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Gustav Naumann, Vom Lärm auf dunkeln Gassen, 1907

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Im Übergang zur Prophetenrolle

Auszüge aus Gustav Naumann:

Vom Lärm auf dunkeln Gassen

Roman

Berlin 1907

Gustav Naumann (1866-1944), ehemals Verleger Nietzsches und Kommentator von dessen ‚Zarathustra’, war nach harten Auseinandersetzungen mit Elisabeth Förster-Nietzsche aus der Verlagsarbeit ausgeschieden und Helfer in dem Landerziehungsheim Haubinda im Harz geworden. Dort empfing und beherbergte er um 1905 mehrmals Gusto Gräser. Von diesen Begegnungen erzählt er in einem Roman, der 1907 bei S. Fischer erschien. Er selbst tritt dort als „Fritz Weber“ auf, Gräser unter dem Namen „Blütner“ oder „ der Evangelimann“.



Es war Sonntag nach Ostern. Noch frische Kühle in der Luft, doch schon warmes Sonnenlicht auf den Matten, und viel Vorschmack von Blütenglanz und Vogelzwitschern ringsumher. Fritz hatte das Fenster geöffnet, in dessen Nähe er saß und schrieb, um diese guten Dinge noch besser zu genießen, als er von der Straße her einen Kinderlärm vernahm, der näher zu kommen schien. Er stand auf und trat vor. Er sah einen ungewohnten Aufzug. Ein wunderlicher Heiliger kam des Weges, begleitet und gefolgt von vielen Knaben und Mädchen und einigen Frauen. Nicht als ob sie ihn geradezu verspottet hätten. Sie lachten und schwatzten ihm aber doch mit aufdringlicher Neugier nach. Das Bild erinnerte an den Durchzug einer Gauklertruppe durch eine Dorfstraße. Nur sah der voranschreitende Fremde trotz seiner abenteuerlichen Tracht zu ernst und würdevoll für einen Jahrmarkts-Wundermann aus.

Er schritt in einem braunen, kragen- und ärmellosen Gewand, halb Mantel, halb Rock. Er fiel ohne Knopf- oder Heftelreihe bis über die Knie herab und war an den Seiten verkürzt, damit die Bewegung der Arme nicht gehemmt sei. Unter diesem Umhang trug der Reisende eng anschließende Beinkleider. Über den Knöcheln hatte er sie mit Schnüren zugebunden. Den Rest der Kleidung bildeten Sandalen, mit leichtem Riemenwerk unter die nackten Füße befestigt, und ein mehrfach zusammengewundener Strick, der reifenartig um die obere Stirnhälfte und das lange, lockig herabfallende Haar des Hinterhauptes gelegt war. Die Hand hielt eine kleine lederne Reisetasche und einen Wegstecken; offene, gesund gerötete, von braunem Vollbart um-rahmte Gesichtszüge vollendeten das Bild eines zwar unzeitgemäßen, aber ehrlich gesinnten Schwärmers und Wanderpredigers. –

Fritz merkte bald, wie sich der Fremde vom kleinen Buben, der ihm mit drolliger Neugier und Wichtigkeit als Hauptführer diente, nach dem Schulhaus weisen ließ. Da er noch nicht recht wußte, wie er sich einem solchen Besucher gegenüber zu stellen habe, trat er rasch durch das Schulzimmer zur Haustür vor, damit sich die Begegnung vor deren Schwelle vollziehe. Schon sah er den Ankömmling grüßend vor sich stehen. „Sie sind der Lehrer, Fritz Weber.“ – „Ja.“ – Der Fremde bot ihm die Hand. „Ich heiße Blütner, und komme, weil ich Ihnen einen Gruß und einen Brief zu bringen habe. Deshalb habe ich diesen Umweg gemacht.“

