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O Wald am Berggelände, Du rauher, trauter Wald, wo von der Felsen Wände mein Echo widerhallt! Es schauert mir im Grunde - o Wald, mein Heimatland - wo all die weite Runde umschlingt der Ruhe Band! … Zu Deinem Urgeschlechte schlag ich mit rauhem Bart - und nicht zu dem der Knechte, fein, glatt und ohne Art! Dem Redlichen, dem Rauhen, das in der Wetter Wucht erwuchs, will ich mich trauen in all der Tage Flucht. 1 Die Heimat: Siebenbürgen Gusto Gräser ist der große Rebell gegen alles Starrgewordene im Sachsenland. Durch seine Auflehnung gegen diese harte Mutter ist er geworden, was er ist. Lass
Kirchenstuhl und Lehrerpult -
vergiss die Schuld ... Wogegen empörte er sich? Es sind die beherrschenden Mächte seiner Heimat: Kirche und Schule. Seine Mutter hat ihn geliebt, sein Vater war alles andere als ein Tyrann: Tyrannei und Vergewaltigung hat er erst in der Schule kennengelernt. Wenn
in ihrem Frühlingskleide draussen jubelte
Natur -
an die Tafel mit der Kreide musst ich arme Kreatur. Musst mitbangen Seelenqualen sagen, was mein Herz nit wusst, bleiche Ziffern, graue Zahlen musst ich da ins Schwarze malen, und zum Roten glühte Lust! Die Zuchtrute der Schule traf hier keinen Unbegabten, wohl aber einen Träumer. Schon als Kind schrieb er Gedichte. Aber nur ein einziges Mal kam es vor, daß ein Lehrer den klugen Einfall hatte, ihn seine Reime vor der Klasse vortragen zu lassen. Schule
- lasst mich herzhaft schelten - dieses Wort
stört mir Geduld,
denn wie selten, ach wie selten trat der Freund ans Lehrerpult! Artlos wollten sie mich haben, mutlos war ich ihnen recht, wollten keinen frischen Knaben, wollten einen feigen Knecht. Dagegen bäumt er sich auf. Seine Situation muß noch dadurch besonders verschärft worden sein, daß er, um das Gymnasium in Hermannstadt besuchen zu können, zu Fremden in Kost und Logis gegeben wurde - noch dazu in die Häuser von Lehrern. Wie sein Bruder im Leiden, Hermann Hesse, war schon der Elfjährige von morgens bis abends der Fuchtel von amtlichen Autoritäten ausgeliefert, fern von Vater und Mutter. Und wie Hesse, sein Bruder auch in der Empörung, nicht nur aus der Schule davonlief sondern alle Schulen geschlossen wissen wollte, so reagierte auch Gräser mit der Tat: keines seiner Kinder hat er in die Schule geschickt. Die Siebenbürger Sachsen waren "ein Schulvolk par excellence". Schule und Kirche waren die Bastionen ihrer Selbsterhaltung und Selbstverteidigung angesichts ihrer vielfach gefährdeten Lage als ethnische und religiöse Minderheit. "Das Dasein unserer Nationalität knüpft sich, vielleicht wie bei keinem anderen Volk in der Welt, so nahe an Kirchen und Schulen" schrieb der siebenbürgische Pfarrer und Volksheld Stephan Ludwig Roth. Und ihr Bischof Friedrich Müller ergänzt: "Die Sachsen mußten, was ihnen an zahlenmäßiger Masse abging, durch bessere Leistungen zu ersetzen trachten". Wenn schon im protestantischen Deutschland dieser viktorianisch-wilhelminischen Zeit Schuldisziplin und allgemeine Autoritätshörigkeit auf die Spitze getrieben wurden, dann traf dies auf das völkisch isolierte, durchgehend kirchlichlich geprägte Sachsenvolk in noch höherem Grade zu. Es war also nicht ein familiärer Konflikt, der den jungen Gusto Gräser zum Ausbruch und zu radikaler Kritik trieb, sondern ein sozial und kulturell begründeter. Der übersteigerte kulturelle Ehrgeiz des Sachsenvolkes - von den Umständen her verständlich, ja erzwungen - war dabei, seine begabtesten Kinder aufzufressen. ...
Aber Herzfarb war verboten, ward gescholten, war die Schuld.
Und nach alten kalten Noten, nach Geschichten, nach den Toten musst ich treiben Totenkult. Ja, dort schlossen sich die Türen zu des Lebens lichtem Haus ... Aus diesem "Totenhaus" zu fliehen, war für ihn eine Frage des seelischen Überlebens. Diesen "Totenkult" zu brechen und wieder den Kult des Lebens einzuführen, erkannte er als seine Aufgabe. Für diesen Hochbegabten wurde die Erfahrung zum Anlaß, nicht nur die heimatliche Schule und Kirche sondern unser traditionelles Kultursystem überhaupt in Frage zu stellen. Wir kennen seine Schulgeschichte nur durch seine Gedichte, wissen nichts Näheres über seine Lehrer oder Logisgeber. Nur in zwei Fällen kennen wir ihre Namen, aus dem Tagebuch der Mutter. Gustl kommt am 30. August 1890 auf das Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt und zu dem Elementarlehrer Wilhelm Zinz, der in der Färbergasse 2 wohnt, in Kost und Logis. Offenbar war er dort nicht glücklich, denn am 1. November 1891 wechselt er ins Haus des Malers Carl Dörschlag.
"Gustel ist seit ersten November bei den Dörslagschen in Kost und Quartier", schreibt die Mutter in ihr Tagebuch. Der aus Pommern gebürtige Carl Dörschlag (1832-1917), ein bedeutender Porträtist und Landschaftsmaler, war zugleich Zeichenlehrer am Brukenthal-Gymnasium. Er habe der siebenbürgischen Malerei nach Jahren des Niedergangs wieder Geltung verschafft und einer ganzen Generation den Anstoß zu künstlerischem Schaffen gegeben, weiß das Siebenbürger-Lexikon. Gräser muß sein Schüler gewesen sein, und wir dürfen annehmen, daß das Vorbild dieses Mannes seinen eigenen künstlerischen Drang geweckt und gefördert hat. Er muß seine Berufung zum Maler und Dichter entdeckt und die verhaßte Mathematik links liegen gelassen haben. Endlich
schwänzt ich in die Wiesen, nach dem
Bächlein, in den Wald:
Da gab's keine Analysen, da gewann mein Geist Gestalt ... Endlich fiel ich aus den Krallen, denn ich hatte noch Gewicht, endlich bin ich durchgefallen ... Für eine Akademiker-Familie wie die Gräsers bedeutete es eine kleine Katastrophe, daß "Gustel" das Gymnasium nicht schaffte. Die Familie lebte inzwischen auf dem Lande in Tekendorf, Gustel wurde nach Kronstadt in eine Schlosserlehre gesteckt. Er hielt nicht lange durch; nach vierzehn Tagen riß er aus. Das Durchfallen und Durchbrennen wurde ihm zur Lebenslosung. Hah,
brennet durch, erkennekühn, ihr Toren,
eh wir ins Wissensnarrheit eingefroren krepiern, verblühn! Er verschwand aus der Stadt, aber eines Tages las man in der Zeitung, ein Kronstädter habe für seine Schnitzerei eine Goldmedaille der Budapester Weltausstellung gewonnen: Gusto Gräser. Das war 1896. Von dann an war er für seine siebenbürgische Heimat verloren.
Und dennoch steht das Wort "Heimat" im Mittelpunkt seines Denkens. Gräser hat nie verleugnet sondern ausdrücklich gesagt, was er seiner Heimat verdankt und wie sie sein Leben bestimmt hat. "Heimat"
- so läutet's immer noch in
mir seit Jünglingsjahren ...
