Der grüne Horst der Biosophen
„Zivilisation" führt zur Erdumwälzung. Stehen wir vor einer Naturkatstrophe?“ So schrieb Ernst Ostweg 1932 in seiner Zeitschrift ‚Utopia‘. Welcher Utopie jagte er nach? Der Untertitel seiner Zeitschrift sagt es: dem Traum von einem natürlichen Lebensbau. Wir würden heute sagen: dem Traum von einer ökologischen Wirtschafts- und Lebensordnung. Ostweg war ein kämpferischer Verfechter der sogenannten Lebensreform, die er zugleich mit Sozialreform gleichsetzte. Er hieß eigentlich Waldemar Rafalowitz, nannte sich aber als Schriftsteller und Verleger Ernst Ostweg. Vermutlich in Parallele zu Karl Ernst Osthaus, dem Kunstsammler und Gründer des Folkwang-Museums, dem seine Vorbilder Ernst Fuhrmann und Max Schulze-Sölde wesentliche Anstöße verdankten. Beide hatten einst im Folkwang-Museum gearbeitet, wo der Schriftsteller und Biologe Hugo Hertwig zu ihnen stieß.
Der Historiker Ulrich Linse schreibt in seinem Buch ‚Barfüßige Propheten‘, „daß Ostweg von jenem Flügel der Nahrungs- und Lebensreformbewegung kam, der nach dem Ersten Weltkrieg ‚sehr konform mit den Anfängen der kommunistischen Bewegung in Deutschland‘ ging. Ostweg hatte in einer Seitengasse des Berliner Alexanderplatzes [wo um diese Zeit auch Gusto Gräser sich aufhielt; H. M.] eine kleine Kellerdruckerei aufgebaut. Dort stellte er hauptsächlich Prospekte für Reformhäuser und für die Reformindustrie her. Ab 1925 erschien dort die linke Jugendzeitschrift ‚Der Strom‘ und der ‚Strom‘-Kreis druckte bei Ostweg auch verbotene Flugblätter der kommunistischen Partei; nach der Machtergreifung Hitlers lieferte Ostweg der Partei illegales Werbematerial. Ab 1932 gab Ostweg in seinem ‚Strom‘-Verlag die ‚Utopia Zeitschrift für natürlichen Lebensbau‘ heraus, über die er die Biosophie Ernst Fuhrmanns verbreiten wollte.
Im Umkreis von Ernst Ostweg, seinem Ideenlieferanten Hugo Hertwig und Schulze-Sölde, der Ostwegs Frau, Kind und Hund in der Grünhorster Siedlung unterbrachte (wofür sich Ostweg in der ‚Utopia‘ mit Reklame für Grünhorster Vollkornbrot und Frischgemüse revanchierte), trafen sich unterschiedlichste Strömungen der undogmatischen Linken. Da war die Gruppierung um den von Franz Jung unter der Schriftleitung des jungen Harro Schulze-Boysen illegal herausgegebenen ‚Gegner‘ (Franz Jung hatte schon an dem 1919-1922 von Julian Gumperz und Wieland Herzfelde legal herausgegebenen ‚Gegner‘ mitgearbeitet). Einige Mitglieder der Schriftstellergruppe des ‚Gegner‘ hatten bereits in freiwilligen Arbeitslagern Erfahrungen gesammelt. Sie alle vereinte die Ansicht: „Der Weg nach Innen muß beschritten werden“ (Hugo Hertwig). Dann waren da die Anhänger des Biosophen Ernst Fuhrmann, dessen Gedanken sowohl für den ‚Gegner‘ wie für ‚Utopia‘ entscheidend waren.“ (Linse: Barfüßige Propheten 151)
Die meisten der hier Genannten lebten in Berlin, auch Gusto Gräser. Artur Streiter hatte dort einen Stützpunkt, Schulze-Sölde hielt dort seine Vorträge und Gertrud Gräser brachte regelmäßig ihre Grünhorster Erzeugnisse nach Berlin, um sie dort zu verkaufen: Eier, Vollkornbrot und Gemüse. Biologisch angebautes selbstverständlich, d. h., ohne Kunstdünger und Spritzmittel.