Während dieser wenigen Worte hatten sich die Kinder und Frauen vor der Türe zum staunenden Halbkreis gereiht. Fritz sah ein, dass hier nicht gut weiter zu verhandeln sei. Auch wäre es jetzt unhöflich gegen den Fremdling gewesen, das Gespräch im Türrahmen fortzusetzen. So bat er den Reisenden, näher zu treten, und führte ihn in sein Zimmer. Der Fremde lehnte seinen Stab an eine Schrankecke, ließ sich auf dem dargebotenen Stuhl nieder und begann sogleich, eine lange Blechhülse von seiner Reisetasche zu lösen. Dabei sah er sich um, musterte auch Fritz, der ihn ebenfalls aufmerksamen Auges betrachtete. – „Sie kommen von Italien, nach Ihrer leichten Kleidung zu schließen?“ – „Nein, aber ich will nach Italien gehen.“ - „Sie haben doch nicht meinetwegen einen weiten Umweg gemacht?“ – „Ich versäume nichts! Sie sehen schon am Gewand, an dem Sie hoffentlich nicht Anstoß nehmen, daß ich mehr meinem Wandertrieb als bürgerlicher Geschäftigkeit lebe. In der guten Jahreszeit nächtige ich meist im Freien. Im Winter freilich bin ich auf Gastfreundschaft angewiesen. Und so verzeihen Sie mir die Frage, ob ich für die kommende Nacht eine Zimmerecke und eine Wolldecke bei Ihnen finden würde? Ich muß mich einrichten, ehe es zu spät ist.“

Fritz zögerte, doch nur einen Augenblick. „Warum nicht? Die Ecke und die Decke sind vorhanden.“ „Schön, ich danke. So werde ich Ihnen mit umso größerer Ruhe erzählen können, wie ich Hans getroffen habe. Da ist sein Brief für Sie.“

Er hatte mittlerweile aus seiner Blechhülse einen geschlossenen Briefumschlag hervorgezogen und reichte ihn Fritz herüber, weitere Blätter wickelte er sorgfältig wieder zusammen und versorgte sie neu in der Hülle. (S. 184-186)

Fritz las den Brief bis zu Ende … sah auf die Uhr: „Ich möchte die Antwort noch heute zur Post tragen. Wann und wie sind Sie nach Thalkirchen gekommen?“ – Zu Fuß, wie nach Oberdorf. Heute morgen.“ – „Dann fordere ich Sie nicht auf, nochmals mit hinabzugehen. Aber einen Imbiß darf ich Ihnen zusammensuchen. Sie verzehren ihn, während ich schreibe. Und während ich hinuntersteige, richten Sie sich bei mir ein, wie Sie es gewöhnt sind. Auf dem Brett dort finden Sie ein paar Bücher. Abends erzählen wir einander.“ –

Ich bin mit allem einverstanden, überhaupt gern jedem fremden Wunsch zu willen, so lange ich in der Hauptsache, in dem, meine ich, was mir Hauptsache ist, meinem eigenen Geschmacke folgen darf. Es stände besser um die Menschheit, wenn es mehr Jünger ihres Selbst gäbe.“ – „O weh!“ dachte Fritz, „er fängt schon zu predigen an. Nun, den einen Tag wird es sich ertragen lassen.“ –

Er setzte sich, nachdem er Brot und Milch aufgetragen hatte, nieder, seinen Brief zu schreiben, und trug ihn dann hinab. … Dabei konnte er seinen Evangelimann bis Thalkirchen herabbegleiten.

Der Evangelimann aber stellte andern Tags die Bitte, noch einen oder einige Tage verweilen zu dürfen. Schließlich ließ er die ganze Woche verstreichen, ohne an den Aufbruch zu denken. Fritz wunderte sich im stillen über dieses Gebaren, weil es der Bescheidenheit, die sein Gast sonst an den Tag legte, widersprach. Doch einstweilen sagte er nichts, zumal ihm der Fremde wachsendes Interesse einflößte. (189f.)

