Zurück

Ein Brief aus dem Gefängnis
28. August 1918


Erste Seite des Briefes von Gusto Gräser. Original im Museo Casa Anatta, Monte Verità

Abs.: Gräser, Justizgefängnis / Amt X, Zürich - 28 - 8 - 18 *

An Adolf Stocksmeier in Ascona.

Du, du, du und Du - Ihr Alle seid gegrüsst! - Wie geht's? Was geht? Wo geht's? - Schreibt, dass ich, wenn ich wieder heraus komm (wann, weiss ich immer noch nicht) mich darnach richten kann.

Ihr habt doch wohl Geld und Nachricht, dass ich hier im Zuchthaus bin, erhalten? - "Ungehorsam" soll das Büblein wieder mal gewesen sein! - Es war aber, Er war nur wieder zu vertrauensseelig und meinte, man hätte doch wohl an zwei oder drei Missgriffen genug und würde sich, würde mich mit weiteren verschonen. Es war zu hoch gemeint - oder halt - ich war ja noch nicht vor dem Richter. Vielleicht werd ich doch nicht nach dem freilich schwungs- und schamlosen Buchstaben, vielleicht werd ich doch vom menschlich fühlenden Urteil gerichtet.

Abwarten und Wassersuppe trinken.

Bist du, Stocksmeier, noch zuhause? Was tust du, was willst du tun? Wäre wohl nicht schlecht, wenn du hierher kämst, könntest vielleicht für die Herausgabe der Bilder, wofür ich, auch bei Druckerei, schon angeknüpft hab, weiterknüpfen, weiterwirken. Oder liegt dir anderes näher? Ob ich gleich nach Entlassung von hier Aufenthaltsbewilligung erhalt, weiss ich auch noch nicht

Jedenfalls will ich nun das Ansuchen darum gleich stellen. - Denn auf die heilende Zeit will ich mich nun doch nicht mehr verlassen.

Mich verlangt freilich auch sehr zu sehn, was auf unsrem Grund alles grünt und reif und rund wird, wie sich die Kinder zusammenfinden und Ihr Grohsen - - ?

O dass Wir doch reif zum Menschen, dass wir doch Wieder-Kinder würden, die mit Überzeugung in die Triebe treiben, mit Inbrunst in dem All-Tag bleiben.

                    Wohlauf!

Beiliegend 2275 Gramm für Euch gesparte Brotmarken; wär ich draussen geblieben, wären's mehr.


Ein Brief aus dem Gefängnis

Kommentar

Vom 10. bis 12. August 1918 war Gräser beim Freideutschen Jugendtag in Tübingen gewesen. Auf dem Rückweg nach Ascona ist er in Zürich verhaftet worden. Das könnte am 15. oder 16. August geschehen sein. Der Grund: fehlende Aufenthaltserlaubnis.

Am 28. August, also nach etwa 14 Tagen Haft, schreibt er an Adolf Stocksmayer nach Ascona. Warum nicht an seine Frau?

Die (freie) Ehe war zerrüttet, die Gefährten hatten sich getrennt oder standen kurz vor der Trennung. Auch aus diesem Grund war Gräser im Jahre 1918 viel unterwegs, in der Schweiz, in Deutschland.

Adolf  Stocksmayr (1879-1964), ein Maler, der etwas später mit Paul Klee und anderen Kollegen in einer Ausstellung am Ort vertreten sein wird, hat offenbar das Haus der Gräsers während dessen Abwesenheit bezogen und lebt dort (oder in der Nähe) als eine Art Ersatzvater, mit Gräsers Kindern und seinen eigenen zusammen. Daher dessen Frage, "wie sich die Kinder zusammenfinden". Und dann „die Großen“. Damit ist, neben dem Ehepaar Stocksmayer, Frau Elisabeth angesprochen, die ansonsten mit keinem Wort erwähnt oder gar beim Namen genannt wird.

"Du, du, du und Du" ist seine Anrede. Er vermeidet jede persönliche Ansprache, grüßt alle, und bezieht dadurch die Ungenannte, nach seiner Meinung "untreu Gewordene", mit ein. 

Es ist nicht sein erster Brief aus dem Gefängnis. Er hat schon früher Nachricht nach Ascona gegeben, möglicherweise an seine Frau adressiert, und er hat auch Geld geschickt aber bislang keine Antwort erhalten.

Er sorgt weiterhin für seine Kinder, schickt nicht nur Geld, auch Brotmarken, die er sich vom Munde abgespart hat. Er kommt mit sehr wenig aus.

