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Lebensthemen und Individuation (Auszüge) | |
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1. Fragmentarische
Annäherungen …
Wen würde ich für individuiert
halten? Wenn die Frage so gestellt ist, fallen
wenige Namen ein, die beim 2. Nachdenken bleiben. …Individuation
hat zu tun mit der
Integration, mit der Versöhnung von Gegensätzen. 3. Es tut weh - Individuation als
bewusster Prozess Hermann Hesse (geb. 1877, also zwei Jahre nach C.G.
Jung) war damals schon
ein bekannter und erfolgreicher Schriftsteller. 1904 hatte er die 9
Jahre
ältere Fotografin Maria Bernoulli geheiratet, 1905 kam das
erste der drei
Kinder. Doch Hesse war nicht glücklich. Er brach aus, so wie
er schon als
Schüler aus dem Internat in Maulbronn ausgebrochen war, und
ging auf
Wanderschaft. Hesse schloss sich einem Wanderprediger an, Gustaf
(Gusto)
Gräser, der so etwas werden sollte wie sein Guru. "Einmal
stapften vier
wunderliche Gestalten durchs Dorf, mit langen Haaren, Sandalen und
nackten
Waden. ... Hesse war gleich Feuer und Flamme. Und zog eilendes
Fußes mit. Nach
Ascona."[12] So der Bericht eines
Freundes. Bei Ascona, auf dem Monte Verita,
war seit 1900
eine Kolonie von Vegetariern, Nudisten, Sonnenanbetern, Anarchisten,
Dichtern,
Tänzern entstanden. Dort blieb Hesse einige Wochen bei Gräser
in einer Holzhütte des Sanatoriums, dann auch in der
Höhle, die Gräser sonst
bewohnte. Hesse selbst versuchte sich als Einsiedler, fastete, ging
nackt durch
den Wald, ließ sich in die Erde eingraben usw., bis es ihn
wieder nach hause
zog, nach Gaienhofen am Bodensee, zu Frau und Kindern und einem
vernünftigen
Rotwein. Der erste Versuch einer Nachfolge des "Samana"
war gescheitert, doch die Bruchstelle blieb. Hesse baute ein Haus, zwei
weitere
Buben wurden geboren. Die Kinder lebten, wie der befreundete Romain Rolland
sich erinnert,
glücklich als "nackte Wilde". [13]
Das jüngste Kind
war oft krank, es weinte viel, die Mutter war überfordert und
entwickelte
psychische Krisen. Hesse ging auf eine Indienreise, dann zog die
Familie nach
Bern (1912 bis 1919). 1916 brach, nach dem Tod des
Großvaters, die ganz große
Krise aus, Hesse gab seine Frau in eine Nervenanstalt, die Kinder in
Pflegefamilien.
Das Drama sollte einige Jahre dauern. … Es blieb bekanntlich nicht dabei. Hesse schrieb den romantischen, versöhnlichen "Narziss und Goldmund" (1930), die wie Govinda und Siddharta durchs Leben wandern, nur eben im romantischen Deutschland, es ist wie eine Heimkehr. Dann kam die "Morgenlandfahrt", in der 2 er wieder Kontakt aufnahm zu dem Wanderermotiv des Knulp
und des Siddharta. Es ging um seine eigene Wanderschaft, auch im Bilde
des Gusto
Gräser, von dem ich im 4. und letzten Teil des
Referates kurz sprechen möchte. … Die Frage bleibt: 4. Individuation schließt die
Welt nicht aus, sondern ein. …. Die Zeit, in der Jung sein Konzept von Individuation entwickelte, war die kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Es kam zuende, was schon 300 Jahre vorher mit der Aufklärung begonnen hatte, vorangetrieben durch den Prozess der Industrialisierung, der Entwurzelung, des Zerbrechens des alten Kulturkanons. Nietzsche hatte Gott für tot erklärt, jetzt sagte man, Gott sei in Flandern gefallen. Der deutsche Kaiser dankte ab, der letzte sozusagen archetypische Große Vater, das alte System, die ganze alte Welt brach zusammen, die alten Werte galten nicht mehr. Überall war Emanzipation zu spüren und der Versuch von neuen Entwürfen des Menschseins. Jung war nicht der einzige, der den großen Umbruch früh kommen sah. Die Freudsche Psychoanalyse gehört hierher, ebenso wie die