Hier findt der Herzfunk seinen Halt in herdeng trauter Hege, dass er als heisse Glut sich ballt ... Bei mütterlichem Heimatherd, bei seiner trauten Atze, da merkt er, was der Wehre wert, da lernt er, was nur Herdglut lehrt: Schutzkraft dem heilgen Schatze. Ein Trauerhaus nur wär die Welt ohn Heimatsingsangsonne! Drum Heilgruhs Dir, du schlichter Held, der Heimart übt in seiner Welt, Erdsternes Himmelswonne! Sing uns, mein Lied, beschwing, mein Reim, herzhaftigliches Trauen, dass wir, vertraulich insgeheim, die Blütezeit dem Menschenkeim, Urheimatwelt
erbauen!
Er nannte sich Heimatkämpfer, Heimatmann, Heimatsohn. Aber Heimat war ihm nicht eine Sache der Vergangenheit sondern der Gegenwart und Zukunft. Heimatbau erkannte er als seine Aufgabe, Urheimatwelt erbauen. Heimat bloss behalten? - Geht nit. - Heimat bilden - baun! In seinen jüngeren Jahren ist Gräser noch einige Male nach Siebenbürgen zurückgekehrt. Bei diesen Gelegenheiten muß es geschehen sein, daß rumänische Hirten vor ihm niederknieten, weil sie glaubten, der Heiland erschiene ihnen. Gräser selbst berichtet nichts davon. Ihm genügte die Erfahrung, daß einfache Menschen seines Volkes, Bauern und Hirten, ihn, den fremden und fremdartigen Wanderer, in ihre Mitte nahmen, ihn zum Mahle luden. Von
den stolzen Höhen steig
ich zum Heimatthale. Werktagrauschen, Festgegeig, Kinderjubel, Dorf am Teich winken mir zum Mahle: Iss und trink, o Volkessohn, komm, lass dich nit bitten, hier in unsrer Mitten ist dein Heilgewohn! 2 Die Graesers Eine siebenbürgische Sippe
Die
Graeserschen waren eine schöne Rasse.
Nicht nur schön, sondern auch sehr intelligent. Mehrere Mitglieder der Familie waren aktive Künstler und errangen wirklichen Ruhm. Eine Familie von sehr verschiedenen Lebensarten: einmal von tiefen Gefühlen bedrückt - wo "das schwere sächsische Blut" dominierte, ein andermal an künstlerischer Begabtheit reich, wieder ein andermal mit soliden Wurzeln in das bürgerliche Leben gepflanzt. Die Gräserschen waren alle schön - edle Gesichter, edle Gestalt - aber Gusto war noch schöner als seine Brüder: er war einfach auffallend. Ladislaus Thurzó Nagy * "Einst zeigte er [mein Großvater Daniel Graeser] eine Stahlplatte, welche etwa 6 Zentimeter im Quadrate groß war, auf welche ein Wappen eingraviert war und welche die Aufschrift führte: 'Michaelis Graeser. Spes mea Christus'. Hierbei erzählte er mir, er habe von einem Advokaten aus Pest einen Brief erhalten, in welchem ihm derselbe mittheilte, er habe in einem Archive den Adelsbrief der Graeser zufällig entdeckt, welcher mit wenig Kosten von dort beschafft werden könnte. Auf diesen Brief habe er nichts geantwortet. Er sei der Meinung, daß unser Zweig der Familie Graeser in vergangenen Jahrhunderten adlig gewesen, wahrscheinlich als eines der sächsischen Gräfengeschlechter, daß unsere Vorfahren jedoch, um in sächsischen Städten leben und Ämter bekleiden zu können, den Adel hätten fahren lassen." So schreibt der Enkel von Georg Daniel Graeser (1783-1869), der selbst den Namen Daniel trägt, in seiner 'Graeser-Biederfeldschen Familienchronik' (S.5). Ob es nun damit seine Richtigkeit hat, muß dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß der Stamm der Graesers fast überall in den Städten Siebenbürgens verbreitet war: in Bistritz, in Kronstadt, in Tekendorf, Mediasch, Hermannstadt, Szászrégen usw. (Nagy 5). (Und Gusto, der in fast allen hier genannten Städten schon in seiner Jugend gelebt hat, konnte wohl allenthalben auf Verwandte, Vettern oder zumindest Namensvettern treffen.) Seine direkten Vorfahren bis hin zu seinem Vater kommen jedoch aus Mediasch. "Über die Familie der Mediascher Graeser berichtet die Sage, ihr Ahne sei ein Schäßburger gewesen; dieser habe an das Chorgestühle in der Schäßburger Bergkirche über den dortigen Magistrat Beleidigendes geschrieben, weswegen ihn letzterer vor die Alternative stellte, entweder die Beleidigung zu widerrufen oder auszuwandern; er habe das letztere gewählt und sei nach Mediasch gekommen." (Daniel Graeser: Daniel Graeser, S.5) Die Neigung zu dickköpfiger Aufrichtigkeit und aufrechter Dickköpfigkeit ist also wie ein Gründungsmythos den Graesers ins Stammbuch geschrieben. Jene Umsiedlung muß, wenn sie der Wahrheit entsprechen sollte, "lange vor dem Jahre 1664 geschehen sein; denn damals war die Graesersche Familie in Mediasch schon so sehr angesehen, daß aus ihrer Mitte ein Stephan Graeser (1664-1686) zum Bürgermeister gewählt wurde ... Dieser Stefan Graeser, geboren von bürgerlichen Eltern zu Mediasch im Jahre 1629, welcher daselbst auch das Stuhlrichter- und Königsrichteramt bekleidet hatte und ein sehr amtseifriger und frommer Mann war, wurde am 21.Juli 1686 in seinem Hause durch einen Schuß getötet." (DG: DG 6) Als erster direkter Vorfahr Gustos, von dem die Lebensdaten bekannt sind, wird (nach der Stammtafel von Michael Graeser, Mediasch) der Schneider Johann Graeser (1685-1752) genannt, dessen Vater Merten Graeser aus Bogeschdorf kam. Wir stellen uns also vor, jener Merten kam nach Mediasch, wo - und vielleicht weil - die Sippe sich schon bestens etabliert hatte und vielleicht eine kleine Einbürgerungshilfe vom Vetter Bürgermeister zu erwarten war. Sein Sohn Johann wurde Schneider und dessen Sohn Samuel (1724-1784) blieb, wie es sich gehört, ebenfalls bei der Nadel und wurde reich durch sie. Dafür spricht, daß er seinen Sohn Daniel in Deutschland Theologie studieren lassen konnte. "Mein Sohn!", schreibt er ihm nach Jena, "bedenke, daß ich das Geld, welches ich Dir zum Zweck der Vollendung Deiner theologischen Studien schicke, mit der Nadel verdiene; vergeude es deswegen nicht in unnützer Weise; sei übrigens überzeugt, daß Du nicht so viel ausgeben kannst, als ich Dir zu geben bereit bin, vorausgesetzt, daß Du jeden Kreuzer zu Deiner Ausbildung verwendest." (DG: DG 7) Man sieht, unser Meister Schneider verfügt nicht nur über Geld und Selbstbewußtsein, sondern auch über eine nicht zu verachtende sprachliche Ausdrucksfähigkeit.
