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Ein Notruf in die Schweiz
Über
den
Aufenthalt von Elisabeth Gräser in Stuttgart 1918/19 wissen wir nur aus
einem
Brief des Göppinger Oberstudienrats Julius Glemser an den Schweizer
Psychiater
Auguste Forel. Er wird deshalb hier in voller Länge abgedruckt. Da der
Brief
eine Reihe von Unrichtigkeiten enthält, sind die Anmerkungen am Schluss
zu
beachten. Die
Reinsburg über Stuttgart, heute Karlshöhe
genannt. Dort und
auf der Gänsheide
wohnte 1918/19 Elisabeth Gräser mit ihren Töchtern Gertrud und Theodora.
Jul Glemser, Göppingen, an Prof. Auguste
Forel, Yvorne (Schweiz): 28. IV.
19 Sehr
geehrter Herr Professor! Am
letzten Samstag, 26. IV., habe ich
von Wangen-Stuttgart ein Telegramm an Sie gesandt: Die Kinder Gräser in
Askona
in höchster Geldnot. Bitte sofort 500 frs oder mehr hinschicken.
Erklärung
folgt. OR Glemser als Freund der Frl. Pross. – Sie
kennen Gusto Gräser, den Prediger edlen Menschentums, den
uner-schrockenen Zeugen der Wahrheit; vielleicht kennen Sie ihn besser
als ich. Vor dem
Krieg hat er in Stuttgart gewirkt. Bei Ausbruch des
Krieges ist seine Familie zu seinem Bruder Karl Gräser gezogen, der in
Askona
ein größeres Landgut hatte. Gusto Gräser blieb zunächst in Stuttgart,
wurde
dann aber im Oktober oder November als „lästiger Ausländer“ ausgewiesen
– in
erster Linie, weil er sich weigerte, Blut zu vergießen. Er ist
Siebenbürger
Sachse von Geburt. Sie schafften ihn nach Bregenz. Seine
Frau ist von Askona mit einem etwa vierjährigen
Töchterchen zu ihm geeilt. Zu dritt wurden sie nach Wien und weiter
nach
Buda-Pest gebracht. Zunächst wurde er von Psychiatern verhört und
beobachtet.
„Wie denken Sie über den Staat?“ – Seine Antwort: „Sei wahr und echt.“
– Damit
konnten sie natürlich nichts anfangen. Tauglich ist er schon – aber er
schwört nicht
zur Fahne. Sechs Wochen Gefängnis. Dann
geht’s in seine Heimat nach Kronstadt. In der Kaserne
versuchen sie es zunächst mit einer sonst beim Militär undenkbaren
Geduld – er
zieht die Uniform nicht an. Es muß ein merkwürdiger Anblick gewesen
sein: wie der
Mann in seinem Täufergewand im Kasernenhof etwa lesend mit einem Buch
zwischen
den exerzierenden Rekruten auf und ab geht. Die Soldaten fragen ihn: Ja
ist es
denn nicht recht, in den Krieg zu ziehen? Klug sind seine Antworten: Tu
was
deine innere Stimme dich heißt! Sei nur ganz wahr. Viele werden
unruhig. Da
stellt ihn der General vor die Entscheidung: Entweder ziehst du jetzt
die
Uniform an oder du wirst morgen erschossen. „Tut was ihr müßt“, ist
seine
Antwort. Er
nimmt von Frau und Kind Abschied. „Ja, Gusto, du kannst ja
nicht schwören; wir hatten ja immer damit gerechnet, daß wir auch das
Leben
lassen müssen für die Wahrheit – morgen früh komme ich mit dem Kind
wieder, ich
werde dabei sein, wenn sie dich erschießen. Aber“, fügt sie hinzu und
er sagt dasselbe,
„ich habe gar keine Bangigkeit, daß ein Unglück geschehen dürfte.“ Am
andern Morgen ist die Treue schon um sechs Uhr an der etwa
eine Stunde vor der Stadt gelegenen Kaserne – ihr Mann ist fort!...
