Zurück
Rolf Engert, Silvio Gesell in München 1919

Zurück

Mit Gesell in der Zell

Gusto Gräser in der Münchner Revolution von 1919

Der Schauspieler und Regisseur Rolf Engert, von der Philosophie Max Stirners geprägt und ein begeisterter Leser der Schriften von Silvio Gesell, begibt sich im Mai 1919 nach München, nachdem er erfahren hat, daß Gesell zum Volksbeauftragten für Finanzen in der ersten bayerischen Räterepublik berufen worden ist. Er möchte ihn, den er persönlich noch nicht kennt, in seiner Arbeit unterstützen. Bis er dort ankommt, ist jedoch sowohl die erste wie die zweite Räterepublik bereits gestürzt, Landauer erschlagen, Gesell und seine Mitarbeiter mit Hunderten anderer, darunter auch Gusto Gräser, verhaftet. Engert bemüht sich nun, mit Gesell Kontakt aufzunehmen, seine Lage zu erleichtern und seine Verteidigung zu organisieren. Seinem selbstlosen Einsatz gelingt es tatsächlich, für Gesell und seinen Mitarbeiter Dr. Christen die Freilassung und den gerichtlichen Freispruch zu erreichen.

Eines Tages kommt Gusto Gräser zu ihm und erzählt, daß er erst mit Dr. Christen, dann mit Gesell in der selben Zelle gesessen habe. Gräser will Gesell helfen, der zu dieser Zeit noch in Haft ist. Gesell seinerseits unterstützt Gräser aus der Zelle heraus mit einer Geldgabe, die dieser zur Drucklegung seines Flugblatts 'Not ruft zur Reinigung' verwendet. Nach der Freilassung von Gesell legt er diesem seine Flugschrift vor, findet aber wenig Verständnis. Gleichwohl verbindet menschliche Sympathie, gemeinsame Not und lebensreformerische Überzeugung diese kleine Gruppe politisch Verfolgter: den ehemaligen Finanzminister Silvio Gesell, den Schweizer Arzt und Mathematiker Dr. Theo Christen und den Dichter und Naturpropheten Gusto Gräser. Nach wenigen Wochen des Zusammenseins werden Gräser und Christen im Sommer 1919 aus München ausgewiesen. Auch Silvio Gesell, obwohl vom Standgericht einstimmig freigesprochen, verläßt die Stadt.

Ihr Freund und Verteidiger Rolf Engert hat seine auf Dokumente gestützten Erinnerungen in den Jahren 1948-50 in Dresden niedergeschrieben. Sie wurden erst 1986 in der Bundesrepublik gedruckt. Die Niederschriften von Engert sind zum besseren Verständnis der Zusammenhänge eingefügt in eine Zeittafel der Ereignisse im Frühjahr und Frühsommer 1919.


Zeittafel zu Gräser in München 1919

nach den Angaben von Rolf Engert in dem Buch:

'Silvio Gesell in München 1919'


30. Dez. 1918

Gräser schreibt aus Zürich an Hermann Hesse:

Daniel ist mir ein lieber Kamerad - hat den Dr. Advokat an den Nagel gehängt, um ohne diese Schutzvorrichtung den innigen Menschen besser festigen, reinigen zu können. Augenblicklich ist er für kurz in München.

Ich bin nun hier - kam, weil mir Ascona ohne Kameraden betrübend wurde und um mit Hilfe der Bücher hier die Sprüche soweit fertig zu schreiben. Nun bereit ich mich, um dem Ruf nach Deutschland gut, also baukräftig gesammelt, folgen zu können. (LW 60 f.)

Der Gräserfreund Alfred Daniel hat in München Verbindungen zu Enst Toller, Georg Schrimpf, Oskar Maria Graf, Pegu (Paul Guttfeld), Landauer und Hans Koch. (MVA)

März 1919


Gräser hat sich bei dem Maler Georg Schrimpf einquartiert. Dessen Freund Oskar Maria Graf kommt zu Besuch:

"Mensch, was hast du denn da für ein Ungeziefer bei dir?" fragte ich ihn auf der Treppe.

"Ich bring ihn nicht mehr los", war die Antwort [von Schrimpf].

"Was? ... Schmeiß ihn doch einfach hinaus!" rief ich.

"Heut' abend hat er eine Versammlung ... da gehn wir alle hin", erzählte mein Freund statt jeder Antwort. (Graf 464f.)