Über diesen Samuel sagte Daniel Georg Graeser (1783-1869), seines Zeichens Senator, Bürgermeister und Stuhlrichter von Mediasch, in einer Hochzeitsrede: "Vor mehr als 60 Jahren lebte in unserer Vaterstadt ein Bürger, der durch verständige Gewerbtätigkeit - er war Schneidermeister - und einen rechtschaffenen Lebenswandel Wohlhabenheit und Ansehen unter seinen Mitbürgern erworben hatte. Er hieß Samuel Graeser und war Urgroßvater des Herrn Johann Auner. Sein Andenken wird noch lange ein Segen, nicht allein bei uns, seinen Kindern, sondern auch bei der verehrten Meyndtischen Familie bleiben; denn sein guter Geist hat sich auch auf diese Familie durch ihren Vater ... verbreitet, der mir und gewiß auch seinen Kindern oft erzählt hat, wie er von diesem Samuel Graeser, als seinem ehemaligen Lehrherrn, Meister und Wohltäter, nicht nur die Profession, sondern auch Ordnung und Fleiß und Klugheit des Lebens erlernt habe, Eigenschaften, die sichtbar vom Vater auf Sohn und Tochter übergegangen sind." (DG: DG 6) Sie sind sichtbar auch auf seine Nachkommen übergegangen, zunächst und besonders auf seinen Sohn Daniel (1752-1833), der den Sprung vom Schneidertisch auf den Bischofsstuhl geschafft hat. Auch Daniel hat erst mal das Handwerk seines Vaters erlernt, bei einem anderen Meister, der die folgenden Worte an seinen Lehrling gerichtet haben soll: "Sei nicht so bequem, arbeite fleißig; du sollst ja nicht Bischof werden." Der wenig prophetische Spruch sowie eine Bettdecke, die der künftige Theologe selbst genäht hatte, wurden von den Nachkommen wie Reliquien bewahrt. Daniel also ging noch einmal zur Schule, absolvierte das Obergymnasium in Mediasch und studierte von 1772-1775 in Jena an "der blühenden Hochschule" Deutschlands Theologie und Philosophie. Er kam nicht nur mit der Wolffischen Aufklärungsphilosophie nach Siebenbürgen zurück, er trug auch einen Degen mit goldenem Griff und einen Regenschirm aus roter Seide, was alles zusammen einiges Aufsehen erregte. Seine Heirat mit Anna Maria Haner öffnete ihm vollends den Weg in die behagliche Welt des Mediascher Patriziertums und brachte ihn in dauernde Verbindung mit den Familien Haner, von Heydendorff und Hann von Hannenheim. Nachdem er zunächst in Mediasch als Lehrer und Prediger gewirkt hatte, kam er in das Pfarramt der Gemeinde Scharosch, das er nicht weniger als 36 Jahre innehatte. Um die Gemeinde hat er sich im Zusammenwirken mit von Heydendorff und Brukenthal derart verdient gemacht, daß man noch hundert Jahre später, 1890, zu seinem Gedächtnis auf dem Dorfanger eine "Graesereiche" pflanzte Im Jahre 1822, als bereits Siebzigjähriger, wurde er zum Bischof der Evangelischen Kirche in Siebenbürgen berufen. "Von einer ansehnlicheren Kirchengemeinde erwählt, zu einem großen Wirkungskreise berufen und zu noch größeren Mühen und Anstrengungen, war der Greis zur Übernahme nur darum entschlossen, weil er im Gange der Dinge den unbegreiflichen Finger Gottes erkannte, welcher dermalen siebzigjährigen Schultern Lasten aufbürdete, die einem einzigen aufgebürdet auch jugendliche Kräfte zu erdrücken imstande sind." So urteilte sein Schwiegersohn Stefan Ludwig Roth, der in Daniel "den Vorsteher unserer Familie, den Gott noch lange erhalten wolle," in ehrfurchtsvollem Tone ansprach. Seine Amtszeit, die unter dem restaurativen Druck des österreichischen Absolutismus stand, wird als wenig ereignisreich und nicht besonders erfolgreich beschrieben. Der aufklärerische Optimist Daniel Graeser hat immerhin 1830 den Ersatz der alten lateinischen Gesänge durch deutsche Kirchenlieder durchgesetzt. Frohsinn, sokratischer Witz und überlegene Ironie wird ihm nachgesagt. "Noch Jahrzehnte nach seinem Tode erzählte sich das Volk allerlei Scherze und Anekdoten aus seinem Leben. ... Müßige Eckensteher in Birthälm pflegte er damit zu necken, daß er ihnen einen schönen Tageslohn anbot, wenn sie den ganzen Tag dort auf dem Platze stehen bleiben wollten." (Bischöfe 260) Daß er selbst "Fleiß, Rechtschaffenheit, genaue Erfüllung der Amtspflicht, Liebe, kluge Herablassung und Freundschaft" als Tugenden eines Geistlichen lehrte und auch bewährte, versteht sich danach fast schon von selbst. "Ein tätiger Mann" sei er gewesen, "aber kein gründlicher Gelehrter, kein Kanzelredner" schrieb kritisch sein einstiger Freund über ihn, der ehemalige Bürgermeister von Mediasch Michael Conrad von Heydendorff, den er sich zum Feind gemacht hatte, indem er gegen die Wiederwahl des 86jährigen eintrat. Immerhin ließ er sich in früheren Tagen, 1792 schon, von eben diesem Heydendorff Kants Abhandlung 'Zum ewigen Frieden' schenken und bemühte sich auf seine alten Tage noch ernstlich darum, in die Gedankengänge eines Kant, Fichte und Schelling einzudringen. "Daß mit der wachsenden Geisteskultur und Aufklärung Religion und Sitten gewinnen", war seine optimistische, wenn auch in seiner Kirche nicht immer gern gehörte Überzeugung. Ein Geistlicher mit Weltsinn also, dem "geradlinige Korrektheit" als durchgängiger Grundzug nachgesagt wird (Bischöfe 250), der aber "auch Haus zu halten verstand und insbesondere auch mit den Offizieren der Birthälmer Garnison und andern Notabilitäten schönen Verkehr pflegte. ... Sein freundliches, liebevolles Wesen aber gewann ihm ... viele Freunde und treues Gedenken" (ebd. 260). Versetzen wir uns nun in das Jahr 1869, also zehn Jahre vor Gustos Geburt, so ist der Tod zweier herausragender Vertreter der Sippe deshalb zu vermelden, weil ihr Gedächtnis und ihr Werk mit Sicherheit noch in die Jugendjahre Gräsers hineingewirkt haben. Zugleich vermittelt ihr Lebensbild etwas von der familiären und bildungsbürgerlichen Atmosphäre Sächsisch-Siebenbürgens im allgemeinen und der Gräsers im besonderen, über die sich leider aus dem Elternhaus von Gusto - von Mutter Gräsers Tagebuch abgesehen - keinerlei Überlieferung erhalten hat. Im Jahre 1869 starb, hochbetagt, der Bruder von Gustos Urgroßvater, Daniel Georg Graeser (1783-1869), Bürgermeister von Mediasch, von dem bereits kurz die Rede war. Im selben Jahr aus einer Nebenlinie der 1814 geborene Pfarrer, Historiker und Dechant von Schelk Andreas Graeser. Über den Erstgenannten hat sich die verehrungsvolle Erinnerung seines Enkels, des Appellhofrats Daniel Graeser, erhalten, die hier in Auszügen wiedergegeben sein soll. Ein Sohn des Superintendenten