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Karl Gräser an seinen Bruder Gusto |
Als einziges Dokument der Beziehung Karls zu seinem Bruder Gusto hat sich ein undatierter Brief erhalten, der sich im Archiv der Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein befindet. Er muss während eines Aufenthalts von Mutter Gräser auf dem Monte Verità geschrieben worden sein. Im Bericht von ihrem dritten Ascona-Aufenthalt, der sich von November 1906 bis Oktober 1907 erstreckte, berichtet Charlotte Gräser, dass Gusto einen Kahn fertiggestellt habe. Von diesem Kahn ist im Brief von Karl die Rede; sein Schreiben also etwa auf Frühjahr oder Sommer 1907 anzusetzen. Aus anderen Quellen wissen wir, dass Gusto sich zeitweise bei Bewohnern von Ascona verdingte und in seinem Einbaum schlief, den er unter den Brissagobrücken festgemacht hatte. Normalerweise konnte er selbstverständlich im Hause seines Bruders schlafen und auf dessen Gut auch mitarbeiten. Dass er Karls Haus verlassen hatte und ins Dorf hinuntergegangen war, dort das Brot von Fremden aß und die Nächte in seinem Boot verbrachte, ist der Anlass dieses Briefes. Ein heftiger Streit muss dem vorangegangen sein mit vermutlich eben den Vorwürfen Karls, die er im Brief wiederholt: Er solle von seiner wildfreien Lebensweise ablassen, endlich sesshaft werden, einen ordentlichen Beruf ausüben und heiraten. Das war selbstverständlich auch der Wunsch der Mutter. Ihre Anwesenheit, ihr Drängen mag zum Ausbruch des Bruderzwists beigetragen haben. Nun aber leidet sie schwer unter dem Bruch des Familienfriedens und der Trennung von ihrem Gusto. Offenbar auf ihren Wunsch hin schreibt Karl den folgenden Brief an seinen Bruder, der ihn zur Rückkehr bewegen soll. Im Frühjahr 1907 war Hermann Hesse mit Gusto zusammen gewesen, war sein „Schüler“ geworden, hatte ihn aber nach einigen Wochen wieder verlassen. Karl scheint darauf anzuspielen, wenn er schreibt: „Dein Wesen besticht alle, mit denen Du welche Verbindung findest, jedoch nur kurze Zeit … Zweifel bringst du, Sehnsuchten weckst du, aber bloß, um so Angeregte nach einer Zeit – ganz zu verlieren“. Alle Angaben und Anspielungen – auch die Erwähnung der Anwesenheit des Bruders Ernst - führen zusammengenommen darauf hin, den Brief auf den Sommer oder Frühsommer 1907 zu datieren. |
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Unsere Mutter ist in Mitleidehaft. Sie, haben wir beide nicht das Recht, in unsere Händel hineinzuziehen. Es ist unsere Sache, uns gegenseitig soweit aufzugeben, dass Mutter nicht leidet. Darum bitte ich, wie bis jetzt [aus dem Dorf Ascona] heraufzu-kommen, wie bis jetzt hier [in meinem Hause] zu sein, auch hier zu schlafen, sich jedoch dabei durchaus als Gast der Mutter zu betrachten. Zu meiner Genesung kannst Du nichts beitragen, sorge, dass Du nicht weiter zuviel zum Gegentheil verhilfst. Unser guter Ernst [der jüngste der drei Gräserbrüder] fängt auch an, hart und ungerecht zu werden. – Es sind die Folgen seines Aufenthaltes an unzeitgemäßem Ort. Er ist angekränkelt, angesteckt, wie ich es war, von Ideen, die in den Himmel wachsen und dann ihre irdische Berechtigung nicht mehr haben. – Obwohl mir das „Maßlose“ deines Strebens durchaus klar ist, verbinden mich mit Dir doch noch gemeinsame Interessen. Wir haben eine Mutter, die die Freude jedes einzelnen von uns mitfühlt wie seinen Schmerz, und dieser neutrale, besser, gemeinsame Punkt ist es, der mich diese Worte, wie sie eben sind, finden lässt. Dein Werk kann sich in Dir nur erfüllen, wenn du es in Zusammen-hang bringst mit der heutigen Zeit. Noch nie hat ein Mensch, auch der größte nicht, etwas vollbracht ohne die Mithülfe seiner Umgebung. Es wäre auch unverständlich, dass sich etwas realisierte, das kein Bedürfnis des Ganzen ist. Was Dir und andern gelungen ist, gelang mit Hülfe der Umgebung. Dein