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Der Urmensch vor Gericht
 
Hamburg 1927


Am dritten Tage schuf Gott die Bäume, Kräuter und Gräser. Erst am sechsten Tage schuf er den Adam…
 
Gräser, der Ur- und Naturmensch Gustav Gräser, ist demnach drei ganze Tage älter als Adam. Wenn man ihn in seinem härenen Gewände sieht, mit den unendlich langen Haaren, dem wilden Bart, dann glaubt man ihm die Abstammung aus längst vergangener Zeit. Nur seine Anwesenheit beim Sündenfall glaubt man ihm nicht. Gräser, der vor den Tieren, den Fischen, Vögeln, Schlangen und vor allem vor dem Menschen erschaffen wurde, weiß darum nicht, was Sünde ist. Auch den ganzen übrigen modernen Kram kennt er nicht, keine Polizei, kein legales Faustrecht der Uniform, er kennt vor allem auch nicht die moderne Gastfreundschaft, die in der Hauptsache aus dem Hausrecht, das ist Hinauswurfrecht, besteht.

Armer Gräser, du reines Kindergemüt, der du dein ganzes Dasein für die längst überfällig gewordene Idee der Menschenliebe, Herzensreinheit und Einfalt der Sitten hingegeben hast, als du gestern aus dem Gerichtssaal abzogst mit deinem durchaus "korrekten" und in keiner Revision anfechtbaren Urteil wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, da sah man deinem Gesicht an, daß dir wieder einmal ein ganzer Porzellanladen voller Ideale kaputtgeschlagen worden war. Und dabei hatte der Staatsanwalt dich sehr milde, der Richter sogar sehr gütig behandelt. Ach Gräser, wir stehen nicht mehr beim dritten Schöpfungstag, sondern sind durch den Sündenfall zivilisierte Männer geworden und üben unsere erhabenen Menschenrechte mit den geschlossenen Handschellen der Paragraphen.
 
Das wirst du nie begreifen, aber es ist so!

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Hamburger Tagesanzeiger, 13. Juni 1927   

Sanctus Jacobus alter

Vor dem Amtsgericht (Einzelrichter Dr. Buhl, Staatsanwalt Dr. Leffmann) erscheint ein Mann, der fast anmutet wie ein Überbleibsel aus langverschollener Zeit, sowohl nach der Art seines ganzen Auftretens, seines Sichgbens, seines Sprechens und nicht zu wenigstens nach der Art seiner Kleidung.

Den älteren Leser der „Hamburger Nachrichten“ ist er vielleicht kein Fremder, hat doch kein Geringerer als Johannes Schlaf in unseren Blättern sich in einem Aufsatze eingehend mit ihm beschäftigt. Es handelt sich um Artur Gräser aus Siebenbürgen, gewiß mich vielen anderen kein Unbekannter.

Er ist 47 Jahre alt, eine große stattliche Gestalt. Das Schermesser scheint weder Haupt- noch Barthaar je berührt zu hoben. Die Kleidung. Gesamteindruck: Hirte aus der Campagna um Rom, wie man sie heute trotz Mussolini dort noch antrifft, wie sie unsere Maler aus der Mitte und der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts uns tausende von Malen auf ihren Bildern gezeigt haben, wie sie uns Goethe, Seume und viele andere gezeichnet und beschrieben haben. Ein braunes Obergewand. Faltenreich ohne Saum – schon zum Teil ausgefranzt – an seinem unteren Rande aus einem Stoff, den man als sehr kurzhaarigen Plüsch bezeichnen könnte. Unter ihm leuchtet ein grünes Untergewand hervor, vom Hals bis zu den Knöcheln reichend, eine Art Kombination aus Jacke und Hose, aus gleichartigem Stoffe. Die Farben beider Kleidungsstücke sind künstlerisch fein aufeinander abgestimmt – ein Farbenakkord, der wohltuende Augenweide bereitet. Als ein zart mitschwingender Oberton erklingt das Lila seiner Tasche. Ähnlich der Pilgertasche des Apostels Jacobus. Man könnte sich denken, daß dieser rastlose Wanderer sich in gleicher Weise gekleidet habe. An den Füßen Sandalen, nicht solche, wie sie die italienischen Pifferari und Hirten tragen – ein Stück Rinderfell grob und roh mit Lerderriemen an den Fuß gebunden – sondern gute, ordentliche zuverlässige Arbeit eines tüchtigen Meisters der ehrsamen Schuhmacherzunft. Der Fuß ist außerdem mit einem Strumpfe bekleidet, der leider aus der künstlerischen Kleidungskomposition mit einem schrillen Mißton herausfällt. Sie sind grau und gräulich und passen nicht zu den anderen Farben, wie ein Bettler zu einem Edelknaben.

