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Der „Neue Mensch“ des Monte Verità
oder
Der „Neue Mensch“ in der Dichtung Gusto Gräsers

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Wir reden hier theoretisch vom neuen Menschen. Aber er ist schon da. In dreifacher Form ist er schon da. Zunächst in einer quasi materiellen Form, als Rohstoff. Er ist ein Erzeugnis der Moderne. Ich muss das nicht näher ausführen. Wissenschaft, Technik, Industrialisierung, Verstädterung, Globalisierung. Das Ergebnis ist der technoide Mensch, gekennzeichnet durch eine hochgetriebene Zerebralisierung. Wer Auto fährt, wer an einer Maschine steht, muss wach sein, muss konzentriert sein, muss ständig Signale aufnehmen und verarbeiten. Er ist körperlich entlastet, aber sein Nervensystem läuft auf Hochtouren. Die Natur ist weit entrückt, zurückgedrängt, er bewegt sich in einem künstlichen Apparat, in einer unsinnlichen, höchst abstrakten Megamaschine. Nicht mehr eine Moral sondern die Logik und Struktur des Apparats zwingt den technoiden Menschen, sein Triebleben zurückzudrängen. Nicht nur sein Triebleben, sein Innenleben, sein Unbewusstes, seine spontane, wilde, schöpferische Individualität. Er ist in Gefahr, selbst zum Abstraktum zu werden, zur Maschine, zum toten Automaten.

Deshalb, parallel zur Industrialisierung, der Ruf nach dem Zurück zur Natur. Deshalb, parallel zur Verstädterung, das Erwachen eines romantischen Naturgefühls, das Aufkommen von Naturheilbewegungen im weitesten Sinne. Renaturierung als Gegenbewegung zur Denaturierung. Ohne Skifahren, Wandern, Klettern, Surfen, Segeln etc. ist das moderne Leben nicht mehr vorstellbar. Der immer stärkere Druck im eisernen Käfig erzeugt einen Gegendruck in Richtung Natur, ein druckverringerndes Öffnen von Schleusen, wozu auch und vor allem die sogenannte sexuelle Revolution gehört.

Diese Ausgleichsbewegung ist seit 200 Jahren und länger im Gange, als Romantik, als Naturbewegung, als Lebensreform, als Sport, als sexuelle und soziale Revolution oder Reform. Sie braucht und sucht aber auch ihren Ausdruck im Geistigen, in Weltanschauung, Kunst, Philosophie, Religion. Denn Eines ist sicher: die traditionellen Superstrukturen passen nicht mehr für das Leben von heute.

Ein Gott, der Blitze schleudert, Flutwellen und Erdbeben sendet, um die sündige Menschheit zu bestrafen, ist – aus wissenschaftlichen Gründen - nicht mehr glaubwürdig Und ein Gott, der die Vernichtung oder Versklavung seiner Feinde fordert, ist moralisch nicht mehr hinnehmbar. Der „Neue Mensch“ ist also zunächst nichts anderes als das Ergebnis des allgemeinen Kulturfortschritts. Wie die Betonierung unseres Flüsse, so ist auch die traditionelle moralische Betonierung unseres Lebens überflüssig oder sogar schädlich geworden. Darum, um in dieser Enge nicht zu ersticken, die geistigen und sozialen Revolutionen der letzten Jahrhunderte. Ihr zerstörendes Gesicht hat Nietzsche festgenagelt mit seinem Hammerschlag „Gott ist tot“. Die zeugerische Kraft dieser Bewegungen haben andere Propheten aufgezeigt, die aufklärerischen Naturdenker und Naturpropheten. Sie suchen Gott nicht mehr in der Bibel, sie finden ihn in Natur und Vernunft.

Damit komme ich zu Gusto Gräser, dem reinsten und intensivsten dieser Naturdenker.

Natur, gewiss. Aber was ist Natur? Was sagt sie, was fordert sie, wo ist ihr Mund? Und wer ist Gusto Gräser? Er ist, kurz gesagt, derjenige, der sich dieser Suche nach dem Mund der Natur wie kein anderer gewidmet hat.

