einem solchen Menschen gehören keine Kinder". Kein Hauch von Bitterkeit in dieser "Antwort"; nur sonnigste Heiterkeit weht durch das Werk, das s o entstand! Wie ein jubelndes Bekennerwort strahlt es aus all seinen Gruppen auf uns her: es muss d o c h Frühling werden.                                                    (Ferdinand Avenarius  in B I, 111)

 

14. 12. 88  Dfb mit zitternder Hand an seine Frau: Der Raub Helios' zerreißt mir das Herz! Das heißt mich morden! Fürchten Sie "Gottes"-Gericht, welches Helios als Mann an Ihnen vollziehen wird! Db                                                                                                                               (LZ II)

1889  Justiz-Unrecht! K.W.Diefenbach von Hadamar. 1889. Zweite Auflage. Preis 50 Pfg. (B 303)

Ueberdies wurde ihnen bedeutet ... dass derlei von grober Sinnlichkeit zeugende Excesse unbedingt nicht geduldet werden dürfen. Ausserdem wurde noch verfügt, dass der zu jener Zeit neunjährige, daher noch strafunmündige Sohn Helios der väterlichen Gewalt und Botmässigkeit, sowie seiner Erziehung entzogen und in bessere Pflege und Erziehung zu geben sei.

(Wiener Tagblatt vom 22.1.1892)

Ich habe in der Einleitung zu meiner Broschüre "Justiz-Unrecht" gesagt: "Während ich verurtheilt wurde, lag ich im Münchener Krankenhause, und mein zwanzigjähriger Schüler besass nicht die Fähigkeit, das juristische Unrecht in der Verhandlung zu überwinden  ... in 3000 Exemplaren an die verschiedensten Zeitungen verschickt. Die Folge dieser Broschüre war weder die von mir provocirte "Amtsehrenbeleidigung", ... sondern meine plötzliche Vertreibung aus dem Steinbruchhause Höllriegelsgreut, mitten im Winter!                                                                                           (B 91)

 
Helios in Höllriegelskreuth; rechts mit Stella und – vermutlich – Maximiliane Schlotthauer oder Elisabeth Guttzeit

 

7. 3. 89  Verhandlung gegen D. wegen Verwahrlosung seines Sohnes Helios.

Am 7. März dieses Jahres (1889) waren Gerichtsassesor Drießen sowie Dr.jur. Hübbe-Schleiden in der gegen Diefenbach wegen Verwahrlosung seines Sohnes Helios geführten Hauptverhandlung als Zuschauer anwesend. Es ergab sich, daß Frau Diefenbach ... dies Verfahren durch eine Anzeige in Gang gebracht hatte.                                                                                                            (CD 42)

Kinderprozess. "Als ich ... in München ' wegen Verwahrlosung meiner Kinder' von der Staatsanwalt-schaft mit dem Antrage, dass mir das Erziehungsrecht über meine Kinder entzogen werden sollte und meine Kinder - natürlich auf meine Kosten - mir entrissen und anderweitig erzogen werden sollten - vor Gericht gestellt worden war ... unterbrach mich der Oberrichter in missachtendem, schnaubendem und höhnischem Tone: "Gehören die Läuse auch in Ihr System?                                     (B II, 386)

22. 10. 89 Württembergische Landeszeitung: Man erzählt sich in Münchner Kunstkreisen, dass der kleine Helios einstmal, als er mit seinem Vater eine Kunsthandlung besuchte ... Helios ist, wie seine Geschwister, von grausamer Hand vom Vater getrennt worden. So viel uns bekannt, wollte D's Gattin den Künstler in's Irrenhaus sperren lassen, aber die Behörde hat dem geprüften Manne das Zeugnis ausstellen müssen, dass sein Geist absolut nicht umnachtet sei.                                          (In B I, 20)

19. 10. 1889    Dfb an Commerzienrath Kustermann, München: Nachdem man mir meine eigenen Kinder in rechts- und gesetzwidriger Weise entrissen hat, nehme ich fremde Kinder als solche an. Ich habe jetzt deren sieben ...                                                                                                (KB 6; 211)

31. 7. 90  Maja von Dfb wieder nach Dorfen zurückgerufen. Er war mit dem Veloziped gestürzt  und lag hilflos zu Bett. Mitte September schon wieder - wegen Helios - Krach mit Dfb!

 (Tgb IV, S.260, 10.August 1891)

12. 9. 90  Durch das freche Benehmen von Helios sehr unerfreuliche Szenen mit Dfb. - das halte ich nicht aus! So nach 12-14jährigen Opfern! (Ende von Tgb IV, geschrieben von Maja) - Wieder Abgang von Maja. (Fridolin 6)

19.  9. 90  Tod von Frau Diefenbach (Magdalene Atzinger)

(Brief Dfbs vom 23.Sept.1890 an Schulinspektor in Dorfen)

Befreiung durch den Tod seiner Frau

Wo und wie sich das unselige Weib jetzt befand, wußte er nicht. Vor einem halben Jahre hatte er ihr  und den Kindern die Aufnahme in einer Privat-Heilanstalt auf dem Lande, deren Besitzer ihn zu seiner Erholung zu längerem, kostenfreiem Aufenthalt in seiner Anstalt eingeladen hatte, durch Vereinbarung späterer Zahlung verschafft. Vor ihrer Übersiedlung dorthin war es das letztemal, daß Diefenbach "seine Frau" in der von ihr auf seine Kosten gemieteten Stadtwohnung sprach - in einer Weise, daß die Frau .... ihm unter anderen Geständnissen die obenerwähnte Mitteilung machte, auf welche Weise man sie dahin gebracht habe, ihm vergiftetes Brot vorzulegen. ... Seitdem er - vor etwa einem Vierteljahre - gleichzeitig von dem Besitzer jener Heilanstalt als auch von "seiner Frau" Briefe erhalten hatte, in welchen sich beide gegenseitig anklagten ... hatte er ... keinerlei Nachrichten mehr über "seine Frau" erhalten. … In solcher ... Stimmung traf ihn eines Tages die telegraphische Nachricht, daß "seine Frau" die Nacht vorher im allgemeinen Krankenhause Münchens gestorben sei und er zur Anordnung der Beerdigung, Bezahlung der Krankenhauskosten sofort nach München kommen müßte, widrigenfalls die Leiche dem Seziersaal der Anatomie überwiesen würde.

Überwältigt von der so rasch nicht vermuteten plötzlichen Befreiung ... vermochte er nur noch ... die sofortige Übersendung seiner Kinder in sein Haus zu besorgen, dann brach er bewußtlos zusammen.

(Friedrich von Spaun: Diefenbach-Ausstellung 31f.)

 

III. Der bildhübsche Knabe wird gefährlich (1890-1895)

Das Vorzeigekind  - Auf Bildern von Dfb - Muß Kinder weggeben (1893) - Helios bei Fräulein von Vlahovsky; aus Posen zurückgeholt (1893) - Liebschaft mit Grete Ronnek - Alpenwanderung (1895) - Bübischer Anschlag in Dorfen – Er will (angeblich) seinen Vater ins Irrenhaus bringen - Konflikte mit der Bachmann - Nach Wien zurückgeschickt (1895)

22. 06. 1891 Berliner Tageblatt Nr. 309 v. 22.6.91: "Noch weit sympathischer werden wir indessen durch die drei Kinder Diefenbachs berührt, die als die glücklichsten Demonstrationsobjekte für seine naturgemässe Lebensweise gelten können. Der zehnjährige Helios ist ein bildhübscher Knabe mit rothen Pausbacken und kräftiger Muskulatur. Dann folgt die 8 1/2 jährige Stella und der 4 1/2 jährige Lucidus, aus deren hellblauen Augen ... Schon an die 40 Schüler und Schülerinnen sassen zu des Lehrers Füssen und suchten Erleuchtung bei dem Meister, aber Keiner hielt es lange aus. Nur ein junger Mediciner, der Kaufmannssohn Otto Driessen aus Berlin, starb aus Gram darüber, dass seine Eltern ihre Einwilligung zum ferneren Verbleiben beim Meister verweigerten. Augenblicklich beherbergt D. drei noch im jugendlichen Alter stehende Schüler in seiner Behausung, wo er sich anschickt, einen bisherigen Heustadel zu einem Ausstellungsraum für seine Gemälde umzubauen."

(B I, 29)

Diefenbach mit Helios

August 1891  Dfb an die Münchner Neuesten Nachrichten (in Staatsbibliothek München): Ich bitte Sie um Aufnahme folgendenen Inserates für jeden Tag der Monate August und September ... :

„Diefenbach-Ausstellung.

München-Frauenplatz.

Sämmtliche Studien und Gemälde K.W.Diefenbachs, besonders sein neuestes Werk

"Das wiedergefundene Paradies"

ein Cyklus von 24 Gemälden ...

Die Werkstätte Diefenbachs in Dorfen ... ist ebenfalls der allgemeinen Besichtigung geöffnet. Eintritt zu wohlthätigem Zwecke nach Belieben. Helios Diefenbach, Josef Alterdinger, Emil Hertel }Schüler

Guido Hertel“

1891    Diefenbach an Emmy Meyer, Capri:

Zunächst beweist diese Äußerung meines Sohnes die Begründung meiner Behauptung der von seiner Mutter und deren Verwandten auf ihn (Helios) in seinem Kindesalter ausgeübten schmutzigen Verleumdung und Herabwürdigung meines Charakters in sexueller Hinsicht und darauf ihm durch Suggestion auferlegten Lebenspflicht, seine Mutter gegen mich zu rächen und kein Weib an meiner Seite zu dulden. Die Roheitsakte, die er daraufhin als 11jähriger Knabe an meiner damaligen weiblichen Umgebung verübte, über welche der Bürgermeister des kleinen Dorfes, an dessen Ende ich ein Bauernhaus erworben und für mich umgebaut hatte, seine höchste Verwunderung und sein Entsetzen als über eine "Teufelsbessenheit" des Knaben aussprach, sodaß ich auch damals schon mich gezwungen sah, die Ursache dieserunkindlichen haarsträubenden Roheitsakte durch Schilderung der teuflischen Bosheit und jesuitischen Falschheit seiner Mutter zu erklären.

