Nachdem
es mehr als 40 Jahre in einem vergessenen Umschlag geschlummert
hatte, kam mir dieser Tage ein ebenso vergessenes Zettelchen in die
Hände. Es stammt von Dr. Martin Müllerott, damals Bibliotheksrat an
der Bayrischen Staatsbibliothek in München.
Müllerott hatte sich öfters mit dem Bibliotheksbesucher Gusto Gräser
unterhalten, der ihm auch deshalb interessant sein
musste, weil sein eigener Vater einst die Absicht gehabt hatte,
denSiedlern auf dem Monte Verità sich anzuschliessen. Er war wohl
der einzige im Hause, der auch den Menschen, Dichter und Denker
Gräser schätzte und deshalb an seiner Beerdigung teilnahm.
Nicht nur das. Er hielt offenbar dessen Dichtungen für
wertvollgenug, um sich für ihre Unterhaltung einzusetzen.
Die Stadt
hatte kein Interesse an dem hinterlassenen „Unrat“, siehielt ihn und
erklärte ihn offiziell für wertlos. Dieses „Wertlose“
gab sie zur Vermüllung frei. Das gab
Müllerott die Chance einzugreifen. Bei der Beerdigung hatte er
eine Frau kennengelernt, die aus Stuttgart angereist war, eine
entfernte Verwandte von Gräser: Maria Hermann. Sie war die einzige
von dessen Angehörigen, die dem Verstorbenen die letzte
Ehre erwies. Seine Töchter waren nicht zu erreichen, ihre Adressen
unbekannt. Frau Hermann wird später an Heidi
Christeller, eine der Töchter von Gräser, schreiben:
Es
kam nach der Beerdigung ein Herr auf mich zu und stellte sich
als Angestellter der Staatsbibliothek München und guter
Bekannter
von deinem Vater vor. Wir besprachen, was nun zu unternehmen
wäre,und ich rief daraufhin das Nachlassenschaftsgericht an und
bat um
Öffnung des Zimmers, darin dein Vater wohnte, denn es war
seitens der Polizei amtlich verschlossen worden. Da ich noch
selbigen
Tages zurückkehren musste, ließ sich nichts mehr unternehmen.
Von
dem Nachlassenschaftsgericht kam dann eines Tages die
Mitteilung,dass keine Erbmasse vorgefunden wurde, wohl aber
stünde bei der
Stadt München eine Schuld an Fürsorgegeldern in Höhevon etwa DM
8.500 – zu Buch. Mit Dr. Müllerott, so hieß
der Herr von der Staatsbibliothek, wurde eine erneute Reise
meinerseits nach München besprochen zu dem Zwecke, was
Brauchbares und Wertvolles an Schriftstücken, Gedichten und
sonstigen geistigen Arbeiten zu sichten und zu schlichten und
dann
sortiert aufzuheben. Unvorstellbare Unordnung herrschte in dem
Zimmer; in der kurzen Zeit, die uns beiden zur Verfügung stand,
konnten wir kaum eine wesentliche Arbeit leisten. Herr Müllerott
und eine von Onkel Gusto bekannte Dame hatten sich erbötigt,
diese Arbeit gelegentlich fortzusetzen. Die Stadt München
hattein Erfahrung gebracht, dass wir die Schriften u. auch
Sonstiges zu
uns nehmen wollten und belegte als Gläubigerin alles mit
Beschlag, obwohl zuerst gesagt ward, es sei nichts Wertvolles
dabei.
Nun liegt der größte Teil der Gedichte, Manuskripte u.s.w. bei
der Stadt und soll bei der Handschriftensammlung einen ehrenden
Platz erhalten.
Weil
Frau Hermann die Erlaubnis des Nachlassgerichts einholen musste,
umdie Dachkammer Gräsers betreten zu dürfen, wurde die Stadt
darauf aufmerksam, dass seltsamerweise einige Leute der
Hinterlassenschaft dieses kauzigen Einsiedlers doch einen gewissen
Wert beimaßen. Daher setzte sie ihrerseits den Leiter
derHandschriften-Abteilung der Stadtbibliothek, Richard Lempp, in
Bewegung, der zusammen mit Dr. Müllerott das Brauchbare aussuchen
sollte. Zugleich erklärte sich die Stadt zum
rechtmäßigen Eigentümer, da sie den Verstorbenen jahrelang mit
Sozialhilfe unterstützt habe. Sie nahm seinen
Nachlass als Pfand für diese Leistungen in Beschlag.
Gleichwohl
war
ein erheblicher Teil von Gräsers Hinterlassenschaft
übriggeblieben, den die Bibliothekare entweder übersahen oder für
nicht erhaltenswert hielten. Es war wohl in erster Linie jene
unbekannte Frau Condula, die sich für eine möglichst
vollständige Erhaltung nicht nur seiner Werke sondern auch seiner
persönlichen Gebrauchsgegenstände wie Brillen,
Stifte, Taschen, Küchengeschirr, Nähsachen und dergleichen
einsetzte. Sie muss eine glühende Verehrerin gewesen sein, hatte
noch kurz vor seinem Tod mehrere Bildnisse von ihm geschaffen, die
bisher nicht gefunden worden sind. Sie erklärte sich bereit,
diese Dinge zusammen mit Müllerott zu verpacken und an Frau
Hermann nach Stuttgart zu schicken.
Und
so
geschah es. Drei große Kartons landeten auf einem Schrank indem
Kellerbüro des Siebenbürgischen Hilfskomitees in
Stuttgart, wo Frau Hermann tätig war. Aber was konnte sie damit
anfangen? Nichts. Immerhin fand sie die Anschrift von Heidi
Christeller heraus und schrieb ihr am 4. Januar 1959 einen Brief.
(Hier
unterbreche
ich, da ich diesen Brief nur unvollständig abgeschrieben
habe und das Original nicht finden kann. Solange nicht
der gesamte Bestand geordnet und vollständig registriert ist
– und das war von mir auch in 50 Jahren nicht zu schaffen -,
ist man
auf der Suche nach Dokumenten auf den Zufall angewiesen. Ich
erwähne nur noch kurz den Zettel.)
Wohl
1962
besuchte ich Müllerott in München, und dabei übergaber mir den
abgebildeten Zettel, der mich auf die Spur von Frau
Hermann und damit zu dem ungenutzten und unregistrierten Teil des
Nachlasses führen sollte. Da ich mit dem Abschreiben der
Dokumente in der Monacensia voll beschäftigt war, außerdem nicht das
Geld für eine Fahrt nach Stuttgart hatte, dauerte es
Jahre, bis ich Frau Hermann aufsuchen konnte, was wohl erst um 1968
geschah.
Hermann
Müller