Gustav Arthur Gräser, geboren 1879 in Siebenbürgen, ist als Neunzehnjähriger aus der Gesellschaft ausgebrochen, hat seine Bilder zerstört, ist losgewandert ohne Pass und Geld und hat dieses besitzlose Leben eines Wanderers und Einsiedlers bis an sein Lebensende geführt. Er hat 1900 mit Freunden die Alternativsiedlung Monte Verità bei Ascona gegründet, ist jahrzehntelang in deutschsprachigen Großstädten als Redner aufgetreten, hat seine Sprüche und Gedichte auf Zetteln in den Straßen verteilt und verkauft. Er hat zweimal den Kriegsdienst verweigert, ist vor seine Erschießung gestellt, ist immer wieder verhaftet, eingekerkert, ausgewiesen worden. Sein Lebenswerk blieb ungedruckt. Und dennoch sind wir alle seine Schüler. Namenlos und im Untergrund hat er eine Wirkung ausgeübt, die jetzt erst anfangsweise sichtbar wird. Der Monte Verità über Ascona wurde zum großen Einfallstor für östliche Weisheit und Religion, wurde ein Vorposten für Internationalismus, Pazifismus, Psychoanalyse, für kulturelle und religiöse Utopien. Der Monte Verità gilt als Wiege der Alternativkultur, er ist ein Mythos geworden, wird dichterisch verklärt als „Wahrheitshügel“ und „Freiheitsberg“. Der eigentliche Antreiber hinter diesem keimhaften Zukunftsmodell war aber Gusto Gräser. Schon um 1910 haben Dichter und Künstler ihn als Propheten des neuen Menschen begrüßt, als die Erfüllung der Hoffnungen von Nietzsche und Walt Whitman, als den neuen, anders gewendeten Zarathustra.

Denn wie linke und rechte Hegelianer, so gibt es auch linke und rechte Nietzscheaner. Und wenn rechte Nietzscheaner den Willen zur Macht und das Herrenrecht der blonden Bestie kultivierten, dann hat Gusto Gräser das genaue Gegenteil gefordert: Absage an den Willen zur Macht, Absage an Herrentum und Herrschaft, an das jahrtausendealte Patriarchat. Wie Hölderlin, Hegel und Schelling, wie Nietzsche und Otto Gross fordert er einen neuen, vernünftigen, einen zeitgemäßen Mythos.

Unsere Frage ist: Wie wird aus dem technoiden neuen Menschen – der bekanntlich seine eigenen Utopien entworfen und auf die grauenhafteste Weise realisiert hat -, wie wird aus dem agnostisch reduzierten Technokraten von heute – der spirituelle neue Mensch, der homo novus spiritualis, der die Chance hat, weise zu werden?

Gegen die Megamaschine Kultur beruft sich Gräser auf die Megamutter Natur. Nein, nicht gegen sondern für sie. Es geht ihm um den seelischen Innenraum der Moderne, um die reaktive Verarbeitung der Industrialisierung, also um die Modernisierung unseres Bewusstseins. Was geschieht, was muss geschehen, wenn die Natur schwindet, das Land schwindet, die Tiere verschwinden, Wildnis gerodet und betoniert wird? Was muss geschehen? - Sie müssen im Wort, im Symbol geborgen, gerettet, bewahrt werden.

Die Natur außer uns, der Wald, die einstige Wildnis um uns, sie sind vielleicht nicht zu retten. Aber gerettet werden muss der Wald in uns, die Wildnis der Seele. Zitat: „Land in uns, unter uns, Land überall, tiefwohlig ruhend weit und breit im Rund, Land voller Leben – Heimat alldenen, die sorechtvongrund getreu sich geben …“

Und er zeigt uns auch den Schlüssel zu diesem Land:

Dadrin erst muss verbrennen in heilgem Fieberbrand der Span im Fleisch, der stolze Herrschwahn aus faulem Holze, Tod allem Land!“

Die Erhaltung der Natur – in uns und außer uns – ist eine seelische, eine poetische, eine religiöse Aufgabe. Wiedergewinnung des Landes in uns geschieht durch Erwecken der schlafenden Urbilder. In ihnen ist die Wurzel unserer Herkunft bewahrt, mit ihnen bindet sich der selbstentfremdete technoide Mensch zurück an seinen Ursprung vor Jahrtausenden.

Gräser beschwört die Urbilder der Großen Mutter, des Weltbaums, des Jahrkreises, des heiligen Mahls, der heiligen Hochzeit und andere – nicht aber, und darauf kommt es an, nicht durch gelehrten Rückgriff auf Altbekanntes, wie das andere tun, auch ein C. G. Jung, sondern aus eigener Schau, aus innerster nothafter Erfahrung. Sein Denken kommt nicht aus der Studierstube sondern aus der Praxis eines Wander- und Bettelpropheten, der Frau und acht Kinder mit Gedichten auf der Straße ernähren muss, der ein Freiwild ist für jeden Polizisten, ein Schreckbild für Staat und Gesellschaft.