(am 4.2.1909 in Tgb. Nr.27)

1893    Lehnt Angebot einer Ausstellungsreise durch Amerika ab. (B II, 489ff.)

Von Terke für "erotisch wahnsinnig" erklärt (B II, 492). Lombroso (1894) erklärt D. für einen "Mattoiden", "einen sich nur hinter der Larve des Genies versteckenden, zu jeder Schöpfung unfähigen Schwachsinnigen" (B II, 493ff. Anm.). - "Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich die ... zu Tage trende "Aversion" hauptsächlich auf die Stellung der Zunft-Medicin-Gelehrten gegen mich zurückführe" (493).  - Plan des "Doctor" L. "mir durch die Polizei meine Kinder zu entreissen und mich, sowie Fräulein Kolarik wegen "erotischen Wahnsinnes" ("psychopathia sexualis") in das Irrenhaus zu bringen" (500).

Selbstmordversuch des Fräulein von V. (502). - Schiffsreise zur Familie von V. (505). Zusammenstoß mit Doctor L (507f.) - "konnte ich das Bett fast nie verlassen und nicht die leiseste Unruhe um mich, selbst nicht den von mir so heiss ersehnten Verkehr meiner Kinder in dem Zimmer ertragen (508). Muß seine Kinder weggeben (509). Soll in eine Irrenanstalt eingewiesen werden. "Wenn ich unter solchen Umständen ... wirklich wahnsinnig geworden wäre, wer könnte sich darüber wundern?" (510). ... Wer sie nicht selbst erduldet hat, die raffinirten rohen Folterqualen ...(ebd.)" - Frau F. wird seine Helferin und Vertraute (511f.). - "dass die auf dem Standpunkte der heute noch herrschenden Schul-Medicinlehre fussende Psychiatrie ebenso wie die gewöhnliche Medicin-Lehre das entsetzlichste Gegentheil dessen sei, was sie zu sein vorgebe" (515) - "einem völligen Ausruhen meiner überreizten, bebenden Nerven hingeben" (ebd.). - "Mit schwacher Stimme ... " (519).

Rückholung des ältesten Sohnes (Helios), "dass die Sorge um ihn die schwerste meines Lebens wurde, und ich seit Jahren unzähligemale befürchten musste, ihn durch Selbstmord zu verlieren" (522). - "Briefe an meine, damals elfjährige Tochter [Stella]" (524) - Rückholung der anderen Kinder von Frau F. (523). - D. sucht Polizeischutz  gegen die Drohungen der Frau F.(525).

(Aus Diefenbach:  Ein Beitrag zur Geschichte der zeitgenössischen Kunstpflege. Wien 1895 = B)

 1893 Frau [Anna] F. war eine jener auf Seite 430, II. erwähnten Frauen, welche auf den .... Schauerbericht meiner Lage im "Wiener Tagblatt" Nr. 100 vom 12.April 1893 mir Hilfe angeboten hatten, und zwar bestand das Anerbieten der Frau F. in der Einladung, ihren Salon, d.h. besten Wohnraum als einstweilige Schlaf- und Werkstätte zu benützen (B 511). - Die beiden jüngsten Kinder hatte jene auf Seite 455 erwähnte Frau ...für einige Monate in ihre Familie genommen ... dass jene Frau und der "Doctor" beabsichtigten, mich in das Irrenhaus und damit meine Kinder aus der väterlichen Gewalt zu bringen (B 509). - eine Wiener Schriftstellerin, welche sich mir zur Besorgung meiner allgemeinen Correspondenzen ... angeboten hatte (B 455) - dass ich meinen ältesten Sohn ... sofort von Fräulein von V. trennen und zu mir zurückkommen lassen musste (B 522).

 

Diefenbach mit Stella, Helios (Mitte) und Lucidus (rechts)
 im Wiener Kaisergarten, 1894

Sommer 1895             Diefenbach an seine Tochter Stella: Wie Helios' unrettbare Verlorenheit mit jenem bübischen Anschlag begann, auf der zu meiner Erholung mit Euch und den "Schülern und Jüngern" unternommenen Gebirgswanderung Material zu sammeln, um mich in ein Irrenhaus zu bringen und Euch Kinder von einem solchen wahnsinnig-tyrannischen Vater zu befreien und wie der Grund zu seinem jetzigen tabakstinkenden Lotterleben ... in Hütteldorf gelegt wurde (237f.) ... Dem wahnsinnigen Dünkel Deines Mannes [Paul von Spaun] ist es noch nicht zum Bewußtsein gekommen, daß er von dem Tage in Dorfen an, da ich ihm auf sein Bekenntnis des bübischen Komplott-Anschlages, mich ins Irrenhaus zu bringen und Euch Kinder von einem wahnsinnig-tyrannischen Vater zu befreien, nochmals Vertrauen schenkte und ihn nicht gleich den anderen Burschen davonjagte, zum Verbrecher an Dir wurde. - Daß er neben seinem Dünkel, als Künstler hoch über mir zu stehen auch glaubte, als Mensch mich verachten zu müssen, weil eine Ottilie Bibus und eine Mathilde Oborny und andere Verächtliches mir nachsagten, zeigt die bodenlose Zerfahrenheit, Urteilsunfähigkeit und Anmaßung seines ganzen Wesens.                                      (Tgb. Nr.27, S.238)

Sommer 95 Dfb an Stella:Entgegen seiner großmauligen Aufgeblasenheit, mit welcher er in bübischer Weise in Mittenwald meine Ausweisung beantwortete und entgegen seiner späteren scheinheiligen Versicherung von Treue ... zusammen mit Helios, der durch seine bübische Agitation, mich ins Irrenhaus zu bringen und so Euch Kinder von einem tyrannischen Vater zu befreien, zur Lebensgefahr für mich und uns alle geworden war.                                               (Tgb. Nr.27, S.248)

… wie der jüngere Spaun vom Augenblick seiner Enthüllung der Verschwörung gegen mich (deren Seele er war) ... meinen im Beisein Dr.Bönischs ihm gemachten väterlichen Vorhalt über solche Büberei auf der Rhonalm bübisch-trotzig ohne ein Wort oder Zeichen der Würdigung anhörte und wie er bei der darauf erfolgten Ausweisung vor seiner Abreise von Mittenwald in bübischem Hohne seine Kunst ... hoch über die meinige stellte ...                                           (Tgb. Nr.27, S.259)



15. 7. 1895  Aus dem Tagebuch der Magdalene Bachmann während der Alpenüberquerung von Diefenbachs Familie und ihrem Aufenthalt im Karwendelgebirge und am Gardasee:

Zeitig in der Früh entstand ein heftiger Streit zwischen Helios und Leo, sodaß der Meister einschreiten mußte. Dabei zeigte sich Leo von solcher Frechheit, daß der Meister sich weigerte, ihm etwas als Andenken in sein Buch zu schreiben. Leo fragte mich, ob der Meister auch seine Empfehlung an Frau Lesser [in Wien], die er ihm tags zuvor gegeben hatte, zurückziehen werde. Ich erklärte ihm, das habe damit nichts zu thun, wohl aber das andere; denn wenn er Meisters mündliche Worte nicht achte, thue er dies auch nicht mit seinen schriftlichen. Ich bat ihn, sofort wegzugehen, da der Meister sich nicht traue das Haus zu verlassen, ehe er nicht fort sei, da er vielleicht von neuem Streit mit Helios anfinge. Darüber war er sehr entrüstet. Sein Abschied vom Meister geschah mit höflichen aber frechen Worten.

Dieser las gerade einen Brief von Kubka [Franz Kupka] an Maixner, der nach 18 Seiten unnützem Geschwätz zu dem Ergebnis kam, daß alles "Philosophieren" (!) nichts nütze, daß er sich dem Sinnengenuß hingeben wolle, wo er sich ihm biete. Vom Meister schreibt er, er habe ihn im Traum gesehen, ohne Kutte, mit kurz geschorenen Haaren, entlarvt. Später gingen alle außer mir auf den Bahnhof, um den Gepäckwagen zu holen.(54)

12. 8. 95 Beim Stenographieunterricht legte sich Helios plötzlich zurück und sagte, er wolle nicht mehr lernen. Ich redete ihm zu, aber vergebens. Seitdem lernt Stella allein. Der Meister sagte, daß durch Pauls Verkehr mit Stella Helios beständig an Grete [seine große Liebe in Wien] erinnert würde, sodaß er aus seinem träumenden Zustand nicht herauskäme. Darum verlangte der Meister, daß ich am folgenden Tage mit Paul rede; es ginge so nicht weiter. (68)

24. 8.   Wir erhielten eine Karte von Dr.Boenisch aus Salzburg, daß er in einigen Tagen käme. Wir beschlossen, daß Helios ihm bis zur Pertisau entgegengehen sollte. Wir freuten uns sehr auf seine Ankunft.