Das jüngste seiner drei eigenen Kinder, Charlotte, Lottchen genannt, ist zu diesem Zeitpunkt noch keine zwei Jahre alt, Heidi ist fünf, Trudel, die Älteste, acht. Die fünf Kinder, die seine Frau aus erster Ehe mitgebracht hat, sind etwa zwischen 10 und 18 Jahre alt, können also schon mithelfen und den abwesenden Vater teilweise ersetzen. Eines der Fünf fehlt allerdings. Einen der Söhne hatte die Mutter, in Gräsers Abwesenheit und angeblich ohne seine Einwilligung, von einem "Onkel" adoptieren lassen, der den großgewachsenen jungen Mann mit in die Tropen nahm, wo er neunzehnjährig starb. Dieser Vorfall soll mit zur Entfremdung der Lebensgefährten beigetragen haben. Der andere Grund, den Gräser mir gegenüber angab, war Untreue seiner Frau. Nicht mit einem anderen Mann sei sie ihm untreu geworden, sondern mit Geld. Während seiner Abwesenheit habe sie einen Betrag, den er zum Druck seiner Gedichte angespart hatte, für andere Dinge ausgegeben, veruntreut. Seine Töchter sprechen auch von anderen Gründen. Ihre Mutter habe eines Tages in den Kleidern ihres Mannes den Liebesbrief eines Mädchens gefunden. Sie habe die junge Frau zu sich bestellt und ihr klargemacht, dass der von ihr Angehimmelte ein verheirateter Familienvater sei. Von dieser Enthüllung erschüttert, sei das Mädchen ins Kloster gegangen. Wie eng von Gräsers Seite die Beziehung war, bleibt offen.

Nach Aussagen der Töchter ist die Mutter nach der Trennung mit ihren Kindern in ein Haus im Dorf Ascona gezogen. Wie aus dem vorliegenden Brief hervorgeht, dürfte dieser Umzug nach dem August 1918 stattgefunden haben.

Dies also ist Gräsers Situation zuhause: Der Boden ist brüchig geworden, er hat in der Familie keine Heimat mehr. Vor die Frage gestellt, ob sie beim Vater oder bei der Mutter bleiben wollten, hatten sich die Kinder einhellig für die Mutter entschieden. Er war damit seine Kinder losgeworden, nicht aber seine Verantwortung für sie.

Der Freund, der ihm zu dieser Zeit am nächsten steht, in den er große Hoffnungen gesetzt hatte, Hermann Hesse hat sich zurückgezogen. In aller Heimlichkeit hat er einen Roman geschrieben, 'Demian', von dem er jedoch niemanden wissen lässt, am wenigsten  Gusto Gräser.

Der sitzt im Gefängnis, trinkt Wassersuppe, wartet auf sein Urteil. Er hatte sich seither – zwei Jahre lang! - illegal in der Schweiz aufgehalten, deshalb die Verhaftung. Jetzt will er endlich, notgedrungen, einen Antrag auf Aufenthaltsbewilligung stellen. Er hatte gehofft, die Justiz werde an zwei oder drei "Mißgriffen" genug haben. Damit spielt er auf frühere Verhaftungen und Abschiebungen an, aus Zürich im November 16, aus Bern im Januar 17. Jetzt hofft er auf einen menschlich fühlenden Richter, der ihn nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes richten werde. Worin er sich wiederum täuschen sollte, denn das (nicht erhaltene) Urteil lautete offenbar auf Landesverweisung zum Jahresende.

Eine Hilfe erwünscht er sich von Adolf Stocksmayer. Vorsichtig fragt er an, ob der Freund nicht nach Zürich kommen wolle, um die Herausgabe der Bilder - damit sind seine Zeichnungen 'Zeichen des Kommenden' gemeint - voranzutreiben. Sie sollen gedruckt werden und ihm dann Einnahmen verschaffen. Dazu kommt es aber nicht mehr. Die Mappe erscheint erst nach dem Krieg, wird vermutlich 1924 in Dresden hergestellt.

Doch zurück zu seiner dreifachen Eingangsfrage. Wie? Wo? was? Es sind offenbar die Fragen, die ihn im Gefängnis bedrängen. Wie geht es weiter, wenn ich wieder frei komme? Werde ich noch eine Familie haben? Ist der Grund, den ich mir in Ascona geschaffen habe, zu halten? Hat es überhaupt noch Sinn, dorthin zurückzukehren?

Noch sind die Dinge nicht entschieden. Noch denkt er an das, was auf seinem Grund und Boden grünt, reift und sich rundet. Aber die Ahnung des Herbstes ist da. Ein Abschied von Haus und Garten, von Frau und Kindern, von der ersten und einzigen Bleibe, die er in seinem Wanderleben gefunden hat, zeichnet sich ab.

Was ihn trägt in diesen und anderen Stürmen, ist sein Verwurzeltsein im All-Tag, sein Wieder-Kindsein, sein Allvertrauen. In seinem letzten Satz mag der stille Anruf stecken, sehr zurückhaltend die Hoffnung: Wenn ihr würdet und wäret wie die Kinder, ohne Angst um die Zukunft, ohne Sorge ums Überleben, dann könnten wir vielleicht zusammen bleiben. Seht her, ich schicke euch Brotmarken und Geld, ich bin nicht der verantwortungslose Rabenvater, als den man mich hinstellt.

Und wie immer sein unerschütterliches, nicht zu entmutigendes: Wohlauf!
Oben

Zurück