Seine Urmutter Not, mit der er sich vermählt, ist deshalb nicht mehr die Fruchtbarkeits-, Erd-, Liebes- oder Todesgöttin von einst, hat nicht mehr die Gestalt der vielbrüstigen Diana von Ephesus oder der finsteren Hekate, nicht der blutdürstigen Kali-Durga oder der ausschweifenden Astarte, auch nicht die der jungfräulich-mütterlichen Isis oder Maria. Seine Urgroße Mutter antwortet auf die Nöte unserer Zeit, sie wendet sich nicht an Kamelhirten sondern an den Maschinenmenschen von heute, an die (Zitat) „Wissenschaft-Verirrten“, sie heilt die „Zukopfgestiegenheit“, den „Herrenwahn“, den Mach- und Machtwahn des technoid verkrüppelten Menschen der Gegenwart. Zitat: „Also, Verstiegener, heruntherunter aus Hochmuthohl; im Heimlichgrund nur grunelkeimt dein Wunder … herab an die Zitzen der großen, alles größenden Mutter Wirklichkeit.“

Gräsers zentrales Bild ist der Lebensbaum oder Weltbaum, in seinem Gedicht feiert er ihn als „Wonnewunderkugel-Weltenbaum“. Aus ihm, dem Baum, der Himmel und Erde verbindet, also für das Ganze steht, aus ihm gewinnt er auch sein Gegenwort zur Wahnsinnsformel der Moderne, zum cartesianischen Cogito ergo sum. Er sagt nicht mehr: „ich denke, also bin ich“, er sagt: ich bin, indem ich baue. Nein, das sagt er nicht, sondern: „Baumbinimbaun, baumbinimbaun“. Das „Ich“ fällt weg, es verschwindet im Baum, löst sich auf im Baum. Der Baum wird Subjekt, und ich bin nur, sofern ich im Baum und im Bauen bin, d. h. im Ganzen. Im Ganzen, das ein Werdendes, ein Bauendes ist: „Baumbinimbaun“. Die moderne Subjektzentriertheit ist überwunden, das Ego verschmilzt mit dem Allbaum und lebt nur, insofern es mitbaut am Ganzen: Baumbinimbaun.

Wie aber gelange ich, wie gelangt der technoide Mensch in die Lichtung des Allbaums, ins Bäumen? Die Antwort von Gräser: Durch REinigung und TRäumen. In seiner Schreibung von REinigung folgt allerdings auf das große R ein großes E, also Einigung. Will sagen: Erst Reinigung ermöglicht Einigung. Ebenso folgt auf das T in Träumen ein großes R, als Räumen. Erst Räumen ermöglicht das Träumen.

Es ist natürlich der alte mystische Weg über die via negativa zur via unitiva, zur unio. Aber diese Auslegung sagt uns noch nicht das Neue. Das Neue liegt darin, dass die via negativa, also das Loslassen, das Entwerden, nicht mehr im Verzicht auf Hab und Gut und Weib und Kind gesehen wird sondern im Loslassen von Ziel und Zweck. Zitat:

Durch Zahl und Ziel ward Welt uns hingerichtet, zerzerrt, zerspellt -

durch Mahl und Spiel wird ihr Gedeihn gedichtet, tief hergestellt.“

Mahl und Spiel statt Zweck und Ziel. Gräser greift damit ein bekanntes Wort von Schiller auf, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt. Er selbst nennt sich Spieler, fühlt sich als Mitspieler im großen Weltspiel.

Ich bin der Spieler, jah, im ewgen Hier,

den der mich grüßen kann, den grüßt auch mir.“

Der Spieler lebt im Hier, im zeitlosen Hier und Jetzt. Er ist hergestellt, er ist da, er ist im Augenblick. Gräsers Ruf und Mahnung lautet daher, schon im Jahr 1912 formuliert:

Sei da, sei Du, sei ein Freund!

Da sein heißt auch Selbstsein, heißt eigentlich sein. „Kommt ins Eigentliche“, ruft Gräser aus, habt den Mut, entschlossen da-zu-sein. Wenn Sie sich hier an Heidegger erinnert fühlen, dann sind Sie auf keinem falschen Weg. Es gibt starke Anzeichen dafür, dass Gräser auf Heidegger gewirkt, dass dieser die Gräserschen Vorgaben ins Akademische übersetzt hat. Eine andere Grundform von Gräsers Denken, die Symbolisierung des Selbst im Freund, hat Hermann Hesse übernommen und in seinen Romangestalten personifiziert.

Ein Freund ist da, mach auf“, lautet der Titel von Gräsers einziger größerer Druckschrift. Zitat: „Ein Freund ist da – Du selbst, der Du Dich aufmachst“. Du selbst bist der Freund.

Gräser wanderte umher und klopfte an die Türen als der Freund, der seine Mitmenschen an ihr tieferes Selbst erinnert. Grün und wild und eigenartig war dieser Mensch nicht nur in seiner Tracht, auch in seinem Denken, auch in seiner Sprache. Gräser wird heute von Vielen als der Urvater der Grünen gesehen und bezeichnet.