Ich hatte den Meister schon oft gebeten, Helios' Tagebuch zu lesen, er fühlte sich jedoch immer zu schwach; nun suchte ich es aus seinen Sachen hervor. Der Meister war tief bekümmert über ihn, und ich litt unendlich mit ihm. Als ich mich abends neben ihn legte, um ihn zu trösten und ihn zu liebkosen, was ihm sehr wohl that, und ihn in meinen Armen einschlafen zu lassen, fiel eine Thräne auf seine Stirn. Der Meister fragte, ob der Regen durchs Dach fiele. Ich antwortete nichts. (70)

19. 9.   Abends holte ich den Meister ab und erfuhr, daß unser Karren angekommen war. Wir sahen ihn beim Fuhrmann an. Er erhielt 1 M. Trinkgeld und ein Bild, ein zweites brachten wir ihm am nächsten Tage. Helios war sehr häßlich zu seinem Vater. Ich hätte weinen mögen, so leid tat mir der Meister; die Worte Helios' schnitten mir wie Dolchstiche ins Herz. (87)

21. 10.             Helios ist immer entsetzlich grob zu seinem Vater und verdirbt Lucidus. Das ist des Meisters größte Sorge. ... Abends machten wir noch einen Spaziergang, auf welchem der Meister ... über Helios' große Frechheit (sprach), die die Folge der Einimpfungen seines Weibes sei. Stella sollte helfen, sie zu beseitigen, da er von uns nichts annimmt. ... Berichtigung des Malik-Prozesses ... Wir wollen bald wieder abeisen, weil wir in der Werkstätte keinen Ofen haben. (106)

24. 11.             Abends ging ich mit dem Meister allein aus. Betreffs Helios' kamen wir zu dem Entschluß, daß er nach Wien gehe, da der Meister durch die beständigen Aufregungen aufgerieben werde, da er nichts annehme von ihm, da er mich haßt und aus dem Hause zu bringen trachtet und die Kinder gegen ihren Vater wie gegen mich aufreizt. Ich sagte, daß ich Helios für so strebsam halte, daß er von jetzt ab fleißig lerne. Es wurde dem Meister furchtbar schwer. Wir sagten zu Hause noch nichts. Der Meister wollte es erst am folgenden Tage tun.

In der Nacht stöhnte der Meister vor innerem Schmerz und weinte bitterlich. Ich schlug dem Meister vor, mich statt Helios fortgehen zu lassen, allein er wies es zurück. Er erinnerte sich an die Worte, die er in sein Tagebuch geschrieben hatte, als er Helios' Mutter heiratete: Helios, du bist um teuren Preis erkauft, mache dich dessen wert! Und wie lohnte er es!

Des Meisters Schmerz schmerzte auch mich tief. Ich erinnerte ihn, daß er doch sonst alles von der guten Seite auffasse, daß Paul und Dr. Boenisch über Helios wachen würden und er ihm sicher wieder zugeführt würde. (129)

25. 11.             Der Meister war so leidend, daß er den ganzen Tag im Bette bleiben mußte, in unserem großen, warmen Zimmer. Nach dem Frühstück eröffnete er Helios, daß er fortreisen müsse, wobei Lucidus sehr weinte. Helios sagte nur, ja, er wolle fort, hier könne er doch nichts anfangen. (130)

26. 11.             Ich sagte dem Meister, daß ich ihn nie verlassen würde, und wenn alles sich gegen mich stellte. Überdies atme ich jetzt auf, daß mein Feind aus dem Haus kommt. Es ist doch ein großer Triumpf für mich, daß nicht ich aus dem Haus geschickt werde, sondern Helios. Des Meisters Gerechtigkeit ist unanfechtbar. Wer die Schuld hat, der muß fort. Auch der Meister ist jetzt glücklich. Die beiden Kleinen hoffen wir, ohne jeden störenden Einfluß, zu gewinnen. (131)

27. 11. Helios wollte mit Lucidus zurückbleiben, bis wir wieder aus der Stadt kämen, aber der Meister erlaubte es nicht, denn Helios flößt während seines Alleinseins mit Lucidus diesem nur Gift ein. So hatte Lucidus früh gesagt, als er sehr unartig gewesen und ich ihn zurechtgewisen hatte: warum er mir nicht grob antworten solle, worauf ihm Stella erwiderte: daß man dich lieber hat, worauf er entgegnete: "Wenn ich euch nicht recht bin, werft mich auch aus dem Hause, wie ihr Helios hinauswerft"  - dieselben Worte, die alle Schüler gesagt haben: Wenn einer dem Meister nicht mehr recht ist, wird er hinausgeworfen.

Wir gingen einen schmalen, steilen Weg an der Villa Medinis vorbei hinauf auf den Bartholo-mäusberg, schließlich so hoch, daß wir Eis und Schnee fanden. An einer Stelle lagerten wir uns, um den herrlichen Blick über den See zu haben. ... Unterwegs trafen wir eine Frau, welche Schafwolle in der Hand hielt, die sie um eine Spindel zu einem Faden drehte. Sie führte uns in ihr Haus, um uns Wasser zu geben, das in einer Art Tropfsteinhöhle zutage trat. Sie gab dem Meister einen hölzernen Schöpflöffel und er trank, sowie wir alle. Als wir von der Hütte hinunterblickten, sahen wir einen Mann, der die Früchte der Ölbäume erntete. Wir sahen auch oft Vogelschlingen, die uns sehr empörten. Ich dachte, wir sollten sie alle wegnehmen. Wir kamen an einen ziemlich hohen Berg. Der Meister sagte, man müßte auf der anderen Seite den Längssee [Lago Maggiore] sehen, was Helios bestritt. Doch gingen wir den steilen Berg hinan. Oben lohnte uns herrliche Aussicht. Der Meister hatte recht gehabt.

Ich schlief fest ein. Es war wunderbar dort oben. Bald kam der Meister und legte sich zu mir ins Gras. Die Kinder kamen auch. Es wurde uns schwer aufzustehen.Helios sprang sehr schnell hinunter, sodaß er fiel. Als der Meister ihm Vorwürfe darüber machte, gab er wieder sehr häßliche Antworten. Darauf gingen wir in die Barabaranoschlucht.  ...

Es war eine wundervolle Partie gewesen, nur gestört durch das Benehmen der Kinder. In Gardone beobachteten wir, daß Frau Löbinger in ihr Geschäft lief, als sie uns sah, und "um Gotteswillen" rief. Sie ist eine sogenannte Klatschbase; durch die vielen Deutschen, die alle bei ihr verkehren, hat sie Verächtliches über den Meister gehört und dadurch ihr freundliches Benehmen gegen uns geändert. Wir wollen nicht mehr zu ihr hingehen. (132)

Lucidus, Helios und Stella mit ihrer Lehrerin Magdalene Bachmann
 während der Alpenfahrt

 28. 11. 1895   Der Meister gab Helios 30 fr. mit; die Fahrt würde 20 fr. kosten, wie ich nach dem Aufschreiben ausgerechnet hatte. Wir mußten laufen, um das Dampfschiff zu erreichen. Helios sagte kein Wort des Abschieds, kein Händedruck, nichts. (134)

 

IV. "Luderleben in Wien" (1895-1897)

17. Jan. 1896  Wir erwarteten Herrn Sannazaro. Indessen besprachen wir den Brief Pauls, in welchem er von Helios schreibt, daß dieser glaube, ich verleumde ihn bei seinem Vater. Ich erinnerte den Meister im Beisein der Kinder daran, daß ich ihn gebeten hatte, er möchte drei Staffeleien kaufen, damit Helios bei ihm arbeiten könne und immer um ihn sein, und daß ich immer in ihn gedrungen habe, er möge Helios' Tagebuch bald lesen, damit er endlich zur Ruhe käme. Die Kinder dagegen nehmen immer das Gegenteil von meinem guten Willen an. Der Meister stimmte mir zu.

Als Herr Sannazaro kam, stiegen wir in einen Wagen und fuhren durch die Stadt, die wunderbar gelegen ist, und sahen zum ersten Male das weite Meer mit seinen Schiffen. Den Paß erhielten wir erst, nachdem der Konsul das Empfehlungsschreiben der Herzogin gelesen hatte. (170)

26. 3. 97  Diefenbach an Emmy Meier: Der, bei meinem körperlichen Leiden, ständig bedürftigen Pflege, welche mir nur ein liebendes Weib zu bieten vermag, plötzlich beraubt, ehe mir nur der Gedanke hätte kommen können, mich um einen Ersatz umzuschauen, und dazu noch mit so ungeheuren Beschuldigungen von dem jungen Weibe, das bis dahin so innig zu mir gestanden, überhäuft, brach ich zusammen. Von da an gehörte mein Aufenthalt in Ägypten, vordem der großartigste, zu den entsetzlichsten Abschnitten meines "verrückten", "unsittlichen" Lebens. Mit Zurücklassung einer ganzen, dort erworbenen Wohnungseinrichtung und nahezu vollendeter Gemälde, Aufgebung eines im voraus für das ganze Jahr bezahlten großen Hauses in Heluan (am Rande der Wüste) und Aufgebung günstigster Gelegenheit zur Verwertung meiner in erhabener Einsamkeit und Ruhe geschaffenen Gemälde in Kairo, mußte ich Ägypten verlassen, um in Hütteldorf die gänzliche Vernichtung (durch Moder) meiner dort der Aufsicht des Paul von Spaun anvertrauten Gemälde (darunter auch 'Erlösung') sowie das schändliche, faule und lasterhafte Schmarotzerleben auf meine Kosten des Paul von Spaun zu finden, der damals in dem ihm anvertrauten Helios den Grund zu dessen jetzigem Luderleben legte.        (am 9.2.1909 in Tgb Nr.27)

 

V. Nach Dorfen verbannt (1898)

Aufbau der Ausstellung - Verachtung für Paul - Abneigung gegen Hilaris - Nach Dorfen geschickt zur Verwaltung des Hauses - Brief von Gräser - Rückkehr im November.

1898 Winter   Diefenbachs Enkel Fridolin von Spaun erzählt:

Bei der Eröffnung der Ausstellung, die in einem Kellerraum aufgebaut war, kam es zu einem Vorfall, der schon ein böses Omen bedeutete. Ein Erzherzog aus dem Kaiserhaus sollte die Eröffnung vornehmen, man war aber nicht ganz fertig geworden. Bis zur letzten Minute waren Stella und Helios (?) damit beschäftigt, Dekorationen im Eingang aufzubauen. Als sie den hohen Gast herannahen hörten, verdrückten sie sich hastig und ließen in der Eile ihre Arbeitswerkzeuge am Boden zurück. Über die stürzte dann der Erzherzog, als er feierlichen Schrittes den Raum betrat. Mit feuerrotem Kopf erhob er sich, sprach kein Wort mehr und entfernte sich auf dem schnellsten Wege.