Frauenbewegung oder die neue Musik. Neue Lebensweisen wurden ausprobiert. Auf dem Monte Verita bei Ascona fand sich 1900 jene Gruppe von Vegetarianern zusammen, eine erste Kolonie von Leuten, die gänzlich alternative Lebensweisen propagierten und ausprobierten. Es waren Nudisten, Anarchisten, Verehrer von Tolstoi, Künstler. Die Einwohner des Ortes nannten sie "die Verrückten". Wenn sie ins Dorf herunterkamen, zogen sie lange Gewänder an und sahen aus wie Apostel. Einer der ersten war Gusto Gräser, ein Kunststudent aus Siebenbürgen. Er zog barfuss oder in Sandalen durch das Land und lebte vom Erlös seiner handgeschriebenen Gedichte, die er verkaufte. "Am langen Wanderstab schritt er wie ein König einher. Kinder knien vor ihm nieder, weil sie meinen, der Heiland erschiene ihnen" [25]. Auf dem Monte Verita lebte er gern in einer Höhle, vor allem seit auf dem Berg ein vegetarisches Sanatorium 3 errichtet war. H. Hesse begegnet Gräser zum
ersten Mal 1907, ich habe die
Szene vorhin geschildert, wie sich Hesse ihm anschloss. Im Siddharta heißt es so: Gustav Gräser war ein Original, ein Kauz. Er
nannte sich Gusto, weil er
"Geschmack am Leben" fand. Ich zitiere einen Zeitgenossen
: Gräser / Gras macht
sich mit Frau Eva und den
Kindern auf, um dichtend und verkündend im Planwagen durch
Deutschland zu
ziehen. Immer wieder wird er ausgewiesen, eingesperrt, bedroht.
Namhafte Leute
setzen sich für ihn ein: Thomas Mann z.B. sagt, "Dieser Mann
ist reinen
Herzens", und erreicht, dass er in Deutschland bleiben darf. 1920
bildet
sich eine Art Kinderkreuzug,
die "Freie
Schar", zuerst 20 junge Leute, dann mehrere Hundert, die singend und
spielend durch Nordbayern und Thüringen wandern.
Gräser ist
dabei. Hermann Hesse wird später in der Morgenlandfahrt diesem
glücklichen
Sommer ein Denkmal setzen. Später kommt
Gräser nach
Berlin, er überlebt wie durch ein Wunder die Nazizeit und den
Krieg. Er stirbt
1958 in München - Freimann. (Ich erinnere mich, dass ich
damals, als 8jähriger,
in der Zeitung ein Foto des alten Mannes mit dem Bart gesehen habe)
Hesse, der
ihn aus den Augen verloren hatte, schreibt einen Nachruf. 4 Ich zeige
Ihnen ein paar Bilder und komme
dann zum Schluß:
1. C.G. Jung 1912 (37 Jahre alt,
seit 12 Jahren Arzt, kurz nach der
Trennung von Freud, in der Zeit der Krise und des Beginns seines
Individuationsweges) 8. Die "Neue Schar" in
Thüringen, der Aufstieg zur
Leuchtenburg 1920. Die Neue Schar hatte dort ihr Winterquartier. Es ist
ein
Teil der Wandervogel-Bewegung. Der Initiator dieser Gruppe war ein
Freund Gräsers,
genannt Muck. "Mit 25 jungen Männern und
Mädchen zieht er singend, tanzend und predigend durch
Thüringen und reißt
Zehntausende in seinen Bann. Eine Tanzepidemie breitet sich aus, die
mit den
Geschehnissen der Wiedertäufer-Zeit verglichen wird. Die Tore
der Kirchen
öffnen sich für die tanzende und
blumengeschmückte Schar und ihren feurigen
Prediger. ... Mucks "Kreuzzug der Liebe" wird als mutigste Tat der
Jugendbewegung gefeiert, dann aber, nach seiner Unterdrückung,
vollständig
tabuisiert. Erst Hesse wagt es, zehn Jahre später, den
Aufbruch um Gräser und
Muck ins Gleichnishafte der Legende zu erheben - nämlich in
der
Morgenlandfahrt" [29]. Es war ein
Zeitzeichen, zugleich
ist es eine Parabel für eine Etappe von Hesses
Individuationsweg. - Es ist auch
ein Stück Deutscher Geschichte, das durch die Nazi-Zeit
ausgelöscht wurde. Ich
finde es wichtig, denn es ist eine andere Geschichte Deutschlands, die
mit
Totalitarismus nichts zu tun hatte, sondern mit der Feier des Lebens
und des
Individuums. Zum Abschluß
dieser Serie noch späte Bilder von
Gräser, Hesse und J.G.Jung
: 5 Ich
komme zum Schluß.