Daniel Graeser war mein Großvater D a n i e l G r a e s e r . Nach Beendigung der Gymnasialstudien in Mediasch und der Rechtsstudien in Enyed und wahrscheinlich auch in Klausenburg und Marosvasahely trat er als Gerichtsschreiber bei dem Stadt- und Stuhlsmagistrate in Mediasch in den öffentlichen Dienst. Nachher wurde er zum Senator, Stuhlrichter und Bürgermeister gewählt. Auch war er bei dem Mediascher Gymnasium Schulinspektor und erwarb sich große Verdienste hinsichtlich der Gründung des Landeskundevereins in Siebenbürgen, hinsichtlich der Errichtung der Badeanstalt in Baassen, sowie als Vertreter seiner Vaterstadt durch viele Jahre in sächsischen Universitäts-Confluxen und auf siebenbürgischen Landtagen. Das Revolutionsjahr 1848 traf ihn als Bürgermeister. Es ist vielleicht ausschließlich seinem taktvollen Benehmen dem Feinde und Freunde gegenüber zu verdanken, daß die Stadt Mediasch in der Schreckenszeit nicht zerstört wurde. Nach Beendigung der Revolution durch den aufregenden und schwierigen Dienst im höchsten Grade erschöpft, legte er das Bürgermeisteramt nieder, bei welcher Gelegenheit ihm in Anerkennung seiner vorzüglichen Tätigkeit im öffentlichen Dienste vom jetzt regierenden Kaiser und König Franz Joseph das goldene Verdienstkreuz mit der Krone verliehen wurde. Später wurde ihm von der Stadt- und Stuhlsgemeinde Mediasch eine jährliche Pension von 800 fl. bewilligt, welche er bis zu seinem Tode bezog. Während seines Ruhestandes beschäftigte er sich mit der Bebauung seines bedeutenden Grundbesitzes; allein auch damals interessierte er sich für die öffentlichen Angelegenheiten und stand in innigen Beziehungen zu den bedeutendsten Männern der sächsischen Nation, namentlich zu Karl Schuller, Schulrat, zu Konrad Schmidt, Baron von Altenheim, Grafen der sächsischen Nation, zu Baron von Salmen, ebenfalls Grafen der sächsischen Nation, usw. (...) Mein Großvater war ein vielseitig und gründlich wissenschaftlich gebildeter Mann. Insbesondere kultivierte er die Philologie. Von lebenden Sprachen hatte er sich insbesondere die französische, romänische und ungarische Sprache gründlich angeeignet. Er las noch im hohen Alter besonders gerne französische und lateinische Klassiker in der Originalsprache. Mich hatte er sehr lieb und beschäftigte sich viel mit mir, indem er mir den Sinn für das Schöne, Gute und Sittliche zu erwecken und zu befestigen suchte. Auch erteilte er selbst mir Unterricht in der lateinischen, französischen und ungarischen Sprache. In seinem Verkehre mit uns Kindern war er immer belehrend. Er liebte es, seine Lehren in Sprüchen und Zitaten niederzulegen. Viele solcher Sprüche und Zitate habe ich bis heute im Gedächtnisse behalten, so zum Beispiel. "Sex horas dormire satis juvenique senique, da septem pigris, acte de stemate natis."1 - "Ex horis cito quae labentia tempora signant una supervenit, quae tibi dicet abi."2 "Sic servias deae, ut ne offendas diabolum"3 - "Les hommes sont égaux, ce n'est pas la naissance, c'est la seule vertu qui fait leur différence."4 - "Az embernek legfelsöbb czélja az emberiség a nemzetiség csak annak elérésének eszköze, igyekezzünk emberségesek lenni, is jo magyarok, jo németek és jo aláhok, egy szóval jo testvér hazafiak leszünk."5 - Das letzte Zitat hat ihn zum Autor, ebenso das folgende:
Menschenliebe
folgt dem Triebe göttlicher Natur,
Völker aller Zonen, Träger aller Kronen, folget dieser Spur. Sorgsam meidend Haß und Krieg führt sie euch zum wahren Sieg. (...) Was den Charakter meines Großvaters anbelangt, so war er in höchstem Grade achtunggebietend - makellos in jeder Beziehung. Seinen Kindern gegenüber war er ein guter, opferwilliger Vater und hat für ihre Erziehung und berufsmäßige Ausbildung das Möglichste getan. Unter seinen Enkelkindern war ich es, mit welchem er sich ganz besonders gerne unterhielt. Meine nächsten Angehörigen behaupteten, ich sei sein Liebling, woran ich selbst glaubte. Ich verehrte ihn aber auch in hohem Grade und erwies mich dankbar für die Wohltaten, welche er mir angedeihen ließ. (...) Das Leben meines Großvaters war einfach und mäßig. Sein diesbezüglicher Grundsatz war: Naturae convenienter vivere. Er bewohnte in seinen letzten Lebensjahren in dem Hause Nr.13 in der Steingasse in Mediasch, dem jetzigen Mädchenschulgebäude, rechts vom Eingang zu ebener Erde zwei Gassenzimmer nebst einem Vorzimmer. (...) Seine gastliche Wohnung war allabendlich der Sammelplatz seiner intimsten Freunde, geistreicher und hochgebildeter Männer. Diese waren namentlich Friedrich Binder von Biedersfeld, mein mütterlicher Großvater, Michael Gräser, k.k. General in Pension, Andreas Schuster, emeritierter Bürgermeister, Michael Brecht von Brechtenberg, k.k. Bezirksvorsteher in Pension, Franz Baschutti und Sebastian Walter, Ritter von Stolzenburg, k.k. Hauptleute in Pension, mein Vater Ludwig Graeser, Kaufmann, mein Onkel Johann Auner, Untersuchungsrichter. Es war interessant und lehrreich in der Gesellschaft dieser Männer, welche die Jugendzeit hinter sich hatten und zum Teil auch das Mannesalter und das Greisenalter durchlebt hatten. In ihrem Kreise herrschte der Geist der Humanität, und ihr Urteil war in der Schule des Lebens, welche für sie so sehr reich an Erfahrungen war, ein geläutertes geworden. Meist besprachen sie die Tagesereignisse aus dem politischen und sozialen Leben oder erzählten sich Ereignisse aus dem eigenen Leben. (...) Einst zeigte er mir eine Stahlplatte, welche etwa 6 Zentimeter im Quadrate groß war, auf welche ein Wappen eingraviert war und welche die Aufschrift führte: "Michaelis Graeser. Spes mea Christus". Hierbei erzählte er mir, er habe von einem Advokaten aus Pest einen Brief erhalten, in welchem ihm derselbe mitteilte, er habe in einem Archiv den Adelsbrief der Graeser zufällig entdeckt, welcher mit wenig Kosten von dort beschafft werden könnte. Auf diesen Brief habe er nicht geantwortet. Er sei der Meinung, daß unser Zweig der Familie Graeser in vergangenen Jahrhunderten adlig gewesen, wahrscheinlich als eines der sächsischen Grafengeschlechter, daß unsere Vorfahren jedoch, um in sächsischen Städten leben und Ämter bekleiden zu können, den Adel hätten fahren lassen. Ein ander Mal erzählte er mir, er sei im Jahre 1848 in Begleitung des Stadtpfarrers Brandsch und des Guardians des Franziskaner Klosters dem in