9. 5. 1898  Diefenbach an Paul von Spaun – hier: ... Rückfall in Deine Laster ... die Verachtung Helios' gegen Dich ... wenn ich auch nur im Leisesten einen nochmaligen Rückfall in Deine seitherige ständige Gemeinheit bemerke, so dulde ich Dich als Pestbeule nicht mehr in meinem Hause. ... Deines bubenhaften Dünkels, in welchem Du, statt Dich erst selbst zu einem Charakter von mir erziehen zu lassen, Dir in unerhörtem Frevel anmaßest, meine Kinder hinter meinem Rücken zu beeinflussen. ... Daß meine Tochter ... Dich bedauert ...  D.                                             (KB 21/42)

12. 6. 1898 ... Wir sind jetzt 15 Personen, Helios ist in Dorfen ... (KB 21/216)

6. 7. 98  Diefenbachs ältester Sohn Lucidus an seinen Bruder Helios: Paul und ich konstruieren jetzt Rollschuhe und ein Rad mit Kinderwagenrädern! ... "Simplizissimus" [der Jünger Simplizius] läßt Dir sagen, daß er und Josef [Baumgartner?] jetzt Rad fahren, Hermann lernt es bei Baumann auch.

18. 8. 1898  Diefenbach an Helios und Stella  in Dorfen:

... Roheit Walthers und E. Guttzeits ... Mina ... 8 Tage lang als "Vagabundin" ... gefangen gehalten wurde, ist ruhig und heiter nach 14tägiger Abwesenheit zurückgekehrt. Karola ist ein modernes oberflächliches, halbgebildetes Wesen ... Gustavs Mutter kommt morgen mit ihrem jüngsten (12jährigen) Sohn - zunächst nur zu einem Besuche. Ich werde bald klar wissen, [ob sie für] die nach den Schilderungen Gustavs ihr zugedachte Stellung einer von allen geachteten Vorsteherin der jetzt so gewaltig vergrößerten Haushaltung und des geselligen Verkehres in der Er[holungs?]zeit, dem ich durch mein Ruhebedürfnis nur sehr wenig beiwohnen kann, genügend geeigenschaftet ist oder nicht; ersterer Fall wäre von unabsehbarem großen Nutzen und Segen, letzterer [böte?] jede Gefahr, da sie dann bald wieder abreisen würde. ... eine zweite Büste von mir modelliert. -

Die Ausstellungs-Gläubiger drängen und drohen mit Exekution um Geld, die "....che Gesellschaft" zieht sich immer mehr von "diesem Diefenbach" zurück, die Arbeiterkreise bekunden hohe bedeutsame Begeisterung, die Paul bereits wieder mit der Polizei zusammengebracht hat. ... Mut, Vertrauen und Ruhe! Euer Vater.                                                                                    (KB 23/78)

 24.  8. 1898  Gräser schreibt an Diefenbachs ältesten Sohn Helios, der sich in Dorfen bei München aufhält: Jetzt ist meine Mutter, meine echte Mutter, da ... Deine letzten Briefe, Helios, habe ich gelesen und freu mich ungemein, daß du zu solchen Erkenntnissen kommst. Es ist die Hoffnung in mir aufgegangen, daß ich in dir finden werde, was ich suche und was jeder edle, nach Erkenntnis Gottes strebende Mensch von Natur aus getrieben sucht, Helios, einen Freund.

13. 9. 1898  Friedrich an Helios: Walthers sind endlich fort; sie kommen wohl auch nach Dorfen; faß Dich kurz und gieb ihre Sachen heraus, laß Dich nicht mehr weich machen, es macht sie immer schlechter. Auch Gustav ist fort; er will erst kraftlos werden und dann hierher flüchten, der Unselige.

Ich sage: je weniger einstweilen, desto besser - wenn nur gut. ... Geld haben wir jetzt fast keins. ... Stella ist wieder Hausfrau; sie sitzt am Tisch oben, traurig und heiter, wie im Kinderleben, aber stark. Wieder Leben am Tisch. Paul arbeitet; er ist sehr leidend.                                               (KB 23/193)

5. 11. 1898  Das ist heute wieder ein Druck, der auf dem ganzen Hause lastet. Seit gestern abend ist Stella besonders entsetzlich; sie ist gar nie lieb mit uns, und ich vermisse das Mädchenhafte an ihr gar sehr; sie lässt uns so deutlich und thatsächlich pietätlos fühlen, dass sie als Tochter des Meisters so hoch über uns steht; aber seit gestern abend ist sie so, dass ich ihr ausweiche ... Gestern hat Stella so viel mit Paul und Friedrich gesprochen, und wahrscheinlich ist sie deshalb so erregt ... In einem fort wirft sie mit "Frechheit" und "blöd" herum. Ist das denn recht in "Humanitas"? Jetzt standen Friedrich,. Paul und Stella zusammen und in Fortsetzung eines langen Gespräches vorher in Helios' Zimmer sagte Stella ... fast weinend: "Ja, der Vater soll nur wieder fragen, wer das Scheusal ist: die Mutter oder er? Dann werde ich es ihm schon sagen, ich werde schon antworten, wer es ist." ... Ich kann nur daraus entnehmen, dass Stella in einem recht unglücklichen Gemüthszustand ist, sonst würde sie nicht so gegen ihren Vater, gegen unsern verehrten Meister sprechen; mir wäre lieber, ich hätte es nicht mitangehört.                                                                      (Tagebuch der Anna Bayer)

25. 9. 1900  An meinen Sohn Helios!

Auf Dein heutiges an Mathilde Scholl gerichtetes Schreiben verlange und erwarte ich von Dir nur noch, daß Du die Marter, mit welcher Du seit Jahren mein Leben untergräbst, durch Deine Entfernung aus meinem Hause morgen früh beendest. Dein Vater.                              (KB 25, S. 446)

VI. Aus der väterlichen Verantwortung entlassen (1900)

Diefenbach entläßt Helios aus seiner väterlichen Gewalt. Eine Ausbildung wird ihm verweigert. Seine Aussagen über den Vater veranlassen einen Schmähartikel von Hanns Heinz Ewers, auf dessen Verleumdungen Diefenbach mit einer Gerichtsklage antwortet.

16. 11. 1900...meinem Sohn Helios ... gesetzliche schriftliche Erklärung der Entlassung aus meiner väterlichen Gewalt zu geben, womit ich jede Verantwortlichkeit für sein ferneres Tun und Lassen ablehne.                                                                                                                               (LZ IV)

Anfang Juni 1902  Helios aus München an Dfb:

Mein Vater! Vor einigen Tagen hat mir Friedrich mitgeteilt dass Du ihm Dorfen gegeben hast.

Es ist mir unfassbar wie Du mit Dir fertig werden kannst. Dein Letztes fremden Leuten zu geben und Deinen Kindern garnichts. Es ist das so ungeheuerlich, dass man es sich kaum bewusst zu werden wagt. ... Nach alle dem läge die einzige Möglichkeit, mir ein anständiges, Dich nicht schädigendes Leben zu gründen darin, dass Du mir auf einige Zeit die Mittel zu meiner Ausbildung bieten würdest.

Aber das ist ja alles so jämmerlich kläglich, es treibt mich immer mehr ein Künstler zu sein ...

Und das ist was centnerschwer auf Dich lastet, dass Du der Verantwortung, die Du vor Gott und der Welt für mich übernommen hast, nicht genügtest, indem Du mich aufwachsen ließest ohne mich in den Stand zu setzen, mich in der Welt fortbringen zu können. Keinen Pfennig, und wenn Du Millionen hättest, möchte ich nach Art der heutigen Gesellschaftsmenschen ihren Erzeugern gegenüber von Dir beanspruchen, aber dass ich nichts gelernt habe, was mich befähigte, selbständig vorwärts zu kommen, ist ein Umstand, dessen Folgen tausendfältige sind und nicht mich allein treffen, sondern und zwar in viel höherem Maaße auch auf Dich zurückfallen. Gegen eine derartige, von Dir selbst ausgehende Untergrabung Deiner Ehre und Deines Ansehens helfen keine "Ehren-Vereinigungen" und keine noch so bombastischen Betheuerungen, ob sie nun in Worten oder in Millionen von Flugblättern in die Welt hinausposaunt werden - nein, da gibt es ehrlichere und einfachere Mittel! ...

Erst in diesen Tagen hat sich wieder gezeigt, wie unmöglich mir infolge meines Mangels an jeglichem Studium mir die Erlangung einer Stellung ist. ...

Dass ich, in dem sich alles dehnt und sehnt, in solchem innerlichen Elend derartiger Stellungen mein Leben beschließen soll! Die schwersten Kämpfe habe ich durchgerungen, dass jeder Nerv, jede Fiber in mir bebte und zu zerreißen drohte - wenn ich, was in meinem Verkehr auf der Akademie etc. ja sehr häufig ist - mit ansah, wie Andere in ihrer Sorglosigkeit jubelnd weiter schreiten auf dem einzigen herrlichen Weg zur Freiheit - zum Können! Und ich daneben - dastehen zu müssen, schweigen zu müssen, verkannt von jenen, die nicht wissen, wie in mir alles hämmert, meine gefesselten Fähigkeiten, die in ihrer Ohnmacht von Minute zu Minute sich steigern, mich zu zersprengen drohen! Der ich mir so schrecklich des Werthes dessen bewußt bin, was jene in ihrer Unerfahrenheit nicht genug zu würdigen wissen!

Vater! denke zurück an meine Kindertage, wo Du - manchmal noch - mit mir zu fühlen vermochtest - zu was Du mich auserkoren hattest - was alles möglich gewesen wäre, noch möglich ist - regt sich da keine Stimme in Dir, jetzt noch alles zu thun, um mich zum freiesten und herrlichsten Menschen zu machen?!

Auch uns gegenseitig harrt noch eine Erlösung - der Weg ist meine Freiheit, mein Können!