Was der Evangelimann im Hause des Schulmeisters trieb? Man könnte antworten: fast alles, - außer dem Schulen und Malen, - was sein Gastgeber unternahm. Er schloß sich Fritz auf den Wanderungen so oft als möglich an und ging selbst mit zum Pfarrer hinab, welcher sich wieder besser fühlte. Anfangs hörte er auch während des Unterrichtes zu, bis der Lehrer fand, dass diese Gegenwart die Schüler zerstreue, und ihn bat, wegzubleiben. Denn er sprach zuweilen zwischen. Seither ging er während der Schulzeit allein herum, fand sich aber zu jeder Mahlzeit pünktlich ein. Nachts schlief er auf der vom Nachbar geborgten Matratze. Etwas nützlich suchte er sich ab und zu auch zu machen, oder las aus den Gedichten vor, welche er seiner Blechhülse entfaltete: Verse, welche die Sonne, den Morgen, den Abend, die Ernte, ein Tal, einen Baum, oder Frieden und Freundschaft priesen und umschrieben. Sie klangen oft lieblich, waren aber bei genauerem Zuschauen ziemlich verschwommen und gedankenarm.

Fritz empfand seinen Besucher abwechselnd als leidbaren und als lästigen Gast. Lästig fiel er ihm besonders durch die Sorglosigkeit, mit welcher er seinen Aufenthalt beliebig zu verlängern trachtete, ohne je nach Störung oder Schuldigkeit zu fragen. Auch manche Eitelkeit und die unnötig gehäufte Wiederholung seiner im Grunde einfachen Lebensansichten, - sei schlicht, suche Schönheit, kehre dich nicht an die andern, streite mit niemandem, - waren nicht gerade bequeme Eigentümlichkeiten des Fremden. Andererseits aber blieb sein Besuch doch eine Abwechslung für Fritz, und als der Gast schon am zweiten Tage über das Zarathustrabuch geraten war und in ihm eifrig zu lesen begonnen hatte, kam alsbald ein lebhaftes Gespräch in Fluß, das wieder einmal das Wiederkunftsproblem betraf. Fritz freute sich bereits auf den Augenblick, da er seinen Gast in solcher Unterredung neben den Pfarrer stellen können würde.

Nietzsches 'Zarathustra' aus Gusto Gräsers Besitz

Allein Fritz täuschte sich. Der Pfarrer nahm den wunderlichen Heiligen zwar nicht ungefällig auf. Doch er mied es, sich in seinem Beisein in sachliche Erörterungen einzulassen. Und ein gleiches Verhalten beobachtete der Arzt. Einmal, als der Fremdling nicht mit zugegen war, fragte sie Fritz, warum sie in dessen Gegenwart zurückhaltender seien, als ihm nötig schiene. Zuerst nahm der Arzt das Wort: „Ich muß gestehen, ich finde Ihren Gast zu geschmacklos, als daß ich ihm meinen eigenen Geschmack zum besten geben möchte. Ich glaube, Ihnen selbst wird es bald ebenso ergehen.“ –

Nicht so rasch, hoffe ich. Seine Ansichten teile ich nicht. Sie sind mir zu weichlich für einen Mann. Wenn er auch nicht biblisches Christentum predigt, er macht mir mit seiner Ablehnung des Soldatenstandes, seiner Geringschätzung aller technischen Fortschritte und andern Einseitigkeiten doch einen allzu urchristlichen Eindruck. Bezeichnend ist, daß er auch als Poet die Worte, die mit hartem Laut beginnen, von vornherein nicht leiden mag. Stahl, Stein, Stock, Staat, Stadt, Stand, streiten, stehlen, strafen: starr seien sie auch der Bedeutung nach. Anders die Lippenlaut-Verbindungen: Pflanze und Blume, Blatt und Blüte…“ – „Und Blütner!“ fiel der Arzt mit raschem Spotte ein. – „Pfirsich, Pflaume, Flöte, Pfeife und Flocke und Flügel und Fließen und Flur. Fleiß, meint er, gehöre auch dazu. Einen rechten Fleiß habe ich aber doch noch nicht bei ihm wahrgenommen. Immerhin kleidet ihn sein Name ziemlich gut. Wie eine Blume auf dem Felde kommt er mir vor. Am liebsten erzählt er…“ – „Von sich selbst,“ unterbrach wieder der Arzt. – „ja, aber auch vom blauen See, von den Feigebäumen des Brudergutes und vom Kinder zu sich kommen lassen. Wie sollte man nicht an den Christus denken, der zwar nicht mehr der schlichte Zimmermannssohn, aber auch noch nicht der in das Volk hineingreifende Prophet war.“ – Er ahmt ihn ja sogar in der Tracht nach. Daß er solch hohen Wert auf sie legt, ist in meinen Augen der beste Beweis gegen ihn. Das Wichtignehmen dieser Äußerlichkeit ist ein Schneiderurteil. Und welche Eitelkeit liegt in seiner auffallenden Kleidung. Dabei würde sie dem Aposteltum des Trägers, falls er als öffentlicher Redner auftreten wollte, nur Schaden bringen. Meint er, wenn er die Augen auf sich zieht, würden ihm die Herzen leichter folgen? Dieser Mann erreicht durch seine Maskerade nur, dass ihm allenthalben mit um so größerem Zweifel begegnet, schlechterem Verständnis zugehört wird. – Er ist ein Narr!“ –

