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Gustos Mutter
Charlotte Gräser, geb. Pelzer (1853 - 1920)

Gustos Mutter wurde in der Familie Grossika genannt. Charlotte Gräser, obwohl Arzttochter, war keine gebildete Frau. An ihrer Ausbildung wurde offensichtlich gespart. Ihre Welt beschränkte sich tatsächlich auf Kinder, Küche, Kirche, auf den Raum der Familie. Grossikas schlichtes Gottvertrauen, ohne allen Anhauch von Frömmelei, wird durch ihr Tagebuch allenthalben bestätigt. Keineswegs häufig, nicht als gewohnheitsmäßige Litanei, aber immer dann wenn Ängste und Sorgen sie bewegen, geht sie in die direkte Anrede Gottes über. So schreibt sie am Ende des Jahres 1893, als die fortschreitende Krankheit ihres Mannes schon das Schlimmste befürchten läßt: "Auch dieses Jahr ist vorüber, und ich muß [Dir], Allmächtiger, auf den ich vertraue, Dank sagen, daß Du uns bis hieher die Kraft gegeben hast zu leben. Erhalte meinen guten Mann und [die] Kinder." (Carl Samuel wird von ihr immer nur als gut oder lieb oder heiter bezeichnet!) Und am Silvesterabend des Jahres 97 trägt sie in ihr Tagebuch ein: "Mit meinem Ernst und klein Böhm sitze ich hier und erwarte die Stunde, mit welcher wir das neue Jahr antreten. Gott, in deine Hände befehle ich mich." (27)

Wir dürfen deshalb durchaus als zutreffend annehmen, was Gräser bei Fouriere unterstreicht: "Meine Mutter gehörte einer vor allem Draussen behüteten gefühlvollen Jugendzeit. Sie war allgegenwärtig wie das gütige Licht. Ihr Wirklichkeitssinn, ihre uns oft fast erschreckende Selbsthingabe von unerschöpflicher Milde." (Das Wort "Hingabe" ist von Gräser anstelle eines anderen eingesetzt worden!) "Unser religiöses Empfinden entfaltete sich am regelmässigen Besuch des Gottesdienstes und im Vollzug der uns immer teuren Abend- und Morgengebete mit der Mutter."

O Mutter, Mutter, dein getreu Erbarmen, das wärmte gut;
liess mich in Heiterlust und Lieb erwärmen.
Oh Mutter, Mutter, deinen Heimatschranken verdank ich meiner Mannheit heitern Mut, und was ich bin, Dir, Mutter, muss ichs danken.
Was wär ich denn, hättst Du mich nicht gehemmt?
Ich wankte hin, mir selbst und allem fremd.

Eine vor allem Draußen behütete gefühlvolle Jugendzeit - das traf wohl zu. Und der Junge, der sie erlebt, weiß sich dem weniger gefühlvollen Draußen noch auf lange zu entziehn. Wiederum sieht sich Gräser in den Erinnerungen von Fouriere gespiegelt: "Er ist nicht ohne Eigensinn, in seinem Verhältnis zur Welt noch vollkommenes Kind, doch vermag er mit grosser Geschicklichkeit sich allen Anforderungen von aussen zu entwinden, jedem Zwang, der nicht aus seinem eignen Innern entstammt, rasch wieder zu entschlüpfen. Was später Anlass für viele Sorgen und Kümmernisse werden sollte, die Schule, war noch völlig bedeutungslos, die dort gebotenen Kenntnisse liessen ihn gleichgültig, die Leistungen genügten, überstiegen aber nicht den Durchschnitt. Zur Welt des Altertums war noch keine Pforte aufgetan. Im Gegenteil: damals wie noch lange Jahre danach blieb die Antike infolge der unergiebigen Trockenheit ihrer gelehrten Vermittler fremd wie aus kaltem Gips und abstossend für die erwachende Phantasie, die sich weit lieber dem Dunkel gotischer Kathedralen zuwandte, sich heimischer fühlte im überschäumend bunten Treiben mittelalterlicher Städte und Burgen."

Dazu gab es in den Gassen von Kronstadt, Hermannstadt und Mediasch reichlich Gelegenheit. Man füge hinzu: in den Wäldern, Bergen und Höhlen des Karpatenlandes.

Und doch war das noch eine leichtre Zeit;
Denn andres Lernen hält uns noch bereit Des Lebens Drang, des Herzens Sturmgewalt,
Wo jede Lehre sich mit Herzblut zahlt.
Wie warst du da so fest und gut und klar,
Du wußtest alles, was mit jedem war,
Und hast mit jedem seine stille Not Durchkämpft ...

So Karl Stieler in seiner Dichtung ,Ein Winteridyll, die Gräser sehr geschätzt hat und öfters rot unterstreicht.