Deiner Antwort harrend: Dein Sohn.                                            (Briefordner Helios, Lucidus, Stella)

 

8. 12. 1902  An meinen Sohn Helios in München: ... solange Du es vorziehst, in solchem Pöbelkot zu waten ...                                                                                                              (Tgb Nr.21, S.20)

Okt. 1903  Artikel von Hanns Heinz Ewers: Die Insel der Entgleisten. In: Der arme Teufel. Herausgeber Albert Weidner, Friedrichshagen, Berlin, 2.Jg, Nr.22/23 und 24, 1903. [Von Dfb im Auszug nachgedruckt für die Besucher seiner Ausstellung]

... K.W.Dieffenbach. Ein Wolf im Schafspelz! Nie ist von einem Menschen der Name der Kunst schamloser missbraucht worden! Diese Katzennatur, die überall hinausgeworfen wurde, um immer wieder auf den Füssen zu stehen, hat an dem - geschäftlich! - besten Punkte von Capri eine schöne Villa, "Le Camerelle" .... Die Schüler müssen ordentlich schuften, und nachher kommt der Meister und schreibt seinen Namen darunter: K.W.Diefenbach. ...  "Geheime" Korrespondenz ist verboten für die Schüler; jeder Brief und jede Karte, die ankommt oder abgeht, muss der Meister erst lesen und genehmigen. Dieses Sklavenleben hält der eine länger, der andere weniger lange aus; aber dafür hat der Meister eine feine Nase: er merkt immer gleich, wenn sich ein Schüler mit der Absicht trägt, fortzugehen. Dann kommt er ihm zuvor: er wirft den Schüler vor die Türe. ... Diese werden mit einer dicken Schicht - - Sandmörtel (!!!) bestrichen. ...  In München aber laufen seine beiden Söhne - Helios & Lucidus heissen die Glücklichen - von Atelier zu Atelier herum und betteln darum, ihnen doch gelegentlich durch Modellstehen ein paar Groschen zu verdienen zu geben.

Und der Herr Papa bewohnt auf dem schönen Capri eine prächtige Villa, hält seine große Kunstideal- und Menschheitsverbesserungsrede 365 mal im Jahre und verdient viel Geld mit seiner Engros-malfabrik!  ... 

 

23. 7. 1904  Capri, Villa Camerelle. Brief von Dfb an Helios im Hause: "Drei Tage Bedenkzeit: entweder Aufhören des Lasterlebens oder sofortiges Verlassen meines Hauses". Tgb 23, S.11 (Frido)

29. 4. 1905  Dfb an Stella: ... Helios ist ebenso unglücklich wie Du und Lucidus ...

6. 7. 1905  Dfb an Stella aus Sorrent: ... Als "Zwang" erklärt Helios ... meine Belehrung, daß auch Eier als göttliche Mutterschaftsprodukte keine Speise für Menschen seien sondern bestienhaft den Vögeln geraubt werden.

5. 8. 1906  Dfb aus Sorrent an Stella: ... Vor fünf Wochen hat Mina mein Haus verlassen ... Ende September muß die Villa Camerelle geräumt werden. Marie ist durch die Selbstsucht-Raserei Minas gegen sie lebensgefährlich erkrankt ... Helios liegt ... zu Bett ... ein "egoistischer Tyrann", ein "Spekulant" etc. etc, außerdem ein "unmoralischer Mensch", ein "schlechter Gatte", der seine erste Frau gemordet hat und ihr jetzt Schlechtes nachredet und der seine jetzige Frau durch sein unmoralisches Verhältnis zu deren Schwester zu sittlicher und rechtlicher Entrüstung und aus dem Hause treibt; ein schmutziges Skandal-Leben, das den Söhnen jede Achtung vor dem Vater und das Zusammenleben mit ihm unmöglich macht etc. etc.

15. 9. 06  Marie verläßt Dfb zur Kur in einer Natur-Heilanstalt.

Dfb an Wilhelm Müller, Karlsruhe: (Meine Frau) bildet sich an einer ... Frauen-Academie in der Schweiz zur Sprachlehrerin aus ... Weit mehr noch trifft mich der Verlust ihrer Schwester ... die infolge  des jesuitisch betriebenen Kampfes der letzteren gegen ihre Stellung in meiner Sorrentiner Werkstätte ... des brutalen Auftretens meines Sohnes Helios gegen sie ...  Nieren-Leiden ... Sie hat mich am 15. September verlassen ...  Verlust der Villa Camerelle ...                      (Tgb Nr.24, S.277)

31. 8. 1907  Helios mit Grete in Kronberg. Brief  von Anton von Spaun (Akt A.v.S.)

VII. Vom Vater nicht mehr aufgenommen (1909-1913)

Dez. 1908  Helios kehrt nach Capri zurück, wird aber von seinem Vater nicht aufgenommen.Er wohn meist bei der befreundeten Grete Ronnek in Kronberg oder bei der Russin Adele Abels auf Capri. Schließlich soll er mit Aufträgen seines Vaters nach Ägypten geschickt werden. Davon befreit ihn Diefenbachs Tod.

3. 3. 1909  Dfb an Lucidus in Karlsruhe: Bezüglich des Rauchens kommt nicht mein Prinzip und meine väterliche Gewalt in Betracht, sondern einesteils, daß es mir physisch und seelisch nicht möglich ist, einen tabakstinkenden Sohn zu empfangen oder gar in meinem Hause zu beherbergen, andererseits die Giftwirkung dieses ekelhaften und entwürdigenden Lasters auf seinen Geist und seinen Körper. Ihm das Rauchen zu gewähren heißt (ganz abgesehen von der Geldfrage) ihn dem geistigen und körperlichen Verfall direkt entgegen zu führen. Das tut Stella mit Spaun und tun Grete, Meyer und Abels mit Helios.                                                                                          (Tgb Nr.27)

30. 1. 1909  An Grethe Ronnek, Kronberg bei Böheimkirchen:

Deine edle, selbstaufopfernde Liebe zu meinem unglücklichen Sohne ... (85) Durch Dr.Meyer erfuhr ich, daß Helios die ihm gebotene Gelegenheit zu fleißigem Arbeiten nicht benutzt, daß er täglich bis Mittag und darüber hinaus im Bett liegt, unausgesetzt Tabak raucht, Schulden macht  und unter Tränen darüber klagt, daß er mein Haus nicht betreten, mich nicht besuchen dürfe ... (87)

Von dem großen Haus, für welches ich jährlich die ungeheure Summe von 5000 Lire Miete bezahlen muß (ohne alle sonstigen Auslagen), stehen die beiden unteren Stockwerke völlig unbenutzt, jetzt nur Magazine zur Aufbewahrung meiner teils ganz, teils nahezu vollendeten Gemälde aus den 7 großen Sälen von Sorrent, würden diese Räume die jetzige Ausstellung (im oberen Stockwerk) verdoppeln, wenn geeignete, vertrauenswürdige Menschen mir zur Seite stünden, diese Sorrentiner Gemälde unter meiner durch die Schwester meiner Frau, welche die obere Ausstellung verwaltet, geführten Oberleitung zur Ausstellung zu ordnen und diese zu verwalten. Der neugebaute große Saal (13 x 6 Meter) mit dem Riesenfenster nach dem Meere, dessen Benutzung als Werkstätte mein Leidenszustand und vorzeitige Altersschwäche mir nicht mehr erlauben, würde Dir und Helios als Werkstätte und der darunter gelegene Saal  ... sorgenlose Wohnung bieten (89) ...            (Tgb Nr.27)

31. 1. 1909  Dfb an Emmy Meier, Capri:

... gibt es nur eine Möglichkeit zu seiner (Helios') Rettung: die harmonische Vereinigung Grethes mir mir! Scheitert diese an der Unfähigkeit Grethes, dann ist Helios rettungslos verloren! Diesen, im vorigen Herbst zuerst von meinem Sohne Lucidus in Hinsicht auf die dringend notwendige Unterstützung Maries in der Verwaltung der durch die Sorrentiner Gemälde verdoppelten Ausstellung ausgesprochenen Gedanken habe ich gestern in ausführlichem Schreiben an Grethe (Ronnek) klar entwickelt nach jedem Betracht. Der Umstand, daß ich, um nicht der Eifersucht meiner Frau zu  furienhaft rasendem Ausbruch wieder Veranlassung zu geben, keine zwei zusammenhängende Sätze mit Marie sprechen kann, machte, zumal da jetzt Marie ebenfalls in schwerem Leiden ans Bett gefesselt ist, eine Vorbesprechung ... unmöglich. (95)              (Tgb Nr.27)

11. 2. 09  An Ida Zerratte, Berlin-Steglitz:

... ein alter erfahrener und zum Glücke als seltene Ausnahme unter Italienern gewissenhafter menschenfreundlicher Mann stellte nebst chronischem Allgemeinleiden heute Rippenfellentzündung mit schwerem Exsudat fest, die, wenn letzteres nicht auf innerem Weg zu absorbieren sei, eine Operation von außen zur Verhütung von Lebensgefahr nötig mache (115) ...  So vollendete ich die von Ihnen gewünschte Wiederholung der Piccola Marina ... und entwarf ...  das von Ihnen außerdem gewünschte Brandungsbild ... ist eine wahre Schmerzensgeburt ... Mir schwinden außer Bett die Sinne; was ich an einem Tage gequält gearbeitet,  muß ich am andern übermalen, ohne bis jetzt die Vollendung zu erzielen (116) ... Meine von den wenigen Menschen, die Würdigung für mich empfinden, als übermenschlich und unbegreiflich angestaunte Schaffenskraft ist gebrochen, und ein Bild, das ich früher mit sicheren flotten Strichen in einigen Tagen zu schaffen vermochte, bringe ich jetzt unter namenloser Qual in Monaten nicht zu Stande. In der stützenden Ruhe und gleichmäßigen Wärme des Bettes schreibe ich auf künstlich über dasselbe gebautem Pult einen Abschnitt meiner Lebensgeschichte, durch welchen ich meinen ältesten, jetzt 28jährigen Sohn zu retten suche vor einem gräßlichen Ende durch Selbstmord der Verzweiflung und des Irregewordenseins an seinem Vater (durch seine tote Mutter!). ... (117)