Warum gleich das harte Wort? Wir, die wir seine Ansichten nicht teilen, brauchen sein Fehlgreifen in den Mitteln nicht wichtig zu nehmen. Und dann: Ganz habe ich den Maler, meinen alten Adam, noch nicht ausgezogen. Denken Sie der Christusbilder, die uns den Heiland in schlicht-bäuerlicher Umgebung oder im Rahmen mittelalterlichen Bürgertums darstellen; freut es Sie nicht, etwas Ähnliches auch einmal mit Augen zu sehen? Und nicht als bloße Theaterverkleidung?!“ –

Ihre Malerfreude verargen wir Ihnen nicht,“ ließ sich der Pfarrer vernehmen. „Auch würde ich den Sonderling um seiner Eitelkeiten willen nicht allzuhart schelten. Wie manchen neuzeitlichen Eitelbold muß man in Kauf nehmen! Sie sagten vorhin, Ihr Fremder erschiene Ihnen wie ein Messias im Vorbereitungszustand, im Übergang zur Prophetenrolle. Ganz recht. Und eben dies ist es, was gegen ihn verstimmt. Wenn Herr Blütner sehen wird, dass ihm der erstrebte Einfluß versagt bleibt, wird der jetzt stille Mann dann nicht doch fanatisch werden? Die Fanatiker ohne klaren Gedankeninhalt sind die gefährlichsten.“ –

Nein, zum Eifern wird er immer zu heiter bleiben. Neulich hörte ich ihn ein treffendes Wort sagen: Mir gilt besser, mich lächerlich zu machen, als mich weinerlich zu zeigen. Und von einer Liedstrophe, die mit den Worten begann: Endlos fließen meine Tränen, meinte er, er könne sie nicht singen. Sie würde in seinem Munde ja niemals wahr sein. Damit erscheint mir ein sehr vorteilhafter Zug seines Wesens aufgedeckt. Er ist eine Frohnatur. Im Grunde also überhaupt kein Christ.“

Der Pfarrer legte Verwahrung ein, dass das Christentum als eine mit Notwendigkeit pessimistisch gestimmte Religion aufgefasst werde. Fritz widersprach, und damit lenkte das Gespräch einem allge-meineren Thema zu. (196-198)

Als ich den Fensterladen öffnete, sank der Mond hinter den Berg hinab. Ich hatte nach kurzem gesundem Schlaf seit morgens vier Uhr wach gelegen und mich wieder einmal glücklich gefühlt. Ich danke es wohl dem Frühling, der im Anzug ist. – Dann benutzte ich den schönen Sonntagsmorgen, mir mit meinem Evangelimann einen Lenzstrauß zu pflücken. Auf solchem Gange gefällt mir der Fremdling gut, mögen Pfarrer und Arzt sagen, was sie wollen. (200f.)