In den entscheidenden Entwicklungsjahren des jungen Gustav Arthur wurde die Familie Graeser von schweren Schicksalsschlägen und Umbrüchen heimgesucht. 1890 die berufliche Niederlage des Vaters, sein Asthma, er erstickt buchstäblich an der Enge der dörflichen Unmgebung, ihn die ihn seine berufliche Stellung gebannt hat. 1891 stirbt Gustos achtzehnjährige Schwester Charlotte nach der Geburt ihres ersten Kindes einen qualvollen Tod; ihr verwitweter Mann heiratet die zweite Schwester Josefin; 1894 stirbt der Vater kurz vor der ersten Niederkunft von Josefin; die Mutter muß ihre Wohnung aufgeben, Gusto muß das Gymnasium verlassen. Es wäre verwunderlich, wenn eine solche Häufung von tiefeingreifenden Wechselfällen sich nicht eingezeichnet hätte in das Bewußtsein des jungen Menschen, ihn nicht zu einem schweren, streng prüfenden Lebensernst bestimmt hätte.

Ansonsten freilich genoß der junge Gusto die behütete Kleinwelt eines Kindes der gebildeten Mittelschicht. Man feiert das Gustav Adolf-Fest mit Freunden und Verwandten, besucht bei dieser Gelegenheit die Kunst- und Gewerbeausstellung und trinkt auf der unteren Promenade einen Eiskaffee.

Die Festgesellschaft reist anschließend nach Sinunier, bewundert das herrlich gelegene Schloß und ist hoch erfreut, den (rumänischen) König mit der Königin am Arm ihren Morgenspaziergang machen zu sehen (Tgb 4). Ein andermal hat der Vater "eine Kommission bei Rosenau nahe vom Buszesz" zu

machen, Frau und Kinder dürfen ihn begleiten und schließen noch einen Ausflug nach Neustadt und Wolkendorf an (Tgb 4 R). Mman verkehrt mit den Heidendorffschen (Tgb 5 R) und beachtet, daß die entfernt verwandte "Teutsch Paula auch ähnlich wie unser theures wertes Lottchen plötzlich nach kaum einer Woche ihrer Entbindung gestorben ist" (Tgb 14). Der Vater geht auch mal, wohl auf Einladung, "nach Soymos auf die Jagd", während schon der erste Schnee liegt (Tgb 13).

Aus dem Tagebuch von Grossika - so wurde Charlotte Gräser in der Familie genannt - können wir entnehmen, daß Gusto nicht gerade ihr Lieblingskind war. Ihre Gedanken kreisen vielmehr bevorzugt um die erstgeborene Tochter, die jung im Kindbett verstarb, und um ihren erstgeborenen Sohn Karl, den sie zärtlich Karlutz nennt. Gusto erscheint erst unter "ferner liefen", wird (im Tagebuch) nie besonders beachtet, seine frühen Eskapaden werden mit Stillschweigen übergangen. Aus diesen Beobachtungen und aus den Gedichten ihres Sohnes ergibt sich folgendes Bild:

Gusto, als der von der Mutter weniger Begünstigte (er ist der Vierte in der Geschwister-folge), wirbt leidenschaftlich um ihre Liebe und Anerkennung. Sein außergewöhnlicher Weg mag teilweise aus dem Bemühen zu erklären sein, der frommen Mutter durch ein Übersoll von Frömmigkeit, Reinheit und Treue sich zu empfehlen. Da aber der erwachsen werdende Sohn die verlorene Einheit nicht zurückgewinnen kann, nimmt seine Sehnsucht immer mehr die Wendung zur mystischen Mutter, zur kosmischen Mutter Natur.

Es scheint sinnvoll, Gustos Mutterbeziehung mit der in mancher Hinsicht ähnlichen seines Freundes Hermann Hesse zu vergleichen. Auch der junge Hesse wirbt und kämpft um die Zuwendung seiner Mutter. Auch er fühlt sich von ihr vernachlässigt, auch ihm bedeutet sie mehr als der ebenfalls schwächliche Vater. Er muß jedoch die schmerzliche Erfahrung machen, daß ihn die Mutter gerade da ablehnt, wo er sein Eigenstes und dem mütterlichen Erbe Verwandtestes zu geben glaubt: in seiner Dichtung. Die moralisierenden Vorhaltungen Marie Hesses treffen ihn schwer, wirken negativ auf seine erotische Entwicklung. Er bringt es in der Folge nicht über sich, die Mutter in ihrem Leiden und Sterben zu begleiten; starke Schuldgefühle bleiben zurück. Schuldgefühle, die ein Verlangen nach Buße in ihm wecken, die ihn zu Franziskus treiben, zu den Einsiedlern in der Wüste Thebais und letztlich zu Gusto Gräser.

Bei Gräser dagegen geschieht das Seltsame, daß seine Hingabe an die Große Mutter ihm zugleich die Liebe der eigenen Mutter zurückbringt. Als er dem Naturheil-Glauben seines Meisters Diefenbach sich ergibt und vollends, als er wegen Kriegsdienst-verweigerung ins Gefängnis muß, da hören wir zum erstenmal Herztöne der Mutter für ihren Gust.