die Stadt einziehenden ungarischen Feldherrn Bem bis zur Kokelbrücke entgegengegangen, um ihn um Schonung der Stadt und ihrer Bewohner zu bitten. Nachdem er seine Bitte vorgetragen, habe ihm Bem, von welchem er mit Hochachtung sprach, geantwortet: "Glauben Sie, ich sei deswegen ins Land gekommen, um zu rauben, morden und Brand zu legen? Ich bin deswegen gekommen, um das Volk vom Joche der Tyrannei zu befreien." Hierauf habe er bemerkt, die Katastrophe von Szász-Regen, welches kurz vorher niedergebrannt worden, habe in ihm Befürchtungen für die Stadt und ihre Bewohner aufsteigen lassen. Hiebei habe Bem ausgerufen: "Gott sei Dank, in Szász-Regen war ich nie!" (...) In seinem 86-ten Lebensjahr ermahnte uns Kinder Großvater Graeser ganz besonders oft zur Aneignung nützlicher Kenntnisse, indem er wörtlich sagte: "Alles kann man uns nehmen, nur das nicht, was wir gelernt haben." Auch zitierte er oft das interessante Gedicht Langbeins: 'Die Poststationen des Lebens'. Er ahnte seinen nahen Tod und sprach oft davon, indem er bemerkte, er sterbe leicht, denn er habe alles, was das Leben Schönes biete, genossen und habe das gute Gewissen, daß er sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben seine Aufgabe pflichtgemäß erfüllt habe. Er erkrankte plötzlich zufolge Altersschwäche. An das Krankenlager gefesselt, wünschte er noch eine Pfeife Tabak zu rauchen. Ich stopfte ihm diese letzte Pfeife und zündete sie ihm an. Es war der letzte Dienst, welchen ich ihm erwiesen habe. Nachdem er zwei Züge aus derselben geraucht hatte, legte er sie beiseite und verfiel in den Todeskampf, welchem er nach zwei Tagen erlag. (...) Ich habe ihn außerordentlich geliebt. Seine Tugenden, welche er mir durch Lehre und Beispiel eingegeben hat, und seine mir erwiesenen Wohltaten haben sich in meinem Innern zu einem Denkmal aufgetürmt, an dessen Stufen ich ihn anbete, ihn verehre. (...) In der 'Hermannstädter Zeitung vereinigt mit dem Siebenbürger Boten' vom 21-ten April 1869, Nr.93, las man folgenden Nachruf auf ihn: Mediasch, am 17.April 1869. Das Geläute aller Glocken auf unseren Türmen verbreitet weithin die Trauerkunde, daß ein würdiger Erbe der hohen Tugenden unserer Väter in diesem Augenblicke aufgehört habe, dieser Welt anzugehören und zu den Vätern heimgegangen sei. Daniel Graeser, Bürgermeister in Pension, ein Mann von wahrhaft hoher Bildung des Geistes und des Herzens, war ein Sohn des durch seine Bildung ebenfalls hervorragenden ehemaligen Superintendenten der ev. Landeskirche in Siebenbürgen, Daniel Graeser. Nach einem äußerst tätigen Wirken im öffentlichen Leben zog sich Graeser im Jahre 1850, nachdem er unser Gemeinwesen durch die Stürme des Jahres 1848/49 mit verständiger Hand glücklich hindurchgeführt hatte, ermüdet und erschöpft von dieser furchtbaren Anstrengung in das Privatleben zurück. Hier lebte er seinem Hauswesen, seinen Freunden, ein treuer Pfleger der Wissenschaften und ein zuverlässiger Ratgeber in manch schwierigen Fällen des öffentlichen sowie des Privatlebens. So wie die Vorsehung ihn dazu bestimmt zu haben scheint, zu Nutz und Frommen seiner Zeit und der Nachwelt ein ungewöhnlich hohes Alter zu erreichen, ebenso scheint Daniel Graeser auch bestimmt gewesen zu sein, viel Schmerzliches im Kreise seiner Familie zu erleben, denn nachdem er schon früher vier, zum Teil schon gut versorgte Kinder durch den Tod verloren hatte, mußte der Arme während der Zeit seines Ruhestandes dem Sarge seiner vieljährigen treuen Lebensgefährtin und zweier schon im Mannesalter stehenden Söhne nachwanken. Doch die Riesenkraft seines Geistes blieb ungebrochen; noch in seinen letzten Lebenstagen diktierte Graeser, dessen Sehkraft bedeutend abgenommen hatte, seinen Enkelsöhnen Epigramme und andere scherzhafte Verse in die Feder; noch sind es nicht 8 Tage, daß er auf dem Felde in der Oekonomie thätig war. Doch die Lampe seines Lebens war bald ausgebrannt. Heute mittags schied Daniel Graeser aus diesem Leben, durch das er nahe an 86 Jahre gewandelt ist. (...) Könnte der Tote sprechen, er könnte mit Recht mit den Worten seines liebsten Dichters ausrufen: "Exegi monumentum aere perennius Regalique situ pyramidum altius"6. * * * * * Soweit die Erinnerungen von Daniel Graeser. Sein Großvater lebte als hochangesehener ehemaliger Bürgermeister bis 1869 in Mediasch. Der Vater von Gusto Gräser hat ihn also bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr noch erlebt und dürfte ein ähnliches Bild seines Großonkels gewonnen haben und vom selben geistigen Klima geprägt worden sein wie sein hier schreibender Vetter zweiten Grades. Aus dessen auch kulturhistorisch interessantem Text lassen sich einige Schlüsse ziehen über das Umfeld von Kultur und Bildung, in dem der junge Gusto Gräser aufgewachsen ist. Am 8. Oktober 1840 war in Mediasch die Gründung des siebenbürgischen Landeskundevereins erfolgt, "zu der die beiden Mediascher Senatoren D.[aniel Georg] und S.[amuel?] Graeser und der Pfarrer Josef Fabini aus Waldhütten aufgerufen hatten" (Hans Philippi: Vereinstage, S.547). Handelt es sich im Falle des "S." um Samuel Graeser, den Großvater von Gusto? Das ist zumindest sehr wahrscheinlich. Dann wäre auch er, von dem wir sonst nichts wissen, als daß er Kaufmann war, zum ersten Senator, also Stadtrat, und zum zweiten historisch und sachsenkundlich interessiert gewesen. Die beiden Brüder, Söhne des Sachsenbischofs, hätten dann gemeinsam, unterstützt durch das Ansehen ihres Amtes wie ihres Namens, für die innere Stärkung des Sachsenvolkes sich eingesetzt. Der Kampf um die Erhaltung oder Wiedergewinnung der alten Rechte hatte Tradition bei den Graesers. Je mehr der äußere Schild der "Nation" zerbrach, desto dringlicher wurde die Besinnung auf die Eigenkräfte der in die Minderheitenrolle gedrängten Diasporadeutschen. Das war der Sinn jener Vereinsgründung. "Man kann sich ... kaum vorstellen, wie zündend dieses Ereignis in die Stille jener Tage fiel", schrieb der Sachsenbischof und Historiker Georg Daniel Teutsch8. Eine andere Folge und zugleich ein Zeichen des damals allgemein erwachenden Nationalismus war die verstärkte Hinwendung des Sachsenvolkes zum deutschen Mutterland. Ein
Lebehoch den Siebenbürger Sachsen,