Es war föhnig; ich war wieder mit dem Evangelimann wandern gegangen. Wir zogen am See hin. Der Südwind jagte graue Regenwolken über uns weg. Nur da und dort ließ er ein Himmelsfenster offen, durch welches ein flüchtiger Sonnenblick herabhuschte. Auf der Seefläche warf der Wind unzählige Schaumkämme auf, trieb uns zur Augenweide sein Spiel mit ihnen. Die stilleren Buchten des Wasserspiegels glänzten in grünen und blaugrauen Lichtern. Mir ward warm, weich und wohl um das Herz. Auch ihm stahl sich ein Sonnenstrahl ein. –

Wieder im Aufstieg begriffen, rasteten wir an der windgeschützten Stelle, die Fünfeck heißt. Es war heiß geworden. Die Vögel sangen nicht mehr wie zuvor. Aber das Quellwässerchen raunte noch seinen gleichmäßigen Rauschesang. Zitronenfalter, Fuchs und Trauermantel und sonst allerlei schwirrendes Flügelgetier umspielten es ab-wechselnd. Das Rauschen des Quells im Ohr, den Harzduft in der Nase, das buntbewegte Bild des Insektenlebens vor dem Auge, einen Sonnenstrahlstreicheln auf der Hand, würziges Schwarzbrot auf der Zunge: etwas Rechtes für alle fünf Sinne! Und das Glück im Herzen. (202f.)

Nochmals vom Frühling im Oberdorf: Wir standen in der Nähe des Unterhofes. Wieder ging leichter Föhn. Der Blick über die zartbunten Waldungen hinab auf die märchengrün schimmernde Seetiefe mit ihren geschwellten Bootsegeln war schön. Schön war es auch, am kräftigen Erikarot der Bergschulter vorüber zu den Schneegipfeln über ziehendem Gewölk aufzuschauen.

Ein Taubenpaar kam geflogen, weiß und blaugrau, und ließ sich unser Brot in den Schnabel legen. Auch ein Bienchen summte heran, setzte sich auf des Evangelimanns Ärmel und wollte nicht fort. Man will noch viel zu wenig geliebt sein, wenn man nur Menschenliebe sucht. (204f.)

Der Schmerz über Ilses Verlust schien bei Fritz erst jetzt seinen tiefsten Ausdruck finden zu sollen. Die Dumpfheit der ersten Wochen, das Wegdenken der späteren Zeit machten einem helleren Besinnen Platz, welches die Nachtrauer voll auskosten wollte. Dazu brauchte Fritz Einsamkeit. Er machte sich kein Gewissen daraus, seinem Besucher zu sagen, daß er, als alter Freund des Alleinseins, wünsche, wieder einmal sich selbst überlassen zu bleiben. Und so zog der Evangelimann weiter, dem Bruder im Welschlande zu. (205f.)

Die Gunst der Stunde berührte sein Inneres, - Fritz wußte kaum, wie. Aber nicht als Maler fühlte er sich diesmal befruchtet, sondern als Poet. An viele Dinge dachte er, die alle zueinander wollten. An das Frühlingsglück um ihn her, das ihm seine Tiefen wieder einmal kräftig aufgerüttelt hatte. An das Wort des Arztes vom Klingen der Religionen, - Takte aus Beethovens Lied an die Freude fielen ihm ein. Auch Verse des Evangelimanns, die ihn wie hohepriesterlicher Lenzfestdank angemutet hatten. (222)

Fritz fragte sich, ob in irgend einer Zeit in der Tat Mitsommerfeste als Wiederkunftsfeste begangen werden könnten; wie möchte es dann zugehen, in Sang und Klang und Tanz? Ja, ob es nicht möglich wäre, mit den Kindern schon jetzt Ähnliches zu versuchen, - ohne offenkundigen Bezug auf die Wiederkunft freilich. Sein Planen ward rasch ein Dichten. Die passenden Melodien mussten sich finden. Sonst konnte auch hier der Arzt nachhelfen. Der Tanz aber musste schlicht und natürlich sein; alles musste sich leicht erreichen lassen, wenn nicht mit den Kindern allein, so doch vielleicht unter Mitwirkung der Sänger des Arztes. Wie der Evangelimann getan, wollte auch Fritz der Natur sein Dankopfer darbringen. (223)