Für sie [Marie Vogler] ist Helios der Teufel, und der bloße Gedanke, seiner Bosheit nochmals ausgesetzt zu werden, macht sie wahnsinnig, läßt sie die heftigsten Vorwürfe gegen mich erheben, daß ich sie, die mir ihr Leben gewidmet, hinmorden lasse durch meinen faulen nichtsnutzigen Sohn, läßt sie ihren raschen Tod als einzige Erlösung in gräßlicher Verzweiflung, in lauten Selbstgesprächen herbeisehnen. (119)                                                                          (Tgb Nr.27)

12.2. 09  An Emmy Meier, Capri:

Die Katastrophe scheint mir immer mehr für Marie unabwendbarer als für Helios, weil sie - bei völlig erschöpftem und krankem Körper - in Hinsicht auf Helios an der Grenze ihres Verständnisses und - was schlimmer ist - ihrer Achtung für mich steht. Sie beurteilt und behandelt mich hier trotz meinen 58 Jahren von einem ähnlichen Wahnstandpunkte aus wie ihre Schwester. Während diese mein früheres Leben für ein "Vagabundenleben" erklärt hat, aus welchem ich nur durch sie auf meine jetzige höhere Lebensstufe gelangt sei, betrachtet mich Marie, in ihrer  früheren Erziehungstätigkeit kleiner Kinder starr geworden, wie einen am Gängelband zu führenden unzurechnungsfähigen Knaben, und da ich ihr nicht folge und Helios, den sie für einen unverbesserlichen schlechten Lumpen und boshaften Satan hält, zu retten suche, für einen undankbaren gewissenlosen Schurken gegen sie. Über diesen Punkt, den sie mir schon früher wiederholt angedeutet hat, gegen den alle meine erklärenden Gegenvorstellungen ganz vergebens blieben, kann sie nicht hinüber; dieser Punkt, irre geworden zu sein an mir, sich von mir nur als "Arbeitstier" geachtet und der Roheit meines Sohnes preisgegeben zu wähnen, gibt ihr den Todesstoß. Ich halte die Katastrophe für unabwendbar. (121)                                                                                                                            (Tgb Nr.27)

13. 2. 1909  Dfb an Dr.Olga Knischewsky,  Berlin:

In edler und heldenhafter Liebe nahm eine mit Stella gleichaltrige Jugendfreundin, von welcher sich Helios losgerissen hatte, ihn zu sich, kaufte mit dem kleinen Erbteil ihres elterlichen Vermögens auf seinenNamen ein Landgut in Niederösterreich und hoffte durch die ländliche Einsamkeit und Beschäftigung seine von Kindheit an zerrüttete und zerrissene Seele zu heilen und durch ihre Liebe glücklich zu machen.  ... Vor 2 Monaten kehrte er ... hierher zurück.                                (Tgb Nr.27)

26. 2. 1909  An Frau Meyer:

... Ich sehe das satanische Weib vor mir stehen, als ob ich es erst gestern erlitten, den kleinen, kaum dreijährigen Helios mit Fäusten schlagend und an den Haaren zerrend und mir, der ich wehrlos und hilflos leidend dalag und der schier unglaublichen Roheit dieser Rabenmutter machtlos zusehen mußte, mit Teufelsgrinsen zufletschen: "Das gilt DIR!" ... Ich kann nicht mehr.  (Tgb Nr.27)

10. 3. 1909  Dfb an Lucidus:

Nachdem Du ebenfalls der Meinung bist, daß mein Schreiben an Helios  vom 17.XII. die gegenteilige Wirkung auf ihn machen mußte, als ich gewollt, nachdem Dr.Meyer und Abels dies Schreiben als eine "Lieblosigkeit" und "Scheusäligkeit" erklären und Helios darauf (nach 3 Monaten!) noch keine Antwort an mich gefunden hat ... Daß Helios bei solchem Luderleben, das auch mir den Schlaf und jede Schaffenskraft raubte, mein Haus verlassen mußte ...                                                (Tgb Nr.27)

25. 3. 1909  Dfb an seine Schwester Elisabeth:

... Statt dessen hat er (Helios) alles auf das Gräßlichste verschlimmert und zum Äußersten getrieben, sodaß die Notwehr zur Erhaltung meines Lebens seine Ausweisung erheischte. - Zur Steigerung der Tragik seines von seiner Mutter von Grund auf verwüsteten Lebens fand er teilnahmsvolle Aufnahme bei einem älteren Fräulein, Deutsch-Russin von hoher Bildung und Intelligenz, aber voller Vorurteile gegen mich und gehässiger Geringschätzung gegen meine Frau und gegen deren Schwester. Dieses Fräulein Abels ist trotz oder vielmehr durch ihre guten Eigenschaften zu einem entsetzlichen enfant terrible für Helios geworden, durch dessen Einfluß auf ihn er immer weiter von mir getrennt und in einer Lebensweise bestärkt wird, welche zum Ruin führen muß. Um nur ein Beispiel dieses gutgemeinten verderblichen Einflusses zu geben, erwähne ich die Gewährung und Billigung des entnervenden und herzlähmenden stinkenden Tabaklasters, welches, da "alle Männer" vom Kaiser und Papst (dem "Stellvertreter Gottes"!) bis zum verkommensten Vagabunden ihm frönen, als förmliches Attribut von Männlichkeit, als berechtigter Genuß, ja als "Bedürfnis" erklärt wird.                                                                                                                  (Tgb Nr.27)

20. 4.   Dfb an Helios, hier: ... Solange Du meine Vorstellung nicht glaubst und annimmst, bist Du der größte Schädiger meines Lebens, statt dessen Stütze, deren ich so dringend bedarf. Dein solcher Aufenthalt auf Capri macht mir das Haus zum Kerker und zwingt mich, Capri zu verlassen.

(Tgb Nr.27, S.233)

16. 5. 1909  Dfb an Stella: ... zwang mich das zwanglose Luderleben, das inzwischen der jüngere Sp.[Spaun] mit dem ... Helios in Hütteldorf führte ... zurückzukehren. ... Es dauerte kein halbes Jahr [nach Ägypten], als beide zu mir zurückkamen: er [Friedrich] in tiefster Empörung und Verachtung über ... seiner Frau ..., sie [Magda] unter Reuetränen ... [Friedrich] beichtete, daß Du durch ihn schwanger seist seit jener Reise nach Dorfen ... (S.3)

Postkarte an Stella: … Der Verkauf des Hauses und die Verwendung des Erlöses über meine "Schuld" (!!!) an Magda hinaus als ihr "Eigentum" war Mißbrauch meines Vertrauens und meiner Notlage und Raub an mir und an Euch.                                                                            (Tgb Nr.27)

5. 9. 1909  Helios z.Zt. (von Kronberg kommend) auf einige Monate wieder in Capri. Grete hat vor 3 [?] Jahren Helios von Capri aus zu sich genommen.                                                               (Tgb 28)

13. 9. oder 20. 9. 1909             Helios reist dieser Tage nach Kronberg zurück (Nach 9 Monaten qualvollster Marter für ihn und für mich.)                                                                     (Tgb 28, S.26)

22. 11. 09  Dfb an Stella: ... der Wahn, ... daß ich Gelddepots in den größten Banken Europas …

24. 4. 1910  Dfb an Stella: Stella! ... hat Helios mir ... zuletzt auf offener Straße am hellen Tage ins Gesicht gespien mit dem Vorwurf, ich hätte ... Eure Mutter "verführt" und der Schmach einer unehelichen Mutterschaft ausgesetzt ...

5. 7. 1911  Helios aus Berlin:

Mein Vater! Du sprichst in zwei Sprachen zu mir. In der einen erfasst Du das Ringen meines Lebens. Nur in der einen verstehen wir uns; in der anderen nicht. Mein Leben ist nicht inhaltlos und seelenarm. Ich habe gerungen und ringe, und ich weiss wofür.

Ich habe viel, viel gelernt; ich sehe tief in Dein Leben hinein. Und ich weiss wo und wie ich Dir helfen könnte! Ich sehe die Schmach Deiner Lage, und ich empfinde sie als die meine!

Du hast mich verstossen und mich dadurch abgeschnitten von Dir.

Du rufst mich jetzt als Deinen Sohn, und als der möchte ich kommen zu Dir.

Aber ich habe mein Leben nicht umsonst gerungen und schätze es hoch ein und gebe es nicht auf.

Du kennst mich nicht. Du müsstest im ernstesten Sinne den ehrlichsten Willen haben, Dein Kind kennen zu lernen, wie einen neuen Menschen. ...

Du scheinst nicht zu wissen, wie ich Dich und Deine Ideale erfasse. In mir ist keine Fiber, die dagegen wäre, mich in die Bresche Deines Lebens zu werfen.

Du bist in Not, und ich möchte Dir helfen und Dir Gelegenheit geben, mich kennen zu lernen, zur Beendigung Deines Schmerzes um mich.

Helfen möchte ich Dir auf jeden Fall, bedingungslos, gleichviel ob meine Erwartungen in Erfüllung gehen oder nicht. ...