Zum Abschluß
möchte ich noch einmal, als Würdigung
Gräsers,
etwas von Hesse
zitieren. Es ist aus Knulp,
geschrieben 1908. Ich
zitiere aus der Hesse-Biographie von B. Zeller [30]:
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Literatur 1
GW 9,1 S.367 [1] im
Briefwechsel mit E.Neumann
[2] GW 6,
§ 827, GW 7, § 267 u.a. [3]
Jung im Gespräch S.252 [4]
GW 16, § 444 f. [5] Uwe
Langendorf, Berlin [6]
Jung im Gespräch, Daimon
1986, S.66 f. [7]
Watzlawik in
Menschliche Kommunikation, vgl.auch
G.Bateson,
Ökologie des
Geistes [8] im Folgenden nach
Erinnerungen, Träume, Gedanken
S.177 ff. [9] GW 9, 1 § 682 [10]
Erinnerungen,
Träume, Gedanken S.389 ff. [11] H.Hesse,
Demian, Suhrkamp
Basis, 2000, S.93 ff. ( die Ausgabe
ist nicht zu empfehlen, der unmögliche Kommentar von H.Kuhn
entstellt und diffamiert nicht nur C.G.Jung,
sondern
Hesse selber ). [12] H. Müller
:Gusto Gräser, Aus Leben und
Werk. Ausstellungskatalog 1987, Gräser – Archiv Freudenstein, S.24 [13]
Interview mit Heiner Hesse, Tagesspiegel Berlin vom 29.Dezember 2002 [14]
Ich habe verschiedene Daten zusammengezogen aus dem Buch über
G. Gräser, dem
Band Materialien zu Hesses Siddharta (Suhrkamp tb
129), dem Ausstellungskatalog „Höllenreise durch mich
selbst“, Schweizerisches Landesmuseum, NZZ
2002. Darin der
Aufsatz von G. Baumann „Der
Heilige und der Wüstling. Tiefenpsychologische Grundlagen von
Siddharta und
Steppenwolf.“ Der erste und bis
jetzt einzige jungianische
Text, der sich ausführlich
mit der Thematik Jung-Hesse befasst, ist das Buch von Rix
Weaver, Spinning on a Dream Thread,
Wyvern
Publications
Perth, West Australien 1977. [15] In dem besagten Interview [16]
Materialien
a.a.O. S.130 [17] ebd. S.130 f. [18]
lt.
Heiner Hesse in dem o.g. Interview [19] Siddharta,
Suhrkamp tb 1978, S.
105 [20] Steppenwolf, Suhrkamp
tb 1974, S.17 [21]
Briefzitat in „Höllenreise“, S.46 [22]
H.H. in dem erwähnten
Interview [23] GW 8, Theoretische
Überlegungen zum Wesen des
Psychischen, S. 258 ) [24] Zur Empirie
des
Individuationsprozesses, GW 9 / 1, § 617 [25] Müller,
G.
Gräser, a.a.O. S.16, dort auch die folgenden Zitate [26]
Siddharta a.a.O. S.11 [27] Gräser
a.a.O. S.28 [28]
Gräser S. 46 f. [29] nach
Müller, Gräser S.70 [30] B.
Zeller, Hermann Hesse, Rowohlt Biographie 1963, S.72 Dr.
Jörg Rasche |