Der Unterhofer hatte sich mit den stärksten Ausdrücken über Fritz beschwert, des Sohnes halber. Dann war die Rede undeutlicher geworden, nur einzelne Worte wie „Hilfslehrer“ waren verständlich geblieben. Zuletzt aber war, wieder in voller Schärfe des Stimm-klangs, die lange Bewirtung des Evangelimanns im Oberdorfer Schulhaus zur Sprache gekommen. Es sei unerhört, hatte der Unter-hofbauer gemeint, daß Fritz diesen Narren beherbergt und beköstigt habe. Der Fremde scheine zu den falschen Propheten zu gehören, die den Leuten einen neuen Glauben einreden wollen. Es scheine, auch der Lehrer gehöre schon einer solchen Geheimbündelei und sittenstörenden Schwärmervereinigung an. Daß er trotz seiner Kirch-gänge nicht kirchlich gesinnt sei, habe er selbst gesagt. Und nicht einmal christlich gesinnt sei er, man fühle es immer mehr heraus. Glaube er überhaupt an Nichts, dann eigne er sich nicht zum Lehrer. Glaube er an etwas anderes, dann erst recht nicht! (224)

Aus Mirabilien und Tagebuch.

Der Urgroßvater, der alles weiß,

Sprach von einem Ringelkreis;

Wir alle hülfen ihn drehen.

Das haben wir uns gleich gedacht:

Aus Nacht wird Tag, aus Tag wird Nacht;

So wird’s auch weitergehen. (226)


Einst wollte man Gott um des Menschen willen zu sehr Mensch sein lassen, erdichtete einen Märchengott. Dann ließ man den Menschen zu vorwitzig an das Firmament angipfeln, dachte Gott ergrübeln zu können. Und nun schiebt unser Bursche, nein, der junge Mann, auch den Katechismus beiseite. Unwirsch und undankbar. Er fühlt sich klein und kleinmütig, weil er gar nichts wissen kann. Er sieht die Sonne wieder so groß. Aber da ist etwas Merkwürdiges geschehen: sich vor der Sonne wieder kleiner fühlend, ist er doch größer geworden! Indem er das Nutzlose, Gott erbüffeln zu wollen, erkannte, hat er zwar den alten Gott verloren, aber einen neuen Zugang und eine neue Liebe zur Natur entdeckt. Jetzt ist ihm die Natur etwas ebenso Herrliches, wie der frühere Gott; jetzt greift er hier mit beiden Händen und allen fünf Sinnen zu. Wohl könnte er nun die Natur Gott nennen. Doch wozu? Indem der Mensch wieder bescheiden seinen Platz neben allen Bruder- und Schwesterwesen einnimmt, - und das ist nicht einmal unchristlich gedacht, Christus empfand es so, als er auf dem Berge vom Gottesreich in der Menschenbrust redete; der heilige Franz empfand es so, als er auf seinem Sterbelager seinen Sonnen-hymnus anstimmte; - indem der Mensch nicht mehr Krone der Schöpfung und Gottes Auserwählter heißen will, überkommt ihn neue Freude. Wie er sich der Natur hingibt, so gibt sich auch ihm die Natur. (232f.)

Zu dieser Zeit tauchte Herr Blütner, der Evangelimann wieder in Oberdorf auf. Überraschend traf er mit Fritz und dem Arzt zusammen, als beide an einer Waldlichtung lagerten. Die Natur feierte ihr Fest in Grün. Da trat er auf dem Fußsteig, der vom Tale heraufführte, zwischen den Bäumen vor. Sie erkannten ihn. Auch er ward rasch ihrer ansichtig und ging freien Schritts auf sie zu. Auf dem Kopfe trug er ein Laubkränzlein, so dass er eher wie ein Bacchant als wie eine Christusgestalt aussah. Schon aus der Entfernung hatte er lebhaft gewinkt; näher gekommen, blieb er stehen, rückte sich seinen Kranz zurecht und rief: „Die Menschen bekränzen sich zu wenig! Sie sollten das Lachen besser lernen. Bisher gab es nur Gelächter!“