Sollten sie
doch ein Unrecht begangen haben? Doch nein, sie fühlt ja nichts derartiges. Da kommt endlich ein bekannter
Offizier und kann
ihr sagen, daß ihr Mann in der Nacht fortgeschafft wurde – nach
Klausenburg. Dort
brachten sie ihn wieder in eine Irrenanstalt, um ihn weiter
zu beobachten. Frau Gräser reiste nach. Der Leiter der Anstalt tröstet
sie in
herzlicher Weise und beruhigt sie über die nächste Zukunft, so daß sie
nach
Ascona zurückreisen kann. Zu ihren Kindern, für die sie unter dem
Herzen schon
ein Schwesterlein trägt. Sechs
Monate ist der Mann in Klausenburg, noch zweimal wird er
vor das Erschießen gestellt; er ist bereit. Endlich entlässt man ihn
als „mit
verkehrten Ideen behaftet“. (Mittlerweile haben noch recht viele solche
verkehrte Ideen bekommen!) Er eilt
nach Ascona. In der Morgenfrühe tritt er ein, da reicht
ihm seine Gattin ein achtes, vier Stunden altes Kindlein als Willkomm! … [Lücke ?] Haus von Karl Gräser in
Ascona Der
Bruder
Karl starb und hinterließ sein ganzes Gut von 100 ha der Familie Gusto
Gräser,
die es nun mit Freuden bebaut hätte. Doch war scheint’s bei der
Übernahme eine
Hypothek von 28 000 frs abzulösen. Das hat ein Schwindler, Henger oder
Heng aus
Deutschland, benutzt, um ihnen das Ganze abzugaunern, auch das Haus
samt
Einrichtung! Gräser wehrte sich nicht: Wenn es ein ‚Haber’ ist, laßt es
ihn
haben! Sie pachten ein anderes Häuschen mit etwas Land und bebauen es.
Da kommt
der Zusammenbruch in Deutschland. Nun duldete es ihn nimmer in der
Schweiz, er
muß zu den Deutschen und helfen retten, was
an
Menschentum zu retten ist. Seine Gattin begleitet ihn; sie kann ihre
Kinder
(das jüngste ist mittlerweile 2 Jahre alt) wohl allein lassen. Die
17jährige
Dora ist ein gutes Hausmütterchen und Allander mit 20 Jahren ein guter
Beschützer. 8 Monate schon wirkten Vater und Mutter in Deutschland: o solche Männer und Frauen sollten wir in Deutschland mehr haben, die durch ihre ganze Erscheinung laut zeugen gegen Mammonismus und Materialismus und gegen jede Selbstsucht. Nicht nur durch Wort und Rede – wer hört denn in solchem Wirrwarr noch auf ein vernünftiges Wort? Seit 3 oder 4 Wochen ist der Mann in München, die Frau allein in Stuttgart. Sie geht in die Paläste und Hütten. Merkwürdigerweise: In der unruhigen Streikzeit wohnte sie in einem der reichsten Paläste auf der Reinsburg, ging tagsüber unter die aufgeregten Arbeiter auf dem Schloßplatz und konnte zu ihnen reden und sie beruhigen. Doch wirkliche Teilnahme findet die Frau bei den „Reichen“ kaum.
Nun im
7ten Monat reicht das Geld den Kindern nicht mehr. Äußere
Ursachen dafür zu finden, wäre ja nicht allzuschwer, aber der tiefere
Grund ist
eben die Herzenshärtigkeit der Menschen, die kalt diese zwei Menschen
die
schwere Last schleppen lassen, die sie doch selbst tragen sollten. Am
Gründonnerstag erfuhr ich zum erstenmal von der Geldnot. Weil eine Frau
Oberregierungsrat eine Sammlung unter ihren Bekannten machen
wollte, tat ich zunächst nichts, doch bis Mittwoch war eigentlich noch
nichts
da. Es ist ja das auch nicht so sehr zu verwundern: wie kann die „Dame“
bitten,
wenn sie selbst sich nicht bis zum äußersten anstrengt und es ihr in
ihren
seidenen Sesseln so behaglich vorkommt. Die Kinder sollten Rechnungen
von 400
frs bezahlen und hatten keinen Rappen. Am liebsten wäre ich selbst
helfend
eingesprungen, aber ich selbst verfüge über 1000 Mk Kriegsanleihe ( + 8000 Mk Kriegsanleihe der Kinder) und habe
auf der
Sparkasse und Girokasse 1200 Mk – das bis 1, VIII. vorausbezahlte
Gehalt
inbegriffen! – So
machte ich mch ganz energisch auf die Suche nach Geld und