Er hat diesem grünen neuen Menschen auch einen Namen gegeben: „Erdsternsohn“ oder „Erdsternmensch“. Ein Sohn der Erde, die als Stern gesehen wird. Er verkündet die kommenwollende Erdsternzeit und den kommenden Erdsternsohn. Nein, er ruft ihn, ruft ihn hervor:

Urgeistsonne mildewild ruft zu mannlich froher Regung,
zu urweiblich trauter Hegung unser Menschenbild –
ruft hervor den allbereit, allgetrosten, dankentbrannten,

Ihn, den weltherzanverwandten
Erdsternsohn
der
Gartenzeit.

Er ruft ihn ins heilige Land, das aber ein inneres Land ist, ein Innenhalt, ein „Heilgewohn“, in dem er wohnt

bei seiner Allmittmutter Königin im Wäldergrund,
im simsumsammelseeligen Weltsommerbund –
ein BIN im BAUMe,

in dem Allbaum
SEIN,
im Weltleibkor ein Mitblutkörperlein …

Dies nur als Probe und Andeutung. Ich sagte schon, dass es neben dem materiellen neuen Menschen noch eine zweite Form gibt, es ist der dichterische oder philosophische neue Mensch. Seit zweihundert und mehr Jahren wird an ihm gearbeitet. Vorbahnend Schiller und Goethe, deutlicher dann Hölderlin und Nietzsche haben das mythische Bild des neuen Menschen entworfen als eine Vereinigung von Jesus und Dionysos, von griechisch-römischer Antike und Christentum. Gerhart Hauptmann, unter anderen, hat dichterisch an diesem Entwurf gearbeitet. Im Frühjahr 1919, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und nach Besuchen auf dem Monte Verità von Ascona, hatte er in Locarno eine Vision. Die Vision eines heidnischen Heilands. Ein Hirt erscheint in einer locarneser Kneipe seinem Till Eulenspiegel und lädt ihn zu sich auf seinen Berg:

Wunden weis' ich dir nicht oder Narben an Händen und Füßen,
kein zermartertes, blutendes Haupt, das, von Dornen zerrissen,
eitrig starrt, noch den schwarzen, von Striemen geborstenen Rücken.
Alles dieses ist lange verheilt und verharscht und vergessen.
Bester, sei mir willkommen, und morgen dann gehst du den Weg wohl …
hinaus in die Höhen …wo still meine Lämmer Jahrtausende weiden.

Es ist eine Kreuzung aus Jesus und Apoll, die ihm vor Augen steht und die Maß nimmt an der Gestalt Gusto Gräsers. Hauptmanns Till findet allerdings den heidnischen Heiland am Ende nicht, resignierend lässt er sich in die Maggia fallen. Sein Dichter aber, Gerhart Hauptmann, hat an dieser Gestalt ein Leben lang weitergearbeitet, er hat seinen neuen Menschen „Erdmann“ genannt, einen aus dem Grab der Erde Geborenen. Von ihm sagt er: "Das wäre also meine Absicht mit diesem Merlin-Erdmann: den Menschen mit der Erde inniger und auf religiöse Art zu verbinden."

In diese Richtung geht offenbar das Suchen der Dichter. Auch Hermann Hesse endet sein ‚Glasperlenspiel’ mit dem Bild eines Naturburschen, Wanderers und Tänzers, der in seinem kultischen Tanz Himmel und Erde verbindet. Dieser Tänzer Tito ist zweifelsfrei ein Nachbild seines Freundes und Lehrers Gusto Gräser.

Von der Dichtung zur Wirklichkeit. Wir haben den materiellen neuen Menschen im Zeichen der Technokratie und der Megamaschine, wir haben den dichterischen neuen Menschen vorgezeichnet als eine Vereinigung von Dionysos und dem Gekreuzigten, von Gräser als „Erdsternsohn“ benannt, und wir haben schließlich die Person Gusto Gräser selbst, der im Erdsternmenschen sein Ebenbild entwirft. In dieser dreifachen Gestalt, als materielle Rohform, als dichterischer Entwurf und als lebendes Beispiel und Vorbild, in dieser dreifachen Gestalt ist der neue Mensch heute schon Realität, erst recht aber in der Zukunft.

Ich danke Ihnen.


Vortrag von Hermann Müller, gehalten am 12. 1. 2008 in der Bibliothek Werner Oechslin, Einsiedeln, im Rahmen des Kolloquiums „Der ‚neue Mensch’ – der weise Mensch“, einberufen und geleitet von Stefanie Poley, Köln

Hermann Müller 2004 in Ascona
Hermann Müller