Ich stehe allein mit meinem persönlichen Glauben an Dich --- aber alle Unkenrufe können die Hoffnung nicht töten in mir, Dir doch noch zeigen zu können, dass ich Dein Sohn                                                                                                                                               bin!  Helios

 (Briefordner Helios, Lucidus, Stella)

 

4. 2. 1912  Erscheinen Lillis [Jakobine Leiseder, die Lebengefährtin von Helios], die Helios von Neapel abholt.                                                                                                             (Tgb 30, S.58)

13. 2. 1912  Dfb an August Püringer, Dresden:

Noch zittert jeder Nerv in mir über das durch die zweite Ehe Erduldete, noch habe ich keinen "weiblichen Diefenbach" gefunden, dessen ich bedarf, um die Wunden zu heilen, die mir "großen Kinde" die selbstsüchtigen Philisterseelen "christlicher" Wurmweiber (auch die Magda Bachmann, die zu Ihrer Zeit im Kaisergarten von Wien zu mir kam, zeigte sich als solches) geschlagen haben - (eine geniale junge Russin, groß im Leben wie in der Kunst (Musik-Componistin, Malerin) kann sich in Rücksicht auf ihre Eltern nicht an meine Seite stellen) aber, unterstützt und beschützt von Helios und Lucidus, die seit Dezember nach langjähriger tragischer Entfremdung wieder mit mir vereint sind, atme ich trotzdem erleichtert auf, befreit vom mich würgenden Alb "christlicher" und"emanzipierter" Weiblichkeit. (62f.)

Ich habe mir jetzt den Vorraum meiner (großen) Werkstätte als Wohn- und Schlafstätte eingerichtet, umgeben von den Bildern meiner Eltern, meiner Jugend- und meiner Manneszeit und meiner Kinder, den lebensgroßen Bildern Helios', wie ich ihn mir dachte als Verkörperer und Verkündiger meines Menschheitsgedankens, Stellas zusammen mit der unvergeßlichen Katinka, Otto Drießens und jener jungen Russin, meinem Klavier, dem Bilde Beethovens (mit ihrem Bilde); das mir nach rastlosem Tagesschaffen an der Staffelei meine einsamen Abende durch die göttlichen Töne Beethovens - für ich die höchste Gottesoffenbarung der Menschheit - erleichtert und mich vor dem Gespenst des Wahnsinns schützt, das mich in meiner himmelschreienden Vereinsamung angrinst. Hätte ich nur die Kinder Stella's um mich ...                                                                                      (Tgb Nr.30, S.63)

3. 8.  Will nach Palermo zu Prof. Romeo Lovera."Vor einem Monat ist meine Tochter ... nach langer tragischer innerer wie äußerer Trennung zu mir zurückgekehrt. ... Der Narr von Capri".

Auf der Rückseite des Briefes von der Hand Stellas: Ich konnte meinem Vater die von mir und meinen Kindern erhoffte Hilfe nicht bringen - ich zu sehr gebunden durch meinen Mann und sechs Kinder und war nicht imstande, Helios' brutales [unleserlich] gegen unsern Vater zu verhindern. Vaters frühzeitiger Tod war die Folge meines Versagens. Umsomehr drängt es mich - jetzt, nach seinem Tod, ihm die Treue zu halten und sein von seinem Sohn entstelltes Bild zu klären! Stella.

(LZ)

5. 8. 1912        September bis Dezember: 5.August Capri verlassen, Reise^nach Palermo, dann Aufenthalt in der Neuen Universität Napoli (Tgb 30, S.12 und 143), Rückkehr nach Capri 23.Dez. 1912                                                                                                                             (Tgb 31, S.20)

Flüchtet vor Helios von Capri nach Palermo und Neapel. Siehe Tgb Nr.13, S.143!

7. 9. 1912  Übergibt Vermögen an seine Kinder, behält sein Bett und anderes für die Gründung einer neuen Existenz für den Rest meiner Tage fern von Capri:

Urkunde. Neapel, 7.9.1912.

Um das unglückliche Drama, das ich durch meine Begegnung und Verbindung mit Magdalena Atzinger aus München seit 33 Jahren durchkämpfen und durchdulden muß, nicht zur entsetzlichen Tragödie werden zu lassen, übergebe ich meinen drei Kindern … Helios, Stella und Lucidus, als ihr Eigenthum zur Grundlage einer eigenen Existenz alle meine auf Capri geschaffenen Kunstwerke und erworbenen Mobilien samt dem Grundstück der Malerplatte mit Ausnahme der Familienbilder, Baupläne und plastischen Figuren, meines Bettes sowie einer Anzahl angefangener Gemälde zur Erwerbung des nötigen Geldes für die Gründung einer neuen Existenz für den Rest meiner Tage fern von Capri.

... Entfremdung meiner beiden Söhne gegen mich, die sich seit meiner Trennung von meiner zweiten Frau und deren Schwester ... gezeigt hat ... Helios und Lucidus wegen der mir von ihnen zugeschriebenen Schuld an ihrem Lebensunglück gegen mich ... für Stella mit ihren sechs Kindern ... in der von mir zu erwerbenden Festung Baia ein eigenes abgeschlossenes Haus ... unter der Bedingung, dass Spaun sich gänzlich von dem ... Laster des Tabakrauchens ... zu erheben vermag.

 (LZ IV)

20. 11. 1912  Dfb aus Neapel an Helios in Capri:

... So schmerzlich es für Dich wie für mich ist, trotz beiderseitigen Sehnens zueinander für das ganze Leben getrennt sein zu müssen, so lebensnotwendig ist diese Trennung für Dich wie für mich. ...

zwingen mich, für einige Monate nach Capri zurückzukehren, und zwar in allernächster Zeit. Diese Rückkehr macht mir Dein Verhalten gegen mich unmöglich!

27. 1. 13  Beckmann im Tagebuch:

Am Morgen hat der Meister noch einen Zusatz zu dem Briefe an Frau Last diktiert und liest dann, um seinem Sohne Helios antworten zu können, dessen letztes an ihn gerichtetes Schreiben vor. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, mit Worten den Eindruck wiederzugeben, den dieses Schreiben auf mich gemacht. Selten hat mich etwas so erschüttert und bis in die tiefste Seele berührt. Es ist mir, als höre ich den Schrei eines Ertrinkenden, ja mehr: Ein wollender Sohn, ein Kind, das nichts sehnender wünscht, als seinenVater mit der innigsten Kindesliebe zu umfangen, fleht um die Beweise väterlichen Vertrauens, um den Ausdruck seiner Gegenliebe bei einem Vater, dessen Herz und Seele überschwellen nach dem Verlangen, den Sohn als solchen in die Arme zu schließen und an die väterlich fühlende Brust zu drücken. ... Den Weg zur Vereinigung zu finden, das kann nur die Aufgabe des Meisters sein. ... (72) ... Ein wrmer Händedruck, ein sich in die Augen schauen, ... und nur die wenigen Worte: "Mein Sohn! Du sollst an meiner Liebe nicht zweifeln!", das würde hier mehr vermögen, als die beste und eingehendste Erklärung des tragischen Verhältnisses.         (KB 31, S.73)

 

28. 1. 1913      Dfb schreibt einen 15seitigen Brief an Helios:

Helios! Dein mir herunter gesandtes Schreiben bestätigt mir ... daß Du ... gegen mich weiter rasest, wie seither. ... Frau Bogler, welche gleich mir entsetzt  und empört ist über die Handlungsweise Spauns ... lehnt die Erfüllung meiner an Sie gerichteten Bitte, zur Rettung Stellas und ihrer Kinder dieser das Resultat ihres 2 1/2 Monat langen Aufenthaltes in ihrer Familie brieflich vorzustellen, mit der Begründung ab, zwischen Eheleute dürfe und könne kein Dritter sich einmischen  (79f.) ... Inzwischen gab ich Beckmann und Graser Anweisung, die Vorräume meiner Werkstätte zu einem Wohn- und Schlafzimmer für sie einzurichten sowie zur Aufstellung der von Neapel herüber-gebrachten 32 neuen Gemälde, zu räumen.(81) ... Du scheinst keine Kenntnis davon zu haben, daß Drießen von seinem Vater auf falsche Denunziation des Münchener Polizeipräsidenten im Verein mit dem dortigen Universitätsrektor unter brutaler körperlicher Mißhandlung und sonstigem Zwange mit Gewalt von meiner Seite gerissen  und gezwungen wurde, in Berlin unter Aufsicht seines älteren Bruders seine medizinischen Studien zu beenden und den Doktortitel zu erwerben; daß Drießen dort dem fanatischen Einfluß des Theosophen Dr.Hübbe-Schleiden, welcher in seinem Wahnsinns-fanatismus auch verhängnisvoll an Deiner Entreißung von mir beigetragen und das treulose Verlassen des "Fidus" gegen mich bewirkt hat, nicht blos irre an mir sondern irre am Leben sowie an der Menschheit gemacht wurde, sodaß dieser von seiner blühenden und strahlenden Apostelgestalt zu einem grämlichen asketisch ausgehungerten Jammerbild wurde und sich in solcher Verzweiflung am Leben bei ener Leichensektion absichtlich verwundete, mit Leichengift infizierte und daran nach einigen Tagen starb, worüber mir mit Namensunterschrift drei seiner Studienkollegen öffentliche Zeugenschaft zu meiner Verteidigung gegen die von Drießens Eltern sowie von mir gehässigen Zeitungsschreibern wider mich erhobene Anklage der Verschuldung seines Todes anboten. ...

Daß dieser kraftstrotzende Jüngling, der in sorgenlosen äußeren Verhältnissen leben konnte, auf solche Weise und so schnell zugrunde ging, beweist, daß er mit seinem Geist und mit seiner Seele von meiner klaren Lebens-Erkenntnis, Lebens-Betätigung und Lebens-Bejahung durch den theosophisch-buddhistischen Wahnsinn einer Lebensverneinung zur Vermeidung weiterer irdischer Wiedergeburten und zur raschesten Erreichung des "Nirvana" entrückt und "verrückt" gemacht worden war. (82f.) ...