konnte nach den 2 Tagen, die mir zur Verfügung standen, der Frau Gräser
200 Mk
einhändigen. Eine Gönnerin ließ den Kindern nachträglich, wie ich heut erfahre, 100 frs aus eigenem schweizer
Guthaben
überweisen. Das war ja eine Hauptschwierigkeit nun: das deutsche Geld
ist so
entwertet in der Schweiz, dass es überhaupt fraglich ist, ob es richtig
ist, „Geld“, das nicht
viel gilt, für die
Schweiz zu sammeln! Ich sagte darum verschiedenen der reichen Damen:
legt doch
von euren Perlen der Frau in die Hand, daß sie in der Schweiz dann den
vollen
Wert einlösen kann! – Doch so weit sind die Närrinnen noch nicht. Ich
will die
Antworten vergessen – sie sollen mir nicht weiter im Wege stehen und
meinen
Glauben an das Gute im Menschen mindern. Doch
die Kinder müssen
Geld bekommen. Die Mutter will doch auch wieder und zwar
bald nach Ascona. Wenn die Schulden nicht bezahlt werden, dann schieben
sie die
Kinder einfach über die Grenze, und die Mutter darf gar nicht mehr in
die
Schweiz. Da blieb wohl nichts anderes übrig, als Hilfe aus der Schweiz
selbst
herbeizurufen. 3 Adressen standen mir in Stuttgart zur Verfügung.
Zunächst zwei
christliche Erholungsheime. Aber Sie wissen: Gusto Gräser trägt keinen
Stempel
irgendeiner Gemeinschaft – leicht versagen sich solchen „Einheriern“
die im
Heerhaufen Marschierenden, trotz Lukas X, 25. – Auguste Forel Herr
Professor! Sie sind mir von verschiedenen Seiten als edler
Menschenfreund geschildert worden! So telegrafierte ich an Sie! Ich
weiß nicht,
ob Sie selbst in der Lage sind, eine solche Summe herschenken zu können
– und
doch habe ich das Empfinden, daß ich mich an den richtigen Mann gewandt
habe … Und
nun, verehrter Herr Professor, genug für heute. Fräulein
Proß bitte ich herzlichst zu grüßen. Sie hat Ihnen ja schon von meinen
Plänen,
eine Schulsiedlung zu begründen, erzählt … Das Ganze ist mittlerweile
in ein
neues Fahrwasser gekommen: ich kenne nun das „Lichtland“,
meine Füße haben es betreten – es ist wohl der schönste Fleck im
schönen
Schwabenland: das Gestüt Weil-Scharnhausen bei Eßlingen am Neckar. Noch
gehört
es dem König – aber ich steh schon in ganz regem Gefecht mit ihm und
seinem
Oberstallmeister. Hoffentlich kann ich bald Entscheidendes darüber
sagen – auch
Ihnen, den ich im Geist als Bundesgenossen betrachte.
Ergebenst grüßt Sie
Ihr
[Jul Glemser] |
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Anmerkungen:
Glemser: Ein Julius Glemser publizierte 1932 in ‚Die Internationale Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung’ über die Freigeldlehre von Silvio Gesell. Nach Zeit und Denkrichtung könnte er mit dem Briefschreiber identisch sein. Forel: Der Psychiater Auguste Forel (1848-1931), langjähriger Direktor der Landesirrenanstalt Burghölzli in Zürich, gilt als „Vater der schweizerischen Psychiatrie“. Er war ein berühmter Gehirnforscher und Ameisenforscher, zugleich Freidenker, Sozialist, Pazifist, Lebensreformer, Sozialreformer und Philosoph. Ein bahnbrechender Aufklärer, Vordenker und Vorkämpfer auf vielen Gebieten: Gleichberechtigung der Frau, Sexualreform, Religionsfreiheit, Abstinenzbewegung, Friedensbewegung, Vereinigte Staaten von Europa und der Erde. Er hat Gusto Gräser unterstützt; sein Mitarbeiter Adolf Grohmann, Begründer der Arbeitstherapie und einer lebensreformerisch ausgerichteten Klinik, war mit den Gräsers befreundet. Er schrieb 1903 die erste Monographie über den Monte Verità: ‚Die Vegetarier-Ansiedelung in Ascona und die sogenannten Naturmenschen im Tessin’ (Halle a. S. 1904). OR: Oberstudienrat? – Glemser plante eine „Schulsiedlung“, muss also Lehrer gewesen sein. Pross: Elise Pross, Freundin und Mitarbeiterin von Forel. Zeuge der Wahrheit: Forel könnte Gräser schon 1899 kennen gelernt haben, als dieser in Zürich auftrat. Belegt ist, dass „der unerschrockene Zeuge der Wahrheit“ sich damals mit dem Sozialpädagogen Adolf Grohmann befreundete, einem weitgereisten Abenteurer und jetzigen Mitarbeiter von Forel. Dieser soll den Monte Verità ebenfalls besucht haben. Siehe dazu: Kirsten Reinert, Frauen und Sexualreform. 