1. April

Gräser redet in München über 'Kommunismus des Herzens'. Aufruf zu Gewaltlosigkeit. Die Versammlung wird von Graf, Schrimpf und Genossen gesprengt.

Vom Geist der Gewaltlosigkeit fing der Apostel an.

"Ach was Geist! Schnaps brauchen wir!" schrie ich lausbübisch. ...

"Jawohl! Diktatur des Proletariats!" sekundierten einige am Tisch. Schon stimmten die anwesenden Spartakisten bei. Die Wandervögel gurrten wütend, die Jungfern und Mädchen zischten gehässig.

"Nieder mit der Natur! Es lebe die Technik!" schrie mein Zimmerherr. "Spartakus marschiert."

"Wir sind keine Menschen mehr -", rief Gräser, das andere ging unter. (Graf 468)


3. April

Gräser wird von Schrimpf und Graf auf die Straße gesetzt.

Gräser kam, und wir fingen an, ihn zu verspotten; grob, gemein und absichtlich verletzend stichelten wir auf ihn. Er murmelte bloß ab und zu ein sanftes Wort.

"Also, bitte, Natur! Natur, Herr Nachbar! Morgen bitte Lager nehmen im Englischen Garten!" sagte ich zuletzt fast drohend, und endlich gingen wir. Erst nach zwei Tagen räumte Gusto Gräser das Feld. Man sah ihn in der Stadt herumlaufen. Stets verfolgte ihn ein Rudel Kinder. Wir erfuhren, daß er sich in einem Ziegenstall eingenistet hatte. (Graf 469)

Er findet Zuflucht in einem Schuppen der Künstlerpension Fürmann.

"Herr Fürmann war nämlich viele Jahre im Ausland gewesen und hatte kühne Abenteuer bestanden: nun übertrug er einen Teil seines abenteuerlichen Wesens auf seine Pension, die früher ein Pferdestall gewesen war, und brachte auch die dazugehörige Musik mit. Es war alles genial, bohèmehaft, und doch war man bei ihm aufgehoben wie in Abrahams Schoß." (Hollweck 94)

Der Besitzer hatte ein Konglomerat ursprünglich ländlicher Gebäude mit eigener Hand für seine Zwecke umgestaltet und Scheunen in Schlafkabinen eingeteilt sowie den Stall in einen ebenerdigen Speisesaaal verwandelt. Bewohner waren die ausgefallensten Erscheinungen. (Brandenburg 250)

"Daneben aber hatte er auch einen geräumigen Gemüsegarten angelegt, wo neben allen Früchten der Jahreszeiten auch der üppige Rhabarber wuchs, das Hauptingredienz der berühmten, nach Geheimrezepten gebrauten Fürmann-Bowle. Dazu kam ein Ziegenstall, eine Gänsezucht und ein Hühnerhof..." (Wilhelm 89)


In diesen Stall und seinen Garten zog nun Gusto Gräser ein. Daß er dort auch seine Kinder unterbringen wollte, war für seine Lebensgefährtin der letzte Anlaß, sich endgültig von ihm zu trennen.


4. April


Gräser in Pension Fürmann angemeldet. Er schreibt dort sein Flugblatt:

Not ruft zur Reinigung

Herzhafter, du bist berufen!

. . . . .

Not ruft zum Heil. Der Wahre gehorcht. ...

Durch, durch die Lohn-Religion führt er uns in sein Urgewohn,

wo er mit uns im Wandel weilt, uns vom Wahne des Habens heilt.

Durch, durch die Lohn-Revolution führt er uns aus des Elends Fron,

hebet uns aus Schlaraffenneid in dornrosige Wirklichkeit ...

Gleich wie durch Adern strömt das frohrote Leben walln unsre Wandrer

auf der Pfade Gewirk als unser Blut, unser fleissiges Blut ...

bringen und tragen der Freundschaft köstliche Früchte -

Boten der Freude, rennen sie durch das Land.

Wandern in Wonnen und wohnen im Wandern,

rühren das Eine in allem Andern -

wirken das Werk, das heilige Werk,

nimmer erklärt, immer bewährt -

wirken das Herzwerk,

die

REINIGUNG

*

Arthur im Garten

München

Belgradstrasse 57


7. April


Die Räterepublik wird ausgerufen. Silvio Gesell zum Finanzminister ernannt.