"Gusti st so rein und wahr. Gott leite seine Wege." Sie schreibt aus seinem Tagebuch ab und legt seine Gedichte ihrem eigenen bei. Zwar kann sie den Sinn seines Weges nicht nachvollziehen, aber sie steht zu ihrem Sohn. "Er strebt zwar für die jetzt lebenden Menschen etwas zu hohe Ideale an. Er ist aber eben so beanlagt ... die Menschen durch seine Bilder und Anschauungen zu einem wahren, guten, liebevollen Leben zu führen. Wenn auch nur ein Samenkörnchen von dem Guten was er erstrebt, auf gut Land fällt in dieser großen Welt, so wird er glücklich und zufrieden sein. Gott leite seine Wege zum Wohle vieler Menschen."

Sie reist mehrfach zu ihrem Sohn nach Ascona, sie steht auch zu seinen Gedichten, obwohl die in mancher Hinsicht weit anstößiger sind als die des Sohnes von Marie Hesse: "Den 24 gegen den 25ten in der Nacht von Gust geträumt, seine Gedichte und Zeichnungen in 2 pracht Bänden vor mir gesehen mit Ihm zusammen u Ihn umarmt u geküßt habe."

Die moralisierende und verbietende und insofern negative Mutter dort - die umarmende und küssende Mutter hier. Wer will, mag sogar von einem Inzesttraum der Mutter sprechen. Ähnlich "inzestuöse" Anwandlungen gibt es auch bei Gusto, der noch als Fünfundzwanzigjähriger seine Mutter bittet, zu ihm zu ziehen. Denn: "nur mit mir vereint könne er ein Weib (Frau) für sich finden. Ich habe ihn auch bis in die kleinste Falte seines Herzens verstanden", schreibt die Mutter in ihr Tagebuch, aber sie lehnt vernünftigerweise ab.

Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß sich dieses gute Verhältnis später geändert hätte. 1913, zum sechzigsten Geburtstag der Mutter, schickt ihr Gusto ein längeres Gedicht, das mit dem Bekenntnis endigt:

... und - wird Einer mutig und ehrlich und freih -sein Mutter-Geheimnis ist immer dabei.

Als er 1918 seine TAO-Dichtung an Hermann Hesse schickt, da vergißt er nicht zu erwähnen, daß das erste Exemplar an seine Mutter gegangen sei. "Sie, Lieber, sind der dritte, dem ich die Sprüche schick - die ersten bekam meine Mutter."

Hesse hatte Charlotte Gräser schon 1907 in Ascona kennengelernt als die Frau, die ihrem Sohn von Zeit zu Zeit einen Korb voll Obst brachte. Er hatte beobachten können, wie da eine Mutter, obwohl aus anderen Überzeugungen lebend, trotzdem mit ihrem Herzen zu ihrem Sohne hielt - gegen den Hohn und die Feindschaft der Umwelt. (Ihre eigene Tochter, "die Josefien schickte mich mit den Worten fort: geh in die Schweiz, damit du kuriert wirst ... Dies alles nur, weil ich meine 3 Söhne nicht auch verurtheile".)

Was Wunder, daß Hesse diesen Gräser um sein Mutter-Verhältnis beneidet. Dem ist zugefallen, was er sich sehnlich wünschte. Und es ist ihm zugefallen, obwohl (oder sogar weil) dieser Sohn aus allen familiären Verbindlichkeiten ausgebrochen ist. O Mutterherz, zu sehr nit wein, es muß ja sein, hatte er geschrieben - und war unbeirrt s e i n e n Weg gegangen, hatte sich losgelöst von der persönlichen Mutter, um die überpersönliche zu finden - und hatte am Ende auch noch die leibliche Mutter für sich gewonnen. „Meine Mutter konnte mir nicht folgen“, sagte er mir, „aber sie hatte Herz“.

"Niemand liebte ihn, niemand war mit ihm vertraut, nur seine Mutter", sagt Hesse von seinem "Demian" (GW V; 51). Wohl möglich, daß sich in einem solchen Satz (auch) das tiefe Vertrauen von Mutter Gräser zu ihrem Sohne widerspiegelt.

Wie Umwelt mich auch "Träumer" höhnt,
ein Mutterwort hat's mir verschönt -
hah, wie mir das ins Tiefste lacht:
Geht, geht, mein Sohn hält träumend Wacht!



Quellen:

Charles Pierre Fouriere

Die Einkehr des Herakles. Berlin 1941.

Charlotte Gräser

Tagebuch (1886-1910). Kopie im Deutschen Monte Verita Archiv (DMA), Freudenstein.

Daniel Graeser

Graeser-Biedersfeld’sche Familien-Chronik. Bad Baasen 1885. Kopie einer Abschrift (Auszug) im DMA.

Ladislaus Thurzo Nagy

Die Gräsers. Sammlung, Erinnerung, Familiengeschichte. Budapest 1963. Aus dem Ungarischen übersetzt von Nora Kotlan. Kopie einer Abschrift im DMA.

Karl Stieler

Ein Winteridyll. Leipzig 1919. Mehrere Exemplare im NL Gräser, DMA.