1897-1933. Herbolzheim 2000, S. 74: „So hielt sich beispielsweise der Sexualreformer August Forel zeitweise in Monte Verità auf, der damals bekanntesten Lebensreformsiedlung bei Ascona am Lago Maggiore.“ Oktober oder November: Falsch - im August 1915. Vierjähriges Töchterchen: Mit der damals fünfjährigen Gräsertochter Gertrud (geb. April 1910 in Wien). Sie konnte sich im Alter noch gut an diese Reise erinnern. Kindlein: Waltraud, genannt Lottchen,.die dritte Tochter von Gusto Gräser und das achte Kind von Frau Elisabeth, wurde am 5. September 1916 in Ascona geboren – in der Nacht seiner Rückkehr aus Siebenbürgen. Karl starb: Karl Gräser war nicht gestorben sondern gemütskrank geworden. Er starb erst 1919 in einer Kasseler Nervenheilanstalt. Gegenüber den Kindern wurde er als tot ausgegeben. 100 ha: Das ist weit übertrieben. Das Grundstück dürfte 1 bis 2 Hektar groß gewesen sein, also vielleicht 100 Ar aber nicht Hektar. Ein Schwindler namens Henger: Ludwig Christian oder Louis Häusser aus Bönnigheim (1881-1927), ein Schüler von Gusto Gräser, der sich bald gegen seinen Meister wandte und ihm durch sein exzentrisches Auftreten und Reden großen Schaden zufügte. Ob bei seiner Übernahme des Anwesens Schwindel im Spiel war, ist unklar. Häusser ließ es im Oktober 1918 notariell auf seinen Namen eintragen, ohne einen Pfennig zu bezahlen. Das Grundstück war allerdings mit hohen Schulden belastet. Häusser wurde nach 1919 als „Bönnigheimer Heiland“ und Haupt der sogenannten „Inflationsheiligen“ in Deutschland bekannt und berüchtigt. Zusammenbruch in Deutschland: Gusto Gräser ging am 31. Dezember 1918 über die Grenze nach Deutschland. Siehe seinen Brief an Hermann Hesse vom 30. Dezember. Die 17jährige Dora: Theodora, genannt Dora, die älteste Tocher von Frau Elisabeth. Allander: Alexander, genannt Allander, ein Sohn von Elisabeth. Seit acht Monaten in Deutschland: Gusto Gräser war Ende April 1919 seit 4 Monaten in Deutschland. Seit 4 Wochen in München: Gräser hielt am 1. April 1919 in München eine Rede über „Kommunismus des Herzens“. Er muss also spätestens Mitte März dorthin gekommen sein. Dass er sich vorher mit Elisabeth in Stuttgart aufgehalten hat, ist anderswo nicht belegt aber nicht unwahrscheinlich. Auf der Reinsburg: Höhe im Stuttgarter Westen, heute Karlshöhe genannt. Im 7ten Monat: Wenn diese Angabe zutrifft, wäre Elisabeth etwa Ende September 1918 nach Stuttgart gekommen. Die Mutter will nach Ascona: Das tat sie auch. Elisabeth blieb dann noch bis Ende 1920 mit ihren Kindern in Ascona. Lukas X, 25: „Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ – Mit diesem Vers beginnt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Schulsiedlung: Glemser plante wohl ein Landschulheim mit stark lebensreformerischem Einschlag. Lichtland: Die Bezeichnung weist Glemser als einen Anhänger der Freikörperkultur aus. Gestüt Weil-Scharnhausen: Daraus scheint nichts geworden zu sein. Das Gestüt Weil-Scharnhausen bestand noch bis 1932. Jul Glemser: Die Unterschrift fehlt in der Abschrift. |
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