Ernst Niekisch ... war es auch gewesen, der ...sich in der Sitzung des Zentralrates vom 5. auf den 7.April, dessen Vorsitzender er war, zusammen mit Gustav Landauer und Erich Mühsam dafür einsetzte, Gesell die Finanzen zu übertragen. Das war dann auch, als Gesell am 7.April nichts ahnend in das Wittelsbacher Palais kam, geschehen. (E 68)


13. April


Auf Betreiben der rechtsradikalen Thule-Gesellschaft gegenrevolutionärer Putschversuch unter dem Stadtkommandanten Seyffertitz. Gesell mit Christen und Polenske verhaftet. Ende der ersten Räterepublik.

In der Nacht vom 12. zum 13. April, dem Palmsonntag des Jahres 1919, werden in verschiedenen Münchner Wohnungen die Türen eingetreten. Seyffertitz-Leute sind unterwegs, um führende Männer des Zentralrates aus den Betten zu holen und festzunnehmen. Dreizehn Personen, davon acht Vertreter des Zentralrates, werden festgenommen. Unter den Verhafteten ist Erich Mühsam [und Silvio Gesell mit seinen Mitarbeitern Dr. Christen und Professor Polenske]. (Wilhelm 66)


14. April

Von Räteanhängern aus dem Gefängnis befreit.

Als sie in der Nacht zum 14. April von Rätenanhängern aus dem Gefängnis befreit wurden, setzten sie sofort eine Protesterklärung gegen ihre Verhaftung auf: "Wir bitten aber auf das Dringlichste, uns in unserer Arbeit nicht mehr zu stören." (Seligmann 386)

Ausrufung der kommunistischen Räterepublik.

15. April

Gesell und Christen von den Kommunisten abgesetzt.

"Gesell hat sein Amt übernommen", so führte er [Rechtsanwalt Gundelwein vor dem Standgericht] u.a. aus, "nicht im Interesse einer Regierung oder einer Partei, sondern einzig und allein im Interesse der bayrischen Volkswirtschaft ... Er hat nur den friedlichen Wettstreit der Arbeit gewollt. ... Die Kommunisten haben Gesell nicht brauchen können, sie haben ihn schleunigst abgesetzt." (E 69)


17. April

Gesells Mitarbeiter Prof. Polenske verläßt München. Er wird von der Regierung Hoffmann in Schutzhaft genommen. In der Haft schreibt er ein Lustspiel: 'Zehn Tage Rätefinanzminister'. (E 73)


26. April


Telegramm von Jul Glemser an Auguste Forel:

"Die Kinder Gräser in Askona in höchster Geldnot. Bitte sofort 500 frs oder mehr hinschicken. Erklärung folgt." (MVA)


27. April

Gesell und Christen besuchen Landauer, der in Großhadern bei der Witwe von Eisner wohnt.

Landauer trat ein. Noch mehr als sonst erschreckte mich die Hohlheit seines Gesichtes, die, zusammen mit seiner hageren Figur, in sonderbarem Gegensatz zu dem dichten, dunkelbraunen, etwas mit Grau durchsetzten Haupthaar stand, das ihm bis zu den Schultern reichte. Er bekannte sich als chronisch darmleidend, und ich machte ihm energische Vorwürfe über sein unvernünftiges Zigarettenrauchen, womit er den Rest seiner körperlichen Widerstandskraft vollends untergrub. Er lächelte müde, und ich sah, daß er nicht mehr die Kraft hatte, die Tabaksklaverei abzuschütteln, wußte auch, daß ich einen Todgeweihten vor mir hatte. (E 56)


27. April

Kaffeekränzchen bei Engert am Sonntagnachmittag: Silvio Gesell, Theo Christen, Gustav Landauer, die Frauen von Eisner und Mühsam.

Und so hatten wir denn am Sonntagnachmittag eine richtige revolutionäre Gesellschaft beisammen: Gesell, der den Kapitalismus erwürgen will; Landauer, der manchen Kreisen als 'Anarchist' gilt, weil er, gleich Gesell, einen weitgehenden Abbau der Staatsbureaukratie für unerläßlich hält; Frau Eisner, die schon von Geburt aus sozialpolitischen Kreisen stammt und durch den Tod ihres Gatten ein besonderes Relief erhalten hat; endlich Frau Mühsam, deren Mann, der bekannte Kommunist Erich Mühsam, anläßlich des Putsches vom 13. April entführt wurde und in die Hände der Bamberger fiel. ...