Die von des deutschen Rheines Strand, Wo deutsche Eichen, deutscher Lorbeer wachsen, Gekommen ins Karpathenland! ... So dichtete ein Mediascher Rektor und späterer Pfarrer von Wurmloch, wiederum ein Graeser. Bis zu welchem Pathos und Enthusiasmus die Identifikation mit allem Deutschen damals schon gediehen war, zeigt die letzte Strophe seines Gedichts: Drum
reichet hin in dieser ernsten Stunde,
Wo uns der Väter Geist durchglüht, Die Rechte, Brüder! Hin zum Sachsenbunde, Und schwört bei Gott, der alles sieht: Lebend und sterbend, wenn Deutschtum gebeut, Sind wir zum heiligsten Kampfe bereit.9 Andreas Graeser (1814-1869), von dem hier die Rede ist, studierte in Berlin Theologie, Philologie und Geschichte und wurde nach seiner Rückkehr Lehrer am Mediascher Gymnasium und später dessen Rektor. 1855 wählte ihn die Gemeinde Wurmloch zum Pfarrer, 1863 trat er als Dechant von Schelk an die Spitze dieses Kirchenbezirks. Mit seiner wissenschaftlichen Untersuchung 'Umrisse zur Geschichte der Stadt Mediasch' hat er die erste Monographie einer sächsischen Stadt vorgelegt. Weit bedeutsamer aber und von breiter Wirkung im sächsischen Volk war seine Biographie über 'Stephan Roth nach seinem Leben und Wirken', die bereits 1852 erschien, drei Jahre nach der Erschießung dieses Rebellen und Reformers. Mit ihr "hat Graeser einem der bedeutendsten Söhne seiner Vaterstadt und seines Volkes ein dauerndes Denkmal gesetzt." (Teutsch in DAB, S.586) Ein anderer siebenbürgisch-sächsischer Historiker war Daniel Graeser (1737 - 1797), dessen Verwandtschaftsverhältnis noch ungeklärt ist. Als Senator, Stuhlrichter und Leiter des Stadt- und Nationalarchivs von Hermannstadt schrieb er über den 'Verfassungszustand der sächsischen Nation in Siebenbürgen', eine Arbeit, die durch den Widerspruch, die sie im Lager der Sachsenfeinde fand, für erheblichen Wirbel sorgte. Nach einer Beschwerde der Nationsuniversität bei der ungarischen Statthalterei an der ungerechtfertigten und beleidigenden Kritik der 'Ofener lateinischen Zeitung' mußte diese feierlichen Widerruf leisten. Daß dieser Stuhlrichter und Historiker zugleich Freimaurer war, deutet auf einen unabhängigen, weltoffenen, aufgeklärten Kopf. Nimmt man nun zusammen, daß Vertreter der Sippe Graeser der Stadt Mediasch nicht nur wiederholt und mit Auszeichnung als Bürgermeister gedient, daß sie auch eine Monographie der Stadt sowohl wie eine Topographie des Stuhls und ein Geschichtsbild ihres Gymnasiums verfaßt haben, so darf man wohl sagen, daß sie nicht ohne Verdienst und Bedeutung für ihren Geburtsort gewesen sind. Nimmt man hinzu, daß andere Mitglieder dieses Stammes eine der frühesten Abhandlungen über die Verfassung der sächsischen Nation und die erste Biographie über den siebenbürgischen Volkshelden Stephan Ludwig Roth geschaffen haben, daß sie weiterhin maßgeblich an der Gründung des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde beteiligt waren, so darf weiterhin behauptet werden, daß die Graesers auch an der Entwicklung des sächsischen Selbstverständnisses einen nicht zu übersehenden Anteil hatten. Für das Ansehen, das die Siebenbürger damit im deutschen Sprachraum gewannen, spricht auch die Tatsache, daß nicht weniger als drei Graeser in der 'Allgemeinen Deutschen Biographie' von 1879 (dem Geburtsjahr Gustos) Aufnahme fanden. Wenn also der junge Gustav Arthur in diese Familie und diesen Namen hineinwuchs, so mußte ihm bewußt werden, daß er einer geistigen Aristokratie seines Stammes angehörte, die hohe Forderung und Verpflichtung bedeutete. (Und wenn eine gewisse Neigung zu elitärem Selbstwertgefühl, sei es auch in hochmoralischer Verfeinerung, zu seinen dauerhaften Zügen gehört, dann dürfte sie in dieser Herkunft ihre Wurzeln haben.) Bemerkenswert in dieser Ahnen- und Verwandtschaftsreihe ist aber auch die breite Streuung der Begabungen. Sie reicht vom Berufssoldaten (General Michael Graeser) und Kommunal-Politiker über den Juristen, Theologen und Historiker bis zum Dichter (Andreas, Gusto, Gertrud Graeser), Maler (Gusto und Ernst Gräser) und zur Musikerin (deren Nichte, die Pianistin und Musikprofessorin Charlotte Graeser-Kováts). Der geistliche Beruf und eine Neigung zum Historisch-Literarischen haben allerdings die Vorderhand. In Gusto Gräser bündeln sich diese Begabungen und wenden sich zugleich gegen die Last der familiären Tradition. In ihm, dem Anti-Soldaten, Anti-Politiker, Anti-Juristen und -Theologen bäumt sich die künstlerische Ader und emotionale Kraft, die der Sippe immer schon eigen war, auf gegen die erdrückende Übermacht des Fromm-Beamtlichen und seine pflichtmoralische Selbstüberforderung. Dem wackern Ahn im Zorn entflammt ob Dumpfgemächt der Ämter - "Luft, Luft - das stinkt vor lauter Amt!" Wahrscheinlich erinnert sich Gusto hier an den Bischof Daniel, von dem man weiß, daß ihm herzhafte Grobheit nicht fremd war. Die Luft, die der Urahn forderte, hat der Nachfahr reichlich gebracht, ja zum Sturm entfacht - einen brausenden Kehraus für verdumpfte Amts- und Oberstübchen. Wenn alle Gräsers durch knorrig-biedere aber immer milieugerechte Rechtschaffenheit glänzten, dann wollte Gusto lieber der "schlechte Kerl" sein, der aus der Reihe tanzt - zugleich aber alle diese Prachtbilder überbietet durch eine tiefere Rechtlichkeit, die alle sozialen Beschränkungen und Beschränktheiten hinter sich läßt. Gräser ist - auch und erst recht in seinem Widerspruch - ein Produkt der moralischen Hochzüchtung des siebenbürgischen Stammes und seiner eigenen Sippe. Was
treu in heissen Gefahren Urahne erfuhr ist in mir
erblüht zu innigem Ahnen von heiterirdischen Bahnen ... Sprechen wir von den Eltern. Über sie ist - abgesehen von Mutter Gräsers Tagebuch - so gut wie nichts überliefert. Ihr Lebenslauf läßt sich noch in großen Zügen nachzeichnen, aber was sie für Menschen waren, wie sie auf ihren Sohn gewirkt haben, das ist nur aus Hinweisen zu vermuten und andeutungsweise zu erschließen. Einen kurzen Lebensabriß des Vaters gibt sein Schwiegersohn Dr. Ladislaus Turzo Nàgy. Seitenanfang 4 Der
Vater
Carl Samuel Gräser (1839-1894) Karl
Gräser,
Senior: Studierte Jura in Heidelberg, beherrschte
sehr gut die ungarische Sprache. Er ließ sich beim Gericht
nieder. Als Jurist begann er mit seiner Praxis beim
Standesgericht in
Mediasch, später kam er zum Gericht in Kronstadt,
schließlich
beendete er seine Laufbahn als Präsident des
Standesgerichts, wo
er bis zu seinem frühen Lebensende arbeitete.