Selbst dem Arzt gefiel diesmal der wunderliche Heilige. Seine Heiterkeit war die alte geblieben, und doch lag eine herbe Enttäuschung hinter ihm. Er hatte bereits in den ersten Tagen nach seiner Rückkehr zum Bruder einen störenden Streit durchlebt und einsehen gelernt, daß dort kein Bleiben für ihn sein werde. Kurz entschlossen, war er wieder umgekehrt, sich anderwärts einen Aufenthalt zu suchen. Zunächst kam er noch einmal an Oberdorf vorüber und schien willens, sich bei Fritz in der alten Weise zu Gast zu bitten. Fritz erklärte, länger als drei Tage werde er ihn gegenwärtig nicht beherbergen können. Dabei setzte er die Frist sogar kürzer an, als eigentlich nötig war, damit er sicher sei, dass sie auch eingehalten werde. Ohne Scheu entschuldigte er sich mit seiner wirtschaftlichen Enge. Die Pflege des Hans hatte ihm Kosten verursacht, auf die sein Haushalt nicht eingerichtet war. Das Gerede der Leute über seinen Besucher fürchtete er weniger. (265f.)

Der Evangelimann zeigte sich nicht verletzt. – In seinen Augen waren sie alte Bekannte, zwischen denen es keiner Förmlichkeit mehr bedurfte. Er blieb dann nicht einmal die gegebene Frist in Oberdorf. Aber auch schon sein verkürzter Aufenthalt genügte, ihn für des Lehrers Zukunft neue Bedeutung gewinnen zu lassen.

Der Zufall wollte, daß der Evangelimann am folgenden Tage noch einmal einer Unterrichtsstunde beiwohnte, daß aber am selben Tage auch der neu eingetroffene Pfarrer Thalkirchens in der gleichen Absicht heraufgekommen war. Er war nicht wenig erstaunt, eine so phantastische Gestalt im Klassenzimmer zu finden, und setzte sich bereits mit Missvergnügen nieder. Fritz selbst hatte schnell die Empfindung, daß mit dem neuen Seelsorger nicht der freund-schaftliche Verkehr zu haben sein werde, wie mit dem Vorgänger. … In der Tat war es kaum anders möglich, als daß der verordnete Kanzelredner angesichts des freien Wanderpredigers in einem ihm ungünstigen Lichte erscheinen mußte. Es kam Fritz vor, als ob ihm das große Bilderbuch des Lebens hier einmal ein besonders lehrreiches Blatt aufgeschlagen habe: utopistisches und offiziellres Christentum, gleichsam erster und letzter Christ saßen hinter den Schülerbänken dicht nebeneinander. Scheinbar friedlich; sie stießen sich aber doch recht hart im Raume. Unmöglich konnten sich religiöse Schwärmerei und kirchliche Gebundenheit, biblische Auslegung durch das eigne bedürfnislose Wanderleben und das Zehren vom Dogma durch gelehrte Exegese nebeneinander ganz wohl fühlen. Das Zusammentreffen war so eigenartig zugespitzt, daß Fritz der Gedanke durch den Kopf fuhr, der Zufall dieser Begegnung sei im Grunde zu geistreich, als daß man nicht den überlegenen Witz eines Personen und Umstände zurechtrückenden Weltordners dahinter vermuten sollte …

Allein der Zufall sollte noch ganz anders spielen! Als der Evangeli-mann und kurz darauf der Pfarrer eintraten, hielt Fritz gerade mit seinen ältesten Schülern die ihm durch den Lehrplan aufgenötigte Religionsstunde ab. Er hatte eben das Gleichnis von den drei Ringen aus Lessings dramatisierter Toleranzfabel vorgelesen und es zu behandeln begonnen. Dabei konnte nicht ausbleiben, daß, wie Nathan und Lessing, so auch Fritz selbst gleich Einem sprach, welcher die Selbstgefälligkeit eines vermeintlichen Wahrheitsbesitzes kräftig zurück- und zurechtweist. Und nun saßen auch noch jene beiden einander so entgegengesetzten Christen auf dem Schulbänklein vor ihm: Prophet und Professor!