Landauer schien müde und angegriffen. Offenbar bereitete ihm neben seinen körperlichen Leiden der Gedanke an den bevorstehenden Zusammenbruch der Räteregierung Sorge. Er rechnete auch damit, von der Regierung Hoffmann ins Gefängnis gesetzt zu werden ...

Das war das letzte Mal, daß ich Landauer sah. (E 57)


28. April


Jul Glemser schreibt aus Göppingen an Prof. Auguste Forel, Yvorne/Schweiz, und bittet ihn um Hilfe für die Gräserkinder in Ascona:

Seit 3 oder 4 Wochen ist der Mann [Gräser] in München, die Frau allein in Stuttgart. Sie geht in die Paläste und Hütten. ... O, solche Männer und Frauen sollten wir in Deutschland mehr haben, die durch ihre ganze Erscheinung laut zeugen gegen Mammonismus und Materialismus und gegen jede Selbstsucht. Nicht nur durch Wort und Rede ...

Doch die Kinder müssen Geld bekommen. Die Mutter will doch auch wieder und zwar bald nach Ascona. Wenn die Schulden nicht bezahlt werden, dann schieben sie die Kinder einfach über die Grenze, und die Mutter darf gar nicht mehr in die Schweiz. ... Aber Sie wissen: Gusto Gräser trägt keinen Stempel irgendeiner Gemeinschaft - leicht versagen sich solchen "Einheriern" die im Heerhaufen Marschierenden. (MVA)


1. Mai


Vorstoß der Weißgardisten nach München.

Noch in der Nacht zum 1.Mai rückt der "Panzerzug 22" gegen das völlig im Dunkeln liegende München vor. Der erste Vorstoß mißlingt. Der Zug wird von Rotgardisten an der Hackerbrücke abgefangen und durch Artilleriefeuer bewegungsunfähig gemacht. Ein zweiter "Panzerzug 25" greift ein und nimmt nun seinerseits die Hackerbrücke unter Beschuß. Der Einsatz eines dritten Panzerzuges bringt die Entscheidung. (Wilhelm 87)


2. Mai,

Freitag


Einmarsch der Weißgardisten.

Nachdem ein Großteil der Stadt München schon fest in der Hand der Angreifer ist, wird der allgemeine Einmarsch der weißen Truppen von Generalleutnant Oven auf den 2.Mai 12 Uhr vorverlegt. An diesem Tage werden auch die letzten noch bedeutenden Stellungen der Verteidiger in Giesing, am Karlsplatz und am Hauptbahnhof endgültig eingenommen. ... Jeder, der verdächtig erscheint, wird mitgenommen oder gleich an Ort und Stelle erschossen. Das Standrecht gilt. Manch Unschuldiger büßt für eine Verwechslung oder falsche Anschuldigung mit seinem Leben. Der Willkür ist Tür und Tor geöffnet. (Wilhelm 89-91)



Unter Hunderten auch Silvio Gesell, Dr. Christen und Gräser verhaftet (E 33); Gesell und Christen bald darauf kurzfristig wieder freigelassen.

"Freitag den 2. Mai, als die Straßenkämpfe noch mitten im Gange waren, wurden wir am frühen Nachmittag in unserer Wohnung verhaftet. Ein Soldat führte Gesell ab, ein anderer mich. Durch die Beethovenstraße wurde geschossen" (Tagebuch Dr. Christen; E 33). - Aus dem Tagebuch Dr. Christens ersah ich ... später, daß Gusto Gräser schon zuvor auch mit diesem die Zelle geteilt hatte. ... : "Der andere Leidensgenosse war ein typischer Naturmensch ... gut gewachsen, mit einem schönen Johannes-Täufer-Kopf ... im Herzen eine Diogenes-Seele." (Tgb. Christen; E 46)

Landauer wird in Stadelheim erschlagen.