Als Gattin nahm er die Tochter von Dr. Josef Pelzer: Charlotte, die von allen später stets "Grossika" genannt wurde. Sie ist in Balassagyarmat (heute Ungarn) begraben worden. Er starb jung, in seinem 54. Lebensjahr. Wurde neben seiner früh verstorbenen Tochter Charlotte in Tekendorf begraben; beim Grab stehen Tannen Wache... (Aus der 1963 verfaßten Familienchronik 'Die Gräsers' von Dr. Ladislaus Thurzó Nagy, S.6) Hermann Hesse läßt in seiner Erzählung 'Freunde' von 1908 den Studiosus Heinrich Wirth über sein Leben berichten. Da Gräser für die Figur des Wirth Modell gestanden hat und die ganze Erzählung weitgehend biographisch fundiert ist, darf auch in dem, was Wirth über seine Eltern sagt, ein gewisser Grad von Lebenswirklichkeit vermutet werden. Läßt man einmal die bäuerliche Verkleidung beiseite, so enthält die Erzählung eine ganze Reihe von Zügen, die für Vater und Mutter Gräser nachweislich zutreffen. "Ich bin ein Bauernsohn, wie Sie wohl schon gemerkt haben. Aber allerdings war mein Vater ein besonderer Bauer. Er hat einer bei uns verbreiteten Sekte angehört und sein ganzes Leben, soweit ich davon weiß, damit hingebracht, den Weg zu Gott und zu einem richtigen Leben zu suchen. Er war wohlhabend, fast reich und besorgte seine große Wirtschaft gut genug, daß sie trotz seiner Gutmütigkeit und Wohltätigkeit eher zu- als abnahm. Das war ihm aber nicht die Hauptsache. Viel wichtiger war ihm das, was er das geistliche Leben nannte. Das nahm ihn beinahe ganz in Anspruch. Er ging zwar regelmäßig in die Kirche, war aber mit dieser nicht einverstanden, sondern fand seine Erbauung bei Sektenbrüdern in Laienpredigt und Bibelauslegung. In seiner Stube hatte er eine ganze Reihe Bücher: kommentierte Bibeln, Betrachtungen über die Evangelien, eine Kirchengeschichte, eine Weltgeschichte und eine Menge erbaulicher, zum Teil mytischer Literatur. Böhme und Eckart kannte er nicht, aber die deutsche Theologie, einige Pietisten des XVII. Jahrhunderts, namentlich Arnold, und dann noch einiges von Swedenborg. Es war beinahe ergreifend, wie er mit ein paar Glaubensbrüdern sich einen Weg durch die Bibel suchte, immer einem geahnten Licht nachspürend und immer im Gestrüpp irrgehend, und wie er mit zunehmendem Alter immer besser spürte, daß zwar sein Ziel das richtige, sein Weg aber der falsche sei. ... Schließlich starb er, noch ehe ich Student war, und es war ihm vielleicht besser, als wenn er es erlebt hätte, daß ich weder ein Reformator und Schriftausleger, noch auch nur ein richtiger Christ in seinem Sinn wurde. In einem etwas anderen Sinn bin ich es ja, aber er hätte das kaum verstanden. "
5
Die
Mutter
Charlotte Gräser, geb. Pelzer (1853-1920) Dieses schlichte Gottvertrauen, ohne allen Anhauch von Frömmelei, wird durch Grossikas Tagebuch bestätigt. Keineswegs häufig, nicht als gewohnheitsmäßige Litanei, aber immer dann wenn Ängste und Sorgen sie bewegen, geht sie in die direkte Anrede über. So schreibt sie am Ende des Jahres 1893, als die fortschreitende Krankheit ihres Mannes schon das Schlimmste befürchten läßt: "Auch dieses Jahr ist vorüber, und ich muß [Dir], Allmächtiger, auf den ich vertraue, Dank sagen, daß Du uns bis hieher die Kraft gegeben hast zu leben. Erhalte meinen guten Mann und [die] Kinder." (Carl Samuel wird von ihr immer nur als gut oder lieb oder heiter bezeichnet!) Und am Silvesterabend des Jahres 97 trägt sie in ihr Tagebuch ein: "Mit meinem Ernst und klein Böhm sitze ich hier und erwarte die Stunde, mit welcher wir das neue Jahr antreten. Gott, in deine Hände befehle ich mich." (27) Wir dürfen deshalb durchaus als zutreffend annehmen, was Gräser bei Fournière unterstreicht: "Meine Mutter gehörte einer vor allem Draussen behüteten gefühlvollen Jugendzeit. Sie war allgegenwärtig wie das gütige Licht. Ihr Wirklichkeitssinn, ihre uns oft fast erschreckende Selbsthingabe von unerschöpflicher Milde." (Das Wort "Hingabe" ist von Gräser anstelle eines anderen eingesetzt worden!) "Unser religiöses Empfinden entfaltete sich am regelmässigen Besuch des Gottesdienstes und im Vollzug der uns immer teuren Abend- und Morgengebete mit der Mutter." Eine vor allem Draußen behütete gefühlvolle Jugendzeit - das traf wohl zu. Und der Junge, der sie erlebt, weiß sich dem weniger gefühlvollen Draußen noch auf lange zu entziehn. Wiederum sieht sich Gräser in den Erinnerungen von Fournière gespiegelt: "Er ist nicht ohne Eigensinn, in seinem Verhältnis zur Welt noch vollkommenes Kind, doch vermag er mit grosser Geschicklichkeit sich allen Anforderungen von aussen zu entwinden, jedem Zwang, der nicht aus seinem eignen Innern entstammt, rasch wieder zu entschlüpfen. Was später Anlass für viele Sorgen und Kümmernisse werden sollte, die Schule, war noch völlig bedeutungslos, die dort gebotenen Kenntnisse liessen ihn gleichgültig, die Leistungen genügten, überstiegen aber nicht den Durchschnitt. Zur Welt des Altertums war noch keine Pforte aufgetan. Im Gegenteil: damals wie noch lange Jahre danach blieb die Antike infolge der unergiebigen Trockenheit ihrer gelehrten Vermittler fremd wie aus kaltem Gips und abstossend für die erwachende Phantasie, die sich weit lieber dem Dunkel gotischer Kathedralen zuwandte, sich heimischer fühlte im überschäumend bunten Treiben mittelalterlicher Städte und Burgen." Dazu gab es in den Gassen von Kronstadt, Hermannstadt und Mediasch reichlich Gelegenheit. Man füge hinzu: in den Wäldern, Bergen und Höhlen des Karpatenlandes. In dem von Gräser geliebten Gedicht von Karl Stieler sagt dieser von seiner Mutter: Und
doch war das
noch eine leichtre Zeit;
Denn andres Lernen hält uns noch bereit Des Lebens Drang, des Herzens Sturmgewalt, Wo jede Lehre sich mit Herzblut zahlt. Wie warst du da so fest und gut und klar, Du wußtest alles, was mit jedem war, Und hast mit jedem seine stille Not Durchkämpft ... In den entscheidenden Entwicklungsjahren des jungen Gustav Arthur wurde die Familie Graeser von schweren Schicksalsschlägen und Umbrüchen heimgesucht. 1890 die berufliche Niederlage des Vaters; 1891 stirbt Gustos 18jährige Schwester Charlotte nach der Geburt ihres ersten Kindes einen qualvollen Tod; ihr verwitweter Mann heiratet die zweite Tochter Josefin. 1894 stirbt der Vater kurz vor der ersten Niederkunft von Josefin; die Mutter muß ihre Wohnung aufgeben, Gusto muß das Gymnasium verlassen. Es wäre verwunderlich, wenn eine solche Häufung von tiefeingreifenden Wechselfällen sich nicht eingezeichnet hätte in das Bewußtsein des jungen Menschen, ihn nicht zu einem schweren, streng prüfenden Lebensernst bestimmt hätte. Ansonsten freilich genoß der junge Gusto die behütete Kleinwelt eines Kindes der gebildeten Mittelschicht. Man feiert das Gustav Adolf-Fest mit Freunden und Verwandten, besucht bei dieser Gelegenheit die Kunst- und Gewerbeausstellung und trinkt auf der unteren Promenade einen Eiskaffee. Die Festgesellschaft reist anschließend nach Sinunier, bewundert das herrlich gelegene Schloß und ist hoch erfreut, den (rumänischen) König mit der Königin am Arm ihren Morgenspaziergang machen zu sehen (Tgb 4). Ein andermal hat der Vater "eine Kommission bei Rosenau nahe vom Buszesz" zu machen, Frau und Kinder dürfen ihn begleiten und schließen noch einen Ausflug nach Neustadt und Wolkendorf an.