Im Rollstuhl auf die Kampenwand


Pfingsten 1889

[Durch den] Besuch eines ihm in innerster Seele treu ergebenen armen Weibes [Maximiliane Schlotthauer, genannt Maja], welches vor zehn Jahren die teuflischen Ränke der nachmaligen "Frau Diefenbachs" [Magdalene Atzinger] von seiner Seite weggedrängt hatte, sowie eines ... Mannes [wurde dem kranken Diefenbach] die Möglichkeit zu einem, wenn auch nur kurzen Aufatmen in reiner Bergesluft geboten. Auf seinem dreirädrigen Krankenfahrstuhle ließ er sich, begleitet und unterstützt von jenen beiden Besuchern, durch einen vorgespannten starken Ochsen und einen das Tier führenden Bauernknecht von Aschau am Chiemsee in abenteuerlicher, oft lebensgefährlicher Fahrt während der Nacht vor Pfingsten den schmalen Zickzackweg bis zu den zerklüfteten Felsschroffen der hohen Kampenwand bringen, um von jener Höhe aus, auf welcher er zehn Jahre früher einen ganzen Sommer in weltentrückter Einsamkeit zugebracht ... wieder einmal das majestätische Schauspiel der aufgehenden Sonne zu genießen.

Friedrich von Spaun

Wikipedia

'Pfingsten auf der Kampenwand'.

In: Traunsteiner Nachrichten vom 26. August 1889

Diefenbach war am Freitagmittag in Begleitung eines Herrn und einer Dame (beide in eleganter Modekleidung) nach Aschau gekommen. Er ging gestützt auf seinen Schirm und den Arm des Herrn zu Fuß, während die Dame den mit einem großen Pack Wolldecken, Rucksack und eleganter Reisetasche beladenen dreiräderigen Krankenfahrstuhl schob.

Nach einer Bettruhe von einigen Stunden bei der "Brander-Mutter" bestieg er nachts halb 12 Uhr seinen Krankenwagen; diesen führte ein starker, mit dem Tiere und dem Bergweg vertrauter Knecht, während der Herr und die Dame abwechselnd den leicht gebauten Wagen von hinten lenkten. Die Dame [Maja], welche dieses verantwortliche Amt zuerst übernahm, übersah in ihrem wohl noch schlaftrunkenen Zustande und der trotz Mondschein stellenweis herrschenden Dunkelheit ein Hindernis, so daß der Wagen mitsamt Diefenbach und allem Gepäck umschlug, glücklicherweise ohne daß sich der "Meister" verletzte.

Durch den bald untergehenden Mond und das Erlöschen des unzulänglichen Laternenlichtes wurde das Verbleiben Diefenbachs in seinem Wagen für ihn lebensgefährlich und seine Begleiter suchten ihn zur Rückkehr zu bewegen; doch vergebens. Allerdings verließ er den gefährlichen Sitz in dem Wagen und übernahm die Lenkung desselben, wodurch zugleich eine aufwärtsziehende Unterstützung seiner schwachen Kraft zuteil wurde. Als mit der Dämmerung des Tages gegen 2 Uhr die Gefahr des Absturzes nicht mehr zu fürchten war, und die seine Kräfte übersteigende Anstrengung ihn erschöpft hatte, bestieg er wieder den Wagen, der nun unter angespanntester Aufmerksamkeit und Anstrengung seiner drei menschlichen Begleiter und des Ochsen glücklich um 4 Uhr morgens die Höhe erreichte. Der Anblick des großarig schönen Sonnenaufgangs über den Wassern des "bayerischen Meeres" belohnte auch die Begleiter für ihr treues Aushalten bei dem kühnen Meister.

Letzterer verblieb den ganzen Tag über auf der Höhe des Berges, der an jenem Tage vor Pfingsten noch nicht von anderen Leuten bestiegen wurde. Die darauf folgende Nacht brachte er mit seinen zwei Begleitern ... in der Hütte der Steinlingalpe, zunächst der Kampenwand zu. Hier war ein gutes Heulager bereitet und für den leidenden Meister sogar eine gute Roßhaarmatratze vorhanden. Nach einer ruhsamen Nacht und frugalem Frühstück wurde unter Führung des starken Bergbewohners, welcher Diefenbach seinen kräftigen Arm lieh, die Sattelhöhe der Kampen-"Wände" erstiegen und längs der mit Schnee erfüllten ungeheuren Klüfte eine große Strecke der langen Kampenwand geklettert. Nach mehrstündiger Ruhepause auf der ins Freie gelegten Matratze und gehaltvollem Mittagessen - der Rucksack war mit "Diefenbachbrot" gefüllt - führte der Meister seine Begleiter zu der kaum von Touristen betretenen Alm am Fuße der Göderer-Wand, wohin er sich vor neun Jahren "mit einem Weibe, das ihn pflegen wollte", zur Ruhe und Erholung von der Welt zurückgezogen hatte. Die Erinnerung an jene Zeit und das fürchterliche Verhängnis, was in Folge jener "Pflege" ihn bis zu seinem jetzigen Elend niederdrückte, bewegte ihn tief. Wehmütig nahm er von diesem weltverborgenen, für ihn so verhängnisvoll gewordenen Fleck Erde Abschied. Seine treuen Begleiter halfen ihm zur Erhebung seines Gemüts und zur Erreichung der Spitze des Sultenbrand genannten Berges. Hier lagerten sie zu mehrstündiger Ruhe, während drüben auf dem Reitwege zur Kampenwand große Scharen von Pfingstausflüglern emporstiegen. Nach der Rückkehr zur Steinling-"Alm", die malerisch zwischen kolossalen Felsblöcken erbaut ist, genossen Diefenbach und seine Begleiter das großartige Schauspiel der hinter der weiten Ebene untergehenden Sonne, deren letzte Glut der Inn und der stille Simsee widerspiegelten.

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