Streben scheint mir nicht schlecht, im Gegentheil, aber himmelschreiend maßlos und darum eitel, unwahr, unwirklich. Dein Wille, dein Sehnen ist in keinem Einklang mit deiner Macht, hier rechnest du mit unserer Zeit, in der es, wie du meinst, absolut nicht mehr so weitergehen kann; und doch lauft das Werk, das große, wie du siehst. Du und wir alle können nicht dies oder jenes arrangieren, um dieses große Werk zu beeinflussen, aber erkennen können wir, mit offenen klaren Sinnen, die überall hineinschauen, „wie es ist“. Nicht Seiten des Ganzen betrachten sondern das Ganze selbst, und du kannst noch so wenig von Grund auf, darum kannst Du auch nicht dauernd überzeugen. Sicher überzeugst Du mit dem, was du hinter dir hast und was Du gerade hast, nie – niemals mit dem, was kommen „wird“. Es geht ja seinen Gang, wozu denn sich in Sehnsuchten verzehren, die erst in unseren Urenkeln – vielleicht, als Sehnsuchten berechtigt sind. – Auch hierin kann die Tugend zum Laster werden, wie alles, wenn es maßlos ist – wenn das Ersehnte mit dem eigenen Leben nicht mehr erlebt werden kann. – Eben kommt Mutter in ihrem Leid und sagt als Morgengruß, dass es ihr unmöglich sei, ein solch unnatürliches Verhältnis zu ertragen und bittet, du möchtest doch heraufkommen können und hier wohnen und dich an dem Nöthigen bethätigen können, sie fühlt auch, dass Du ein Angriffsfeld brauchst. Nun weiter. Deine Arbeiten wären gut, aber sie sind nicht begehrt, bloß von dir, dann sind sie nichts, und wieder wären sie alles, das Beste, wenn sie außer Deinen ehrgeizigen Plänen - die sich aber nicht realisieren können, weil du keine Helfer hast – wenn sie in das Allgemein-Menschliche gerückt würden. … Du wirst sicher Achtung, Liebe und alles, was man mit Glück bezeichnet, auch ein Weib, erringen können, wenn Du Deine wahren Bedürfnisse äußerst. Dein Wesen besticht alle, mit denen Du welche Verbindung findest, jedoch nur kurze Zeit, sobald die Andern erkennen, dass sie auf dem Weg mit Dir ihre natürlichen Bedürfnisse verhüllen lernen müssen. Machtlos klein sein wollen, mit der größten Sehnsucht nach Macht des eigenen Ichs. Du bist genügend fähig, um als ehrlicher Mann zu leben, deine Unfähigkeit liegt bloß in dem Verhältnis, das du zu allen einnimmst. Nicht betrachte dich als etwas Besonderes, das freih und in Allem anders grünen müsse wie die andern, du bist ja ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen, lebe sie! Sogar einen Rath will ich dir hier geben, und der ist, mache dich ansässig. Du wirst liebenswürdig – auf diese Art. Du hast dadurch Gelegenheit, Beziehungen zu knüpfen, die von Dauer sind. Du hast Ursache, für etwas zu wirken, zu gestalten und vor allem „deine wirkliche Kraft“ kennen zu lernen. Ich glaube, dies ist ein Weg, wo du wirklich bescheiden, wirklich einfach [werden] und wirklich zu Deinen Bedürfnissen kommen kannst. … Ohne Besitz kannst Du ja nicht leben, du Kleid- und Kahnbesitzer, erweitere nun diesen soweit, dass nicht bloß einige Passionen, dass sich alle Passionen in dir sich ausleben können, und da könnte es leicht sein, dass wir auch zusammenkommen. … Zweifel
bringst du, Sehnsuchten weckst du, aber bloß, um so Angeregte
nach einer Zeit – ganz zu verlieren. Dein Streben ist also eitel,
nicht weil es in falscher Richtung geht, weil es maßlos ist.
Deine Entwicklung stockt, nicht weil die Anlage fehlt, bloß
weil du deine Kräfte nicht gibst, wo sie benöthigt sind. Du
bist, wie Ott schreibt, ein von der Schönheit, von der Güte
Besessener, ohne dieser wirklich Ausdruck geben zu können, dein
Streben geht zu sehr nach der Erscheinung, die du mit deiner Macht
nicht erfüllen kannst, alles ist aber gut in sich, wenn du daran
glaubst, dass Du ein einfacher, genügend begabter Mensch bist,
der lebt um andern Menschen dienend, frei dienend, selbst Liebe und
Leben zu empfangen. |