(4R). Man verkehrt mit den Heidendorffschen (5 R) und beachtet, daß die entfernt verwandte "Teutsch Paula auch ähnlich wie unser theures wertes Lottchen plötzlich nach kaum einer Woche ihrer Entbindung gestorben ist" (14). Der Vater geht auch mal, wohl auf Einladung, "nach Soymos auf die Jagd", während schon der erste Schnee liegt (13). Aus dem Tagebuch von Grossika - so wurde Charlotte Gräser in der Familie genannt - können wir entnehmen, daß Gusto nicht gerade ihr Lieblingskind war. Ihre Gedanken kreisen vielmehr bevorzugt um die erstgeborene Tochter, die jung im Kindbett verstarb, und um ihren erstgeborenen Sohn Karl, den sie zärtlich Karlutz nennt. Gusto erscheint erst unter "ferner liefen", wird (im Tagebuch) nie besonders beachtet, seine frühen Eskapaden werden mit Stillschweigen übergangen. Aus diesen Beobachtungen und aus den Gedichten ihres Sohnes ergibt sich folgendes Bild: Gusto, als der von der Mutter weniger Begünstigte (er ist der Vierte in der Geschwisterfolge), wirbt leidenschaftlich um ihre Liebe und Anerkennung. Sein außergewöhnlicher Lebensweg mag teilweise aus dem Bemühen zu erklären sein, der frommen Mutter durch ein Übersoll von Frömmigkeit, Reinheit und Treue sich zu empfehlen. Da aber der erwachsen werdende Sohn die verlorene Einheit nicht zurückgewinnen kann, nimmt seine Sehnsucht immer mehr die Wendung zur mystischen Mutter, zur kosmischen Mutter Natur. Es scheint sinnvoll, Gustos Mutterbeziehung mit der in mancher Hinsicht ähnlichen seines Freundes Hermann Hesse zu vergleichen. Auch der junge Hesse wirbt und kämpft um die Zuwendung seiner Mutter. Auch er fühlt sich von ihr vernachlässigt, auch ihm bedeutet sie mehr als der ebenfalls schwächliche Vater. Er muß jedoch die schmerzliche Erfahrung machen, daß ihn die Mutter gerade da ablehnt, wo er sein Eigenstes und dem mütterlichen Erbe Verwandtestes zu geben glaubt: in seiner Dichtung. Die moralisierenden Vorhaltungen Marie Hesses treffen ihn schwer, wirken negativ auf seine erotische Entwicklung. Er bringt es in der Folge nicht über sich, die Mutter in ihrem Leiden und Sterben zu begleiten; starke Schuldgefühle bleiben zurück. Schuldgefühle, die ein Verlangen nach Buße in ihm wecken, die ihn zu Franziskus treiben, zu den Einsiedlern in der Wüste Thebais und letztlich zu Gusto Gräser. Bei Gräser dagegen geschieht das Seltsame, daß seine Hingabe an die Große Mutter ihm zugleich die Liebe der eigenen Mutter zurück- und näherbringt. Als er dem Naturheil-Glauben seines Meisters Diefenbach sich ergibt und vollends, als er wegen Kriegsdienstverweigerung ins Gefängnis muß, da hören wir zum erstenmal Herztöne der Mutter für ihren Gust. "Gusti ist so rein und wahr. Gott leite seine Wege", schreibt sie in ihr Tagebuch. Sie macht Auszüge aus dem Tagebuch ihres Sohnes und legt seine Gedichte ihrem eigenen bei. Sie bewundert sein Aussehen: „Bei seiner bescheidenen Lebensweise sieht er blühend aus“. Zwar kann sie den Sinn seines Weges nicht nachvollziehen, aber sie steht zu ihrem Gustel. "Er strebt zwar für die jetzt lebenden Menschen etwas zu hohe Ideale an. Er ist aber eben so beanlagt ... die Menschen durch seine Bilder und Anschauungen zu einem wahren, guten, liebevollen Leben zu führen. Wenn auch nur ein Samenkörnchen von dem Guten was er erstrebt, auf gut Land fällt in dieser großen Welt, so wird er glücklich und zufrieden sein. Gott leite seine Wege zum Wohle vieler Menschen."
Sie reist mehrfach zu ihrem Sohn nach Ascona, sie steht auch zu seinen Gedichten, obwohl die in mancher Hinsicht weit anstößiger sind als die des Sohnes von Marie Hesse: "Den 24 gegen den 25ten in der Nacht von Gust geträumt, seine Gedichte und Zeichnungen in 2 pracht Bänden vor mir gesehen mit Ihm zusammen u Ihn umarmt u geküßt habe." Die moralisierende und verbietende und insofern negative Mutter dort - die umarmende und küssende Mutter hier. Wer will, mag sogar von einem Inzesttraum der Mutter sprechen. Ähnlich "inzestuöse" Anwandlungen gibt es auch bei Gusto, der noch als Fünfundzwanzigjähriger seine Mutter bittet, zu ihm zu ziehen. Denn: "nur mit mir vereint könne er ein Weib (Frau) für sich finden. Ich habe ihn auch bis in die kleinste Falte seines Herzens verstanden", schreibt die Mutter in ihr Tagebuch, aber sie lehnt vernünftigerweise ab. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß sich dieses gute Verhältnis später geändert hätte. 1913, zum sechzigsten Geburtstag der Mutter, schickt ihr Gusto ein Gedicht, das mit dem Bekenntnis endigt: ...
und - wird Einer mutig und ehrlich und freih -
sein Mutter-Geheimnis ist immer dabei. Als er 1918 seine TAO-Dichtung an Hermann Hesse schickt, da vergißt er nicht zu erwähnen, daß das erste Exemplar an seine Mutter gegangen sei. "Sie, Lieber, sind der dritte, dem ich die Sprüche schick - die ersten bekam meine Mutter." Hesse hatte Charlotte Gräser schon 1907 in Ascona kennengelernt als die Frau, die ihrem Sohn von Zeit zu Zeit einen Korb voll Obst brachte. Er hatte beobachten können, wie da eine Mutter, obwohl aus anderen Überzeugungen lebend, trotzdem mit ihrem Herzen zu ihrem Sohne hielt - gegen den Hohn und die Feindschaft der Umwelt. (Ihre eigene Tochter, "die Josefien schickte mich mit den Worten fort: geh in die Schweiz, damit du kuriert wirst ... Dies alles nur, weil ich meine 3 Söhne nicht auch verurtheile".) Was Wunder, daß Hesse diesen Gräser um sein Mutter-Verhältnis beneidet. Dem ist zugefallen, was er sich sehnlich wünschte. Und es ist ihm zugefallen, obwohl (oder sogar weil) dieser Sohn aus allen familiären Verbindlichkeiten ausgebrochen ist. O Mutterherz, zu sehr nit wein, es muß ja sein, hatte er geschrieben - und war unbeirrt seinen Weg gegangen, hatte sich losgelöst von der persönlichen Mutter, um die überpersönliche zu finden - und hatte am Ende auch noch die leibliche Mutter für sich gewonnen. "Niemand liebte ihn, niemand war mit ihm vertraut, nur seine Mutter", sagt Hesse von seinem "Demian" (GW V; 51). Wohl möglich, daß sich in einem solchen Satz (auch) das tiefe Vertrauen von Mutter Gräser zu ihrem Sohne widerspiegelt. Wie
Umwelt mich auch "Träumer" höhnt,
ein Mutterwort hat's mir verschönt - hah, wie mir das ins Tiefste lacht: Geht, geht, mein Sohn hält träumend Wacht! 6 Fussnoten: 1 Sechs Stunden Schlaf ist genug für den Jungen wie den Alten, sieben gib den Faulen, den aus schwachem Geschlecht Geborenen. 2 Unter den Stunden, die die schnell verfließende Zeit bezeichnen, bleibt eine, die dich fortgehen heißt. 3 Diene so der Göttin, daß du den Teufel nicht kränkst. 4 Die Menschen sind gleich, nicht die Geburt, allein die Tugend macht sie verschieden. 5 Das höchste Ziel des Menschen ist die Menschheit. Die Nationalität ist nur das Mittel zur Verfolgung dieses Ziels. Wir sollten uns bemühen, menschlich zu sein, und dann werden wir gute Magyaren, gute Deutsche und gute Wlachen, mit einem Wort, gute, brüderliche Patrioten sein. 6 Ich habe mir ein Denkmal gesetzt, dauernder als Erz; ich habe eine Pyramide errichtet, höher als Königssitze. (Horaz) 7 Hans Philippi: Vereinstage im Geist der Toleranz. In: S.S. Hauskalender. Jahrbuch 1982, S.53ff. 8 Zitiert bei Hans Philippi: Vereinstage..., S.54. 9 Zitiert nach Paul Philippi: Nation und Nationalgefühl der Siebenbürger Sachsen 1791-1991. In Hans Rothe (Hg.): Die Siebenbürger Sachsen in Geschichte und Gegenwart. Köln Weimar Wien 1994, S.77f. Seitenanfang |
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