"Es war am 2.Mai. ... Gegen 1 1/2 Uhr. Unter Schreien: 'der Landauer, der Landauer!' brachte ein Trupp bayrischer und württembergischer Soldaten Gustav Landauer. ... Im Hof begegnete der Gruppe ein Major in Zivil, der mit einer schlegelartigen Keule auf Landauer einschlug. Unter Kolbenschlägen und den Schlägen des Majors sank Landauer zusammen. ... Da Landauer immer noch zuckte, trat ihn der Vizewachtmeister mit Füßen zu Tode." (E 57)


7. Mai

Der Regisseur und Schauspieler Rolf Engert kommt 11h abends in München an. Am andern Tag sucht er nach Gesell und dessen Mitarbeitern. (E 33)


4. Mai,

Sonntag

Gesell und Dr. Christen sind zum zweitenmal verhaftet worden.

Wir fanden Dr. Christens Wohnung verschlossen, die Rolläden herabgelassen, der Briefkasten quuoll über von eingelaufener Post, und wir glaubten schon, Gesell und Christen hätten München doch noch rechtzeitig verlassen und sich so einer Verhaftung entzogen. Wir suchten die Hausmeisterin, und nach einigem Sträuben und verschiedenen Ausflüchten gab sie uns schließlich zu, daß beide vor vier Tagen - also Sonntag, den 4. Mai - verhaftet worden wären und sich wahrscheinlich im Polizeigefängnis befänden. (E 33)


8. Mai


Rolf Engert schickt einen Gruß an Gesell in Zelle 25 des Polizeigefängnisses. Ebenfalls in der Zelle: Gusto Gräser. Er war schon am 2.Mai mit Dr. Christen zusammen in die selbe Zelle gesteckt worden (E 35). Christen befindet sich inzwischen nicht mehr im Polizeigefängnis, sondern in der Militärarrestanstalt an der Corneliusstraße (E 36).

Jetzt berichtete er [Gräser] mir, daß er, ebenfalls verhaftet, mit Silvio Gesell in der gleichen Zelle gesessen habe und Zeuge des Eintreffens meines ersten Grußes an ihn gewesen wäre. Gusto Gräser konnte nicht genug Gesells liebevolles, geradezu väterliches Verhalten ihm gegenüber rühmen und faßte schließlich, da er nun einmal ein Freund solcher Wortspielereien zu sein schien, seine Gefühle für ihn in die Worte zusammen: "Er ist ein 'Gesell'!" So wünschte er denn mit mir in Verbindung zu bleiben und sich zu beteiligen, wenn es irgendetwas zur Erleichterung seiner Lage oder gar seiner Befreiung aus der Haft zu unternehmen gälte. (E 45f.)


9. Mai

Engert kann Gesell besuchen (E 36f.). Er überbringt Lebensmittel und Mitteilungen auch an Dr.Christen (E 37).


10. Mai

Tagebucheintrag von Dr. Christen:

Trotz Eckermann und Dr. David wird das Gefängnisleben mit der Zeit unerträglich. .... Dort hinter der Mauer des Gefängnishofes steht eine mit leichtem grünen Flor übergossene Zierpappel. Sehnsüchtig heften sich meine Augen an die spärliche grüne Farbe in der Höhe ... (E 43)


11. Mai

Tagebuch Dr. Christen: "Dr. E. [Engert] schickt ein Paket." (E 42)

14. Mai

Engert kann Christen sprechen.

Am 14. Mai gelang es endlich, auch ihn zu sprechen. ... Wir erkennen Dr. Christen schon von weitem nach dem Bilde und geben uns ihm unsrerseits zu erkennen. Er ist ein kleiner, zarter Mann mit schönen, großen Augen und steiler, geistvoller Stirn, ein nervöses Zucken geht von Zeit zu Zeit durch sein Gesicht. Das unstet Flackernde des Blicks fällt mir bei ihm wie bei Gesell auf, ich deute es mir als eine Wirkung der Haft. Er leidet sichtlich sehr unter dem Zellenleben. (E 42)

Engert zieht in eine Pension in der Schellingstraße.


Ca. 16./

17. Mai


Gräser ist wieder frei und besucht Rolf Engert in der Schellingstraße. Er möchte Gesell, den er hoch schätzt, helfen. (E 45)


Ende Mai


Die bayrische Regierung verordnet, daß alle seit 1914 in München zugezogenen Ausländer ausgewiesen werden sollen.

"Um das Maß der Bedrängnis voll zu machen" - wie sich Dr. Christen in seinem Tagebuch ausdrückt -, erschien Ende Mai in der 'Staatszeitung' eine Verfügung, wonach alle seit 1914 zugezogenen Ausländer in München vor dem 1. Juli in ihre Heimat zurückbeordert wurden, - sie galten samt und sonders, wie es damals hieß, als 'lästige Ausländer'. (E 52)

Zu diesen "lästigen Ausländern" gehörte mit Dr. Christen und Rainer Maria Rilke auch Gusto Gräser.