Mit anderen Worten: Wir haben hier die kleine, nur lose verbundene Gemeinschaft der ökologisch Denkenden in Berlin vor uns, die zugleich auf Sozial- und Kulturreform zielten. In der Siedlung Grünhorst, die zeitweise Gertrud und Heidi Gräser, Henry Joseph, Max Schulze-Sölde und Irma Leidig, Artur Streiter und Erna Körte, Waldemar Rafalowitz mit seiner Frau, Otto Großöhmig und auch Gusto Gräser umfasste, hatte diese Berliner Gruppierung ihr Praxis-Modell vor Augen. Hier trafen sie sich mit Gesinnungsfreunden, mit Wandervögeln, Lebensreformern und freien Sozialisten. Maßgeblich und prägend waren für diese „Grünhorster“, wie sie zusammenfassend genannt werden sollen, die Ideen des Biologen Ernst Fuhrmann, der christrevolutionäre Idealsozialismus von Schulze-Sölde und das Vorbild des taoistisch gestimmten Gusto Gräser. Wie aus den Tagebüchern und Schriften von Artur Streiter zu entnehmen ist, boten, neben der Lebensreform, Nietzsche, Tolstoi und Gandhi den geistigen Hintergrund. Der biologisch-ökologische wie der idealistisch-philosophische Einschlag ihrer Weltanschauung ist mit dem Wort „Biosophie“ nicht schlecht, wenn auch unzureichend bezeichnet. Als „Hauptstadt“ dieser frühgrünen „Bewegung“ diente, neben den Zellen Antikriegsmuseum und Ostweg-Druckerei in Berlin, die winzige Siedlung Grünhorst, ein Landgut 30 Kilometer vor Berlin, eine fruchtbar gemachte Insel zwischen Wald und Moor.
Handelte es sich da um eine Landkommune oder um eine Künstlersiedlung? Beides zugleich. Denn Sölde, Streiter, Gusto und Gertrud Gräser waren Schriftsteller und Dichter; Sölde, Streiter und Gräser zugleich auch Maler und Grafiker. Man wird fragen, ob dieses Reformprojekt auch in seiner künstlerisch-literarischen Produktivität mit dem Monte Verità vergleichbar sei. Wo sind denn die kulturellen Leistungen der Grünhorster zu finden?
Dazu muss vorweg gesagt werden, dass dieses Pionierprojekt durch die Naziherrschaft zerschlagen wurde. Fuhrmann, Jung und Paetel retteten sich ins Exil, Schulze-Boysen wurde hingerichtet, Streiter und Großöhmig wurden ins KZ gesteckt, Henry Joseph zwangsweise in ein Bergwerk, Sölde und Gräser zogen sich not- und zwangsgedrungen aus der Öffentlichkeit zurück. Die Biosophen wurden mundtot gemacht.
Dennoch haben Schriften und Erinnerungen überlebt. Sie liegen vor in dem kaum überschau-baren Riesenwerk von Ernst Fuhrmann, in den Schriften von Streiter, Sölde, Karl Otto Paetel und anderen und in den Dichtungen von Gusto und Gertrud Gräser. Ihre Werke sind durch den Terror der Diktatur größtenteils unbekannt und ungedruckt geblieben. Sie ans verdiente Tageslicht zu fördern, muss unsere Aufgabe sein. Denn, um mit den Worten Gusto Gräsers zu sprechen: Grünhorst war, wie Monte Verità, ein „Festort der kommenwollenden Gartenzeit“.
Die Hütte von Artur Streiter im Roten Luch - Urzelle für Grünhorst.
Buch von Ernst Fuhrmann, 1930 erschienen, 1986 neu
aufgelegt.