Auf dem Rücken trägt er ein Fischnetz, in dem aber geistige Fische zur Ruhe gebracht zu sein scheinen – Papierrollen. Was für Geisterblitze und -funken sie bergen, weiß ich nicht. Dieses Fischnetz trägt als Verschlußmittel echte Hasel- und Walnüsse, die vermittels Durchbohrung und Durchführung eines dünnen Strickes zu äußerst anmutigen Knöpfen und Haken werden – ein Motiv, das sich Knopfmacher und überhaupt Kunstgewerbler nicht entgehen laßen sollten! Die Lenden sind mit einem mittelbreiten Zingulum aus dicker Kordel gegürtet. (1. Kön. 18,46.)

Was treibt dieser Mann? Auf des Richters Frage: Was find Sie? Die Antwort: Maler, Redner. Bildhauer. Ein Privatgespräch mit ihm ergibt, daß er diesen Winter in Berlin in der Freien Hochschule mehrere Serien von Vorträgen halten will. Die erste Serie von sechs Vorträgen wird den Gesamttitel: „Gespräche aus Gemeinschaftsfragen zur Aufheiterung unseres betrübten Lebens“ tragen.

Mit der religiösen Bewegung der Gemeinschaftler haben seine Bestrebungen nichts zu tun. Das Wort Religion führt er nicht gern im Munde, damit wird zu viel Mißbrauch getrieben. Dabei beruft er sich auf Schiller: „Votivtafeln: Mein Glaube. Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, die du mir nennst – und warum keine? Aus Religion!“

Sein Sichgeben usw. Ein ruhiger abgeklärter Mann, der auf jede Frage, die an ihn Richter und Staatsanwalt in der eigenartigen Verhandlung glücklich angepaßter Art und Weise richten, verständig, ruhig, seine Person beileibe nicht in den Vordergrund schiebend – im Gegenteil! – antwortet.

Was hat nun St. Jacobus secundus verbrochen? Sein Haupverbrechen liegt eigentlich darin, daß er in dieser Gewandung sich unterfangen hat, eines Sonntags, nachmittags in der fünften Stunde, eines unserer größten Kaffeehäuser zu betreten. Das war doch nicht zu dulden, daß in einer Großstadt wie Hamburg jemand ein anderes Kleid trägt, als wie es „Gevatter Schneider und Handschuhmacher“, wie Schiller in „Wallensteins Lager“ sagt, gebilligt haben, ja das kann sich wohl ein Inder, ein Somalineger pp. „grenzenlos erdreusten“, aber nicht ein Kerndeutscher aus dem Sachsenlande in Siebenbürgern!

Der „Herr Ober“ naht denn auch sofort und bittet ihn, das „Lokal“ zu verlassen. Jacobus alter ist – wie er selbst wohl mit Recht sagt – ein vertrauensseliger Mann. Er hält dem Geschäftsführer vor, daß sich in diesem Gewande doch ein ganz anständiger Mensch bergen könnte, er erinnert an Tagore – „ob ich einer oder sonst so was bin, weiß ich nicht“ —. Der Kellner: „Das könne alles schon ganz gerne angehen“. „Nun schön, ich will gehen“ – antwortet der „Verbrecher“; er schreitet auf eine Tür zu. Inzwischen hat schon der Portier – Ton auf der ersten Silbe! – einen Sipo herbeigeholt. Diesem jungen Manne ist seine für gewöhnliche, alltägliche Fälle vorzügliche Dienstvorschrift ganz in Fleisch und Blut übergegangen. Nach ihr handelt er. Aber der gut- und freiwillig das ungastliche Gasthaus Verlassende kann gar nicht begreifen, warum er von dem Jüngling angefaßt wird und macht Abwehrbewegungen, die der junge Diener der Hermandad als „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ ansehen konnte – ihn trifft wegen seiner Jugend gewiß gar kein Vorwurf, ein reiferer Schutzmann hätte hoffentlich und voraussichtlich anders gehandelt – und das Vergehen gegen § 123 (Hausfriedensbruch), § 113 (Widerstand) ist fertig, zumal auf der Straße noch weitere Abwehrbewegungen sich wiederholen. Der Strafbefehl lautet auf 70 Mark.

Im Urteile wird er entsprechend dem Antrage des Staatsanwalts vom Haus-friedensbruche freigesprochen. Aber ihn auch vom Widerstande freizusprechen, gelingt nicht. Dafür soll er mit 20 Mark büßen. Auf die Frage, ob er diese Strafe annehme, antwortet Jacobus in seinem wundervollen Lohfingschen Baß: Das könne man doch nicht von ihm erwarten.

Hamburger Nachrichten, 136. Jahrg., 13. Juni 1927, Nr. 270 (135 B), S. 7. Online: Sanctus Jacobus alter.