16. Mai

Nach Angaben des Generalkommandos Oven vom 16. Mai 1919 sind in München wegen Waffenbesitzes 77 Deutsche und 58 Russen erschossen worden. ... 180 Menschen wurden infolge von Beschuldigungen von Standgerichten zum Tode verurteilt und hingerichtet. (Wilhelm 93)


Ende Mai?


Gräser ein zweites Mal verhaftet und alsbald wieder auf freien Fuß gesetzt. Jetzt ist ihm die Ausweisung aus München angedroht.

Übrigens war Gusto Gräser inzwischen schon wieder ein zweites Mal verhaftet worden und - alsbald wieder auf freien Fuß gesetzt - drohte ihm wie schon kurz vorher aus Stuttgart nun auch die Ausweisung aus München. Durch einen Freundeskreis, der sich ihm in letzter Minute erschloß, wurde dann dieses Mißgeschick doch noch glücklich von ihm abgewendet und seine Existenz in München für einige Zeit einigermaßen gesichert. (E 47)


31. Mai

Gesell nach Stadelheim verbracht. Einzelhaft.

In Stadelheim war Gesell alsbald in Einzelhaft gekommen, wonach er sich sehr gesehnt hatte. "Ich habe nun eine Zelle für mich allein! Welche Wohltat! Kein Tabakqualm, kein ödes Gespräch, Einsamkeit!" (E 54)


Juni

Mehrere Treffen Engerts mit Gräser. Dieser will Gesell im Polizeigefängnis besuchen.

Im Laufe der nächsten Wochen traf ich noch mehrmals mit Gusto Gräser zusammen, ging ich eines Tages mit ihm gemeinsam die Ludwigstraße hinunter dem Polizeigefängnis zu, wo er Gesell sprechen zu können hoffte. Unterwegs trafen mich von den Vorübergehenden befremdete und wohl auch mitleidige Blicke, daß ich - selbst in so ganz anderer, 'normaler' Kleidung - mich mit einem Mann in solch einem Aufzug öffentlich zeigte. (E 46)

Engert übergibt eine größere Summe von Gesell an Gräser, der damit sein Flugblatt 'Not ruft zur Reinigung' drucken läßt.

Nach einiger Zeit hatte ich ihm im Auftrag Gesells eine etwas größere Summe auszuhändigen. Sie sollte ihm eine eventuelle augenblickliche Notlage leichter überstehen helfen. Aber Gusto Gräser war Idealist genug, sie für einen viel höheren Zweck zu verwenden. Er ließ davon ein großes Gedicht unter dem Titel: "Not ruft zur Reinigung", mit dem er schwanger ging und sich vielleicht schmeichelte, schicksalwendend in die Entwicklung der Zeit eingreifen zu können, auf die ihm gebräuchliche Art in seiner großen schwungvollen Handschrift lithographisch vervielfältigen. Zuvor schon hatte er mich zusammen mit meiner Frau in seine Behausung eingeladen, um es mir vorzulesen und mein Urteil darüber zu hören. Er bewohnte - wahrhaft ein moderner Kyniker - in einem Villengrundstück am Rande eines schönen Obstgartens einen ihm von den Bewohnern zur Verfügung gestellten elenden Schuppenraum voller Gerümpel, wo er auf einer völlig derangierten Chaiselongue ein mehr als dürftiges Lager hatte. (E 47)


Seine Ausweisung aus München wird durch das Eintreten eines Freundeskreises in letzter Minute abgewendet - aber nur für kurze Zeit. (E 47)


9. Juni

Christen ist im Gefängnis schwer erkrankt und muß operiert werden (E 60). Danach entlassen.

Mitte Juni


Gesell wird gegen Kaution ebenfalls aus der Haft entlassen (E 62). Gräser zeigt ihm sein Flugblatt.