Wenn Graser seither fast nur Lilli in der Küche geholfen hat, das Essen für uns zu bereiten, was ebensogut durch eine schwächere Hilfskraft geschehen könnte, so lag das nur daran, daß ich ihn mangels einer Dunkelkammer nicht mit photographischen Arbeiten derart beschäftigen konnte, als für mein künftiges Schaffen und Streben erforderlich ist (85)                                                       (Tgb 31)

16. 2. 1913  Dfb an Lucidus in Grünwald, Villa Ceconi:

Dein Schreiben vom 23. XII. traf mich nach 5monatlicher Abwesenheit von Capri ... Am 5.August flüchtete ich weg von hier, Helios ein Schreiben zurücklassend mit der Erklärung, daß es mir unmöglich sei, noch länger eine solche Gegenstellung gegen mich zu ertragen ... Nach einem mehrtägigen Aufenthalt in Palermo nach Neapel zurückgekehrt ... Ich nahm meine vor 3 Jahren abgebrochenen Schritte zur Erwerbung Baias wieder auf. In noch nicht übergebenen Räumen der neuen Universität fand ich auf Empfehlung des Erbauers derselben (Prof. Lomonaco) eine Asyl-Werkstätte, in welcher ich ... einen Cyclus großer Gemälde zur Darstellung meiner Baupläne begann  ... Die zügellose Laster- und Verbrechen-Betätigung von Nietzsches Satz: "Jenseits von Gut und Böse" von Seite Spauns, die Billigung und Unterstützung solchen Wahnsinn-Treibens von Seite Stella's und die Erziehung ihrer Kinder in diesem Geiste, statt in dem meinigen, wozu Stella mir ihre Kinder zuführen wollte ...

Am 23ten Dezember kehrte ich ... nach Capri zurück ...

Stella gibt auf mein noch in Neapel an sie gerichtetes  und ihr dort persönlich übergebenes Schreiben zur Warnung vor dem Abgrund, den sie mit ihren Kindern in ihrem blinden Folgen des Nietzsche-wahnsinnigen Spaun entgegentreibt, ebenfalls keinerlei Antwort und hat nebst ihren Kindern meine Schwelle seit meiner Rückkehr hierher nicht betreten.

In solcher Lage gehe ich dem Beginn meines 63ten Lebensjahres entgegen!

(Tgb Nr.31, S.143-145)


13. 3. 1913 
Eugen Beckmann kommen Zweifel, weil so viele kostbare Zeit mit endlosen Schreibereien vertan und damit dem künstlerischen Schaffen entzogen wird. Anzeichen von Enttäuschung.(Tgb 31, S.235ff.)

Die Meeresbilder drücken nach den wenigen Stunden, die der Meister auf ihr Ausreifen verwenden kann, eine immer reichere Poesie aus. Auch die Bilder des Mädchens mit der Schlange reifen zu immer höherer Vollendung aus. ... Am 3. 3. kam Helios, dem ich ausrichten sollte  (236) … herunter und machte seinem Vater Vorstellungen ... Gläubiger ... Hinausschieben der Wechsel erreicht ...(237) ... Der Schlaf flieht ihn und er sucht den Martern der Schlaflosigkeit durch Lesen oder ... Schreiben zu begegnen. (238) ... Am 13. 3. teilt Graser dem Meister mit, daß er in den nächsten Tagen fort wolle. ... die augenblickliche pekuniäre Schwierigkeit ... (238) Die Briefe an die Käufer seiner seitherigen Gemälde sollen möglichst bald abgehen. Meister ist überzeugt, daß sie sicher 50 000 Mark einbringen als Vorauszahlung für Gemälde, an deren Vollendung er gegenwärtig arbeitet, welches Geld zur Erreichung Baias zur Beseitigung der augenblicklichen Mißstände ausreicht. (239) ... Zum anderen habe sie (Stella) aber auch der letzte Aufsatz in der "Vegetarischen Warte" zurückgehalten, in der man die Schuld an dem Vorkommnis mit der Mina Symanzik nur ihrem Mann zuschiebe. (240)

Paul mit Familie wohnte in der Villa Ferraro, ganz in der Nähe der Villa Camerelle. Dfb hatte dieses Haus für 20.000 L. gemietet, nachdem ihm die Casa Grande mit 50.000 L. Miete zu kostspielig geworden war. Daraufhin erniedrigte der Besitzer der Casa Grande seine Forderung auf 30.000 L. - und Dfb behielt beide Häuser. Der monatlich aufzubringende Geldbetrag blieb sich also gleich. – (Fridolin von Spaun)

21. 6. 13  Dfb aus Sorrento, Hotel Lorelei: Wie durch eine Himmels-Fügung gab mir der Besuch von M. von Soldatencow und besonders M. von Tschelischeff die Möglichkeit, Capri für einige Zeit zu meiner Erholung zu verlassen ... Da alle meine Vorstellungen seit 20 Jahren nicht vermocht haben, Dich jenem Banne zu entziehen, der Dein wie mein Leben verrwüstet, so bleibt zu unserer beiderseitigen Rettung nichts anderes übrig, als unsere Lebens-Trennung. Ich stelle es Dir anheim, Dir entweder in gänzlicher Loslösung von mir eine eigene Existenz zu gründen oder nur äußerlich getrennt von mir eine permanente Ausstellung meiner Gemälde in Paris zu schaffen und zu leiten, welche Dich wenigstens in innerer Verbindung mit mir zu erhalten vermöchte.  (424) ...

An Mina müssen vor Ablauf des Monats 100 L. geschickt werden; wenn möglich auch die gleiche Summe für deren Schwester bis ich auf andere Weise dafür sorgen kann.                    (Tgb 31, S.426)

2. 7.  Dfb an Madame Olga Tschellisheff, Villa Siracusa:

... umarmt sie im Geiste das "Ungeheuer" und der Narr von Capri Dfb. - Nachsatz für Helios: ... Ich werde so lange hier bleiben, bis Du Capri verlassen haben wirst. Mit blutendem Herzen Dein Vater

7. 7.  Dfb aus Sorrent an Emilie Hexamer, Bad Kreuznach: Mein Leben ist in Gefahr und das meines unglücklichen Sohnes Helios.

7. 7.  Vor 3 Wochen bin ich hierher vor dem nicht mehr ertragbaren Rasen meines zum Werkzeug der Rache des Weibes gegen mich suggerierten Sohnes geflüchtet. Am gleichen Tag verließ mich mein Sekretär Beckmann mit seiner Frau, der die seit einem Jahr miterlebte Tragödie nicht mehr mitanzusehen vermochte.  A l l e i n , ohne jede Pflege und Hilfe ...

5. 8. 13              Heute vor einem Jahr bin ich vor der rasenden Brutalität meines Sohnes Helios gegen mich von hier weg nach Palermo geflüchtet. ... Eröffnung Selas, dass sie wohl als Seelenfreundin, nicht aber als Weib an meine Seite treten könne .... Heilung ihrer kranken Schwester [Tannenberg] durch ihren Anschluss an mich ... beschloss ich, Schafheitlin zu besuchen ... Leipziger Lehrerin, Marie Schede, 48 Jahre alt ... Mme Claparède aus Genf ... Polifem ... Arco-Naturale ...

3. 12.   Tagebuch: Als 33jähriger Mann wärest Du [Helios] in meinem Geiste ein "Christus", ein Erlöser der Menschheit geworden, wie ich Dich im Bilde meines Wohnraums dargestellt, im Geiste Deiner Mutter ... ein Jammerbild!                                                                           (Tgb Nr.31, S.857)

3. 12.   33. Geburtstag von Helios. Dfb erinnert sich der Einzelheiten der Geburt (in München 1880).

 (Tgb 31, S.855)

6. 12. Tagebuch: Da ich wieder seit mehreren Tagen nicht mehr an der Luft war und ich nicht zu befürchten brauchte, Helios auf der Straße zu begegnen (!) begleitete ich Sela bis in die Nähe ihrer Wohnung.                                                                                                            (Tgb Nr.31, S.873)

7. 12.  Tagebuch: Daß Helios mit demselben Schiff zurückgekommen, erfuhr ich durch Graser ... Erst am Tage der Abreise Helios' nach Ägypten werde ich aufatmen, einen Tagesausflug über den Monte Solaro ...                                                                                                              (Tgb Nr.31, S. 877)

10. 12.             Tagebuch: daß Helios bei jeder Zusammenkunft äußere, er müsse mit mir persönlich das Unternehmen für Kairo besprechen, andernfalls sei dasselbe unmöglich. Sie habe ihm darauf erklärt, daß jede seiner Begegnungen mit mir mich derart aufrege, daß ich unfähig  werde zum Reden und zum Arbeiten ... er habe dies versprochen, aber nicht gehalten. ... daß er ein schwacher Charakter und jetzt so leidend sei, daß auch ihn jede Begegnung mit mir aufrege und zur Heftigkeit verleite ... halte sich auch Abels seit einigen Tagen von ihm fern.  - Welch' heillose Situation!        (Tgb Nr.31, S.897)

11. 12.             Tagebuch: Gegen 5 Uhr Sela mit der Abels ... Sie (Abels) fühlt sich elend, übermüdet, unfähig mit Helios weiter zu verhandeln. Sein Rasen lähmt Alle. Ich müsse direct mit ihm verkehren.

                                                                                                                       (Tgb Nr.31, S.899)

Mein Kunstschaffen seit 38 Jahren! Und dabei solche Kritik meiner Rückständigkeit gegen "Fidus"! Es ist zum Wahnsinnig-Werden! ... Sela versprach, heute morgen wiederzukommen. Ja, ich "verbrauche viele Menschen"! - Mir drehte sich alles u mich. ich ließ mir durch Graser die Schuhe wechseln, den Wintermantel umhängen und suchte, gestützt auf seinen Arm, Erholung im Freien von der Höllenmarter meines Hauses. Ein großartiger Himmel - Nachsonnenuntergang und spiegelglattes Meer ließ mich den Weg zur Piccola marina und über die ... neehmen. Allein mit ... zu Bett!

                                                                  (Tgb Nr.31, S.900 - letzte Eintragung von der Hand Dfbs!)

15. 12. 13  Stirbt an Darmkrebs. Überführung des Leichnams auf einer Barke nach Neapel. Einäscherung in Rom. Urne im 2.Weltkrieg verschwunden.

15. 12. 13  Telegramm von Helios an Frl. Schede, Leipzig:

= 6 uhr unser vater ist uns entschlafen seine seele bleibt ewig mit uns = helios diefenbach. (LZ)