Wollte er auch ihnen ein Licht, sein Licht aufstecken? Gewiß war dies eine Unschicklichkeit. Er selbst fühlte es, aber konnte er ihr aus dem Wege gehen? (267f.)

So schloß Fritz; und damit endete die Religionsstunde und der Unterricht. Der Pfarrer dachte bei sich: „Selbst wenn er recht hätte, er hätte sich sagen sollen, dass dies eben auch noch keine Wahrheit für die Jugend ist.“ Der Evangelimann aber meinte: „Was krittelt er da herum? Ich bleibe Nathans Meinung: wie einer lebt, das beweist mir, ob er mit seiner Lehre im Rechte ist, oder nicht.“

Fritz entließ die Schüler und fragte den Pfarrer, ob er ihn in sein Zimmer bitten dürfe. Der Pfarrer blickte auf den nebenstehenden Gast, und lehnte ab. Dieser merkte, daß er stören würde. Er verabschiedete sich daher und ging allein in die Stube.

Wohnt er bei Ihnen?“ – „Ja.“ – Der Geistliche fragte in der gleichen Richtung vorläufig nicht weiter nach, sondern rührte sogleich an das, was er im Unterricht gehört hatte. „Ihre Deutschstunde…“ – „Verzeihung, es war die Religionsstunde.“ – „Hm. Religion werden Sie auf diese Weise wohl nicht gerade gelehrt haben.“ – Ich glaube nicht, daß man sie lehren kann, - so wenig wie Sittlichkeit oder Kunst. … Der Christenglaube ist in beständiger Abnahme begriffen. Dafür wächst, - abseits des Christenglaubens, - das religiöse Gefühl.“ (270-273)

Als Fritz noch so dachte, trat der Evangelimann wieder an ihn heran, - reisefertig. „So rasch wollen Sie ziehen?“ fragte Fritz erstaunt. – „Nehmen Ein Gastgeschenk möchte ich Ihnen aber noch zurücklassen, - auch wenn ein armer Reisender gleich mir billigerweise nichts als einen guten Rat reichen kann. Sie meinen, niemand könne wissen, ob er selbst die Wahrheit besitze. Ich bin anderer Ansicht, denke ihr ziemlich nahe zu sein oder mit der Zeit doch näher zu kommen. Ein Gefühl, welches mir keiner nehmen kann, dient mir als Beweis. Aber gut, Sie glauben es also anders. Und deshalb lasse ich Ihnen als Geschenk nur den Wunsch zurück, daß Sie auch Ihre persönliche Folgerung daraus ziehen mögen: Wiederkunftsglaube ist also auch nicht wahr! In dieser Folgerung, nicht im Vordersatze, stimme ich Ihnen vollkommen bei. Und nun leben Sie, ohne Wiederkunft, recht froh und wohl.“ –

Fritz ließ es sich nicht anmerken, wie lächerlich ihm bei dieser raschen Bestätigung seiner eben erst erwogenen Ansicht zumute ward. Er dankte dem Abreisenden höflich und sagte, eine bewiesene Wahrheit habe er in der Wiederkunftserwartung noch nie erblickt. Sie sei im lediglich ein Hoffen, das ihm näher stehe als jedes andere. – „Das müssen Sie selbst am besten wissen. Ich führe nicht so gut damit, obschon ich kein Lebensverächter bin. Ich will doch höher hinaus.“

Und so zog er fürbaß.

Fritz lachte doch. Das war einmal ein Abschied in voller Ordnung. „Zwei Auguren, die einander begegnen, lächeln sich an; zwei Bekehrer, die sich trennen, müssen rasch noch einmal streiten und schelten. Aber nein, ich streite hier nicht. Es wäre auch ein närrisches Einstehen für meine Art Glauben, wollte ich ihn für den überzeugender zu gestalten suchen, der mir sagt, er würde durch ihn nur unglücklicher werden. Ich kann hier nur schweigen.“ (274f.)

(Aus Gustav Naumann: Vom Lärm auf dunkeln Gassen. Roman. Berlin, S. Fischer, 1907)