Als Gesell später aus der Haft entlassen war, wurde Gusto Gräser zusammen mit noch ein paar anderen eines Nachmittags zum Kaffee in Christens Wohnung eingeladen. Stolz und freudestrahlend überreichte er Gesell sein Opus, das auf ein dickes gelbliches Blatt von Riesenformat gedruckte Gedicht. Gesell, der damit nichts Rechtes anzufangen wußte, wendete es hierhin und dorthin. Schließlich äußerte er sein Bedauern, daß es auf beiden Seiten und nicht einseitig bedruckt war; denn sonst hätte man es, seiner Meinung nach, an die Litfaßsäulen anheften können. Der Verfasser nahm die sich darin äußernde leise Ironie wohl nicht so ganz wahr. (E 47)

Ende Juni

Gemeinsame Mittagstische mit Engerts in vegetarischen Restaurants.

Das Mittagessen wurde in diesen Tagen von uns meist in einem vegetarischen Restaurant eingenommen. Denn wenn Gesell auch von sich erklärt hat: neben einem Beefsteak werde er nicht verhungern und in Gegenwart allzu doktrinärer Abstinenzler sich gern aus Opposition ein Glas Bier bestellte -, so neigte er doch mit seinem Wesen - schon sein jahrelanges Wohnen in der Obstbau-Siedlung Eden bei Oranienburg drückt dies ja aus - einer lebensreformerischen Haltung zu, und Dr. Christen, der als Arzt die verheerenden Folgen des Alkoholismus und einer Eiweißüberfütterung aus nächster Nähe kennengelernt hatte und wußte, daß sich ihre Auswirkungen auch weit bis in das wirtschaftliche Gebiet hinein erstreckten, hatte Alkohol und Fleischgenuß gänzlich abgesagt.

Zu diesen Mittagstischen fanden sich nun auch zuweilen manche Persönlichkeiten aus Dr. Christens Bekanntenkreis hinzu. Für einen Nachmittag wurden einige von ihnen ... und, wie schon erwähnt, Gusto Gräser zum Kaffee eingeladen. An den Abenden wurde ab und zu musiziert, entweder von Dr. Christen allein oder zusammen mit meiner Frau. ...

So rückte allmählich Mittwoch, der 9. Juli heran, auf den für 15.30 Uhr, wie uns fast gleichzeitig mit Gesells Haftentlassung bekannt gemacht worden war, das Standgericht den Verhandlungstermin festgesetzt hatte. (E 63)


9. Juli

Verhandlung des Standgerichts gegen Gesell wegen Hochverrats (E 63ff.).

Kurz ehe wir zur Standgerichtsverhandlung aufbrachen, erklärte Gesell, der noch ein wenig geruht hatte, mit großer innerer Gelassenheit: "Was würde ich tun, wenn ich an Levinés Stelle wäre - ? Ich würde mich weit außerhalb der Erde auf einen Stern versetzen und betrachtete von da aus die Erde und sähe sie so klein, so klein und alles, was auf ihr vorging; und es berührte mich nichts".

Dann machten wir uns gemeinsam auf den Weg. ... Am Sendlinger Tor war ein großer roter Fleck auf dem Pflaster, der wie Blut aussah. Gesell umging ihn. Ein Mann, den wir zuvor dafür gedungen hatten, verkaufte hier meine Verteidigungsschrift, die als kleine Werbeschrift im Druck erschienen war, und rief sie aus. "Silvio Gesell - Finanzminister der Räterepublik! Seine Verteidigung vor dem Standgericht!" klang es immer wieder an unser Ohr.

Wir bestiegen die Straßenbahn und fuhren zum Mariahilfplatz, wo im dortigen Amtsgericht auch die Verhandlung gegen Leviné stattgefunden hatte. "Leviné hat Maria nicht geholfen", sagte Gesell, als wir ausstiegen. ...

Gleich nach Erhebung der Anklage durch den Staatsanwalt, die gegen Silvio Gesell lautete, er habe es "gemeinsam mit anderen unternommen, die Verfassung des Bundesstaates Bayern gewaltsam zu ändern", und gegen Dr. Christen und Prof. Polenske, "dem Silvio Gesell zur Begehung des erwähnten Verbrechens durch die Tat wissentlich Beihilfe geleistet zu haben", erklärte Silvio Gesell ... : "Die Revolution denke ich mir nicht darin", führte er aus, "daß man den König absetzt und dann sagt: wir sind ein Volksstaat. Der Volksstaat muß sich erst einleben. Die Revolution ist ein Entwicklungsprozeß. Wir werden vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren davon reden können, daß die Revolution beendet ist. Und vielleicht muß die ganze jetzige Generation aussterben, bevor von einem Volksstaate gesprochen werden kann" ...

Die Frage des Vorsitzenden, ob er sich über die Gewaltsamkeit der Umwälzung klar gewesen? gab ihm sodann noch die Möglichkeit, sein Verhör mit einem Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit zu schließen:


"Ob der Landtag mit Gewalt beseitigt oder von selber gegangen ist, weiß ich nicht. Ich bin ein absoluter Gegner jeder Anwendung von Gewalt, und weil ich glaube, daß durch die falsche Steuerung der Wirtschaft das ganze Unglück über uns gekommen ist, glaubte ich auch auf diesem unblutigen Wege eine Versöhnung herbeiführen zu können." ...

Der Staatsanwalt beantragte ... die Angeklagten wegen der bezeichneten Verbrechen zu verurteilen ...

Ihm entgegnete Rechtsanwalt Gundelwein in einer schwungvollen Verteidigungsrede ... "Dreißig Jahre hat sich Silvio Gesell gegen die Allmacht des in der Reichsbank und in ihrer Goldverehrung verkörperten Kapitalismus gestellt, hat er mit seiner Lehre nach dem Hochziel gestrebt, die Selbständigkeit, die Selbstverantwortung, das Eigentumsrecht zu stärken und zu vertiefen, eine Hochzucht, einen Wettstreit zu schaffen, ohne rohe Kräfte, in friedlicher Betätigung in Industrie und Kultur, in Wissenschaft und Gesetzgebung, im geselligen Leben. Diesem hohen, echt faustischen, deutschen Ziele stehen die beiden Hauptformen der heutigen Wirtschaftsordnung: der Kapitalismus und der Kommunismus gleich hemmend im Wege: der Kommunismus, der den Wettstreit mehr oder weniger vollkommen aufhebt, und der Kapitalismus, der seine Bedingungen verfälscht... Jetzt galt es vor allem, die Papiergeldflut, gegen die er seit Kriegsbeginn mit der Reichsbank gekämpft, nach Möglichkeit einzudämmen. ... Die Eigenschaften, die diese beiden Männer in sich vereinigt haben, die allein vermögen unserem armen Vaterlande wieder aufzuhelfen." ...

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. ... Auf dem Gang vor dem Sitzungssaal hörte man aus einem der benachbarten Säle, in dem zu gleicher Zeit gegen Erich Mühsam verhandelt wurde, dessen Stimme schreien und - wie es schien - seine Richter ungeheuer herausfordern. ...

Nach überraschend kurzer Beratung erschien der Gerichtshof wieder und der Vorsitzende verkündete das Urteil: es lautete - einstimmig gefaßt - auf kostenlosen Freispruch. (E 64-72)

25. Juli


Gräser in Pension Fürmann abgemeldet. Wandert nach Konstanz. Er hatte sich offenbar nicht um die Verordnung gekümmert, die Ausländern die Ausreise bis zum 1.Juli vorschrieb. Daraufhin muß ein Ausweisungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden sein, dessen Urteil am 7. August im Bayrischen Polizeiblatt veröffentlicht wurde.

Spätsommer

1919

Der Diefenbach-Enkel Fridolin von Spaun, der von ihm gehört hat, will ihn in Sipplingen am Bodensee besuchen, trifft ihn aber nicht mehr an. Gräser wandert über Balingen und Urach zu seinen Freunden im Schwäbischen Wald.



Quellen:

Brandenburg, Hans

München leuchtete. Jugenderinnerungen. München 1953.

Engert, Rolf

Silvio Gesell in München. Erinnerungen und Dokumente aus der Zeit vor, während und nach der ersten bayerischen Räterepublik. Hannoversch Münden 1986. (= E)

Graf, Oskar Maria

Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis. München Wien Basel 1965.

Gräser, Gustav A.

Nachlaß im Deutschen Monte Verità Archiv Freudenstein. (= MVA)

Hollweck, Ludwig

Von Wahnmoching bis zur Traumstadt. Schwabinger erzählen von Schwabing. München 1969.

Müller, Hermann

Gusto Gräser. Aus Leben und Werk. Knittlingen 1987. (=LW)

Seligmann, Michael

Aufstand der Räte. Grafenau-Döffingen 1989.

Wilhelm, Hermann

Dichter, Denker, Fememörder. Rechtsradikalismus und Antisemitismus in München. von der Jahrhundertwende bis 1921. Berlin 1989.