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Geburtsort der spirituellen Freigeister und Hippies

07 Mai 2015 • Von Alex Miller • Kommentare: 1Visionäre, Zeitgeschehen

Wenn man die Zeit um ca. 100 Jahre zurückdreht, könnte man meinen, es hätte sich seither nichts geändert. Um 1900 herum war Europa geprägt von Industrialisierung, Kapitalismus, Konsumrausch, Aktienhandel, Finanzkrisen, Aufrüstung und Kriegsängsten. Die Transport- und Reisewege wurden gerade erst durch Eisenbahn, Auto und Überseeschiffe erschlossen, Kommunikation durch Telefon und Verkabelung. Die Globalisierung schritt unvermindert voran. Während ein kleiner Teil der Menschen immer reicher wurde, blieben die meisten anderen arm. Werbung und Medien verkündeten das uneingeschränkte Glück durch Kaufen, genauso wie heute. Doch Idealisten und „Spinner“ für eine gerechte Welt hat es auch damals schon gegeben.

Um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts herum herrschte ein sehr strenges Patriarchat, eine männerdominierte, chauvinistische Gesellschaftsform, die auch vom Gesetz her gefördert wurde. Den Frauen waren strenge Grenzen gesetzt, das Korsett war Ausdruck der femininen Begrenztheit. Das einzige erstrebenswerte Ziel junger Frauen war in den Augen der konservativen und strengen Eltern die Vermählung mit einem gut situierten Mann. Doch je strenger die Beschränkungen wurden, desto mehr Menschen begehrten gegen das bestehende Gesellschaftssystem auf.

Traum vom alternativen Leben und freier Liebe im Tessin, Schweiz

Und auch damals schon gab es junge Menschen, die der korrupten und dekadenten Gesellschaft überdrüssig wurden, die ausstiegen, eine eigene Vision vom Leben hatten. Eine kleine Gruppe junger Töchter und Söhne begüterter Eltern, revoltieren gegen das System und kaufte sich im Jahr 1900 in Ascona im Schweizer Tessin, damals eine einsame, arme und nahezu unberührte Naturlandschaft, ein Stück Land auf einem Hügel. Die jungen Menschen aus Deutschland, Österreich und Belgien machten den Monte Verità zu einem Ort der Begegnung und Heilung – für Freigeister, Aussteiger und Künstler. Er wurde auch zu einem Ort des politischen Widerstands gegen die bestehenden chauvinistischen Regime. Dort angekommen, anfangs wegen mangelnder Gebäude am Feuer campierend, gründeten die Idealisten eine alternative Gesellschaftsform mit Selbstversorgung, Freundschaft, Gleichheit, Vegetarismus, Sinnlichkeit und freier Liebe. Kein Wunder, dass sie mit den aus bäuerlichen Verhältnissen stammenden Einheimischen dort anfangs kaum Kontakt hatten. Geistige Einflüsse aus Theosophie, Anthroposophie, Pazifismus, Anarchismus, Psychoanalyse und östlicher Weisheit bestimmten die Gesellschaftsform.

Die Mitglieder der Kommune waren der Überzeugung, dass eine Veränderung in der Welt nur durch die Änderung des eigenen Lebens bewirkt werden kann.

Auch wenn es zu jener Zeit bereits mehrere kleine Kommunen dieser Art in Europa gab, sollte die Gemeinschaft am Monte Verità später zahlreiche bedeutende Menschen magisch anziehen und im weitesten Sinne die Vorläuferbewegung der Hippie-Generation der entfernten 60er Jahre werden.

Der charismatische Friedensaktivist Gusto Gräser

Unter den Pionieren von Ascona waren u.a. neben der Münchner Pianistin Ida Hofmann der Fabrikantensohn Henri Oedenkoven, der Maler und Sozialreformer Karl Wilhelm Diefenbach auch der charismatische Maler, Autor, Pazifist und Naturprophet Gusto (Gustav) Gräser. Er hat Schriftsteller wie Hermann Hesse und Gerhart Hauptmann in ihrem Tun und ihren Werken maßgeblich inspiriert. Gusto Gräser lehnte sich bei seinen Aufenthalten in München bereits 1928 öffentlich mit Reden und Schriften gegen Adolf Hitler auf („Diktator oder Dichter – wer ist der Völkerrichter?“) und war eine Art „Gegenmodell zum Führer“. Später sollte er in ein Konzentrationslager eingewiesen werden, doch er tauchte kurz vorher unter und überlebte den Krieg. Gusto Gräsers Anziehungskraft und Aura wegen, die er auf viele Menschen ausstrahlte, wurde der „Wahrheitsberg“ in Ascona zu einem Mythos. Gusto Gräser war eine lebende Legende, sah aus wie Jesus, war Einzelgänger und lebte lange Zeit sogar nur in einer Höhle am Monte Verità. Ein echter Freak zur damaligen Zeit! Er wurde am 6. Februar 1879 in Siebenbürgen geboren und starb am 27. Oktober 1958 in München.

Nature Boys in den USA

Die Kommune trieb der beseelte Wunsch an, inmitten der Natur, gesund und wahrhaftig zu leben, und so eine reformierte Gesellschaftsform zu gründen. Diese jungen Menschen gaben dem Berg auch seinen Namen, Berg der Wahrheit, „Monte Verità“. Sogar bis in die USA verbreitete sich im Jahre 1903 die Nachricht der „Naturmenschen“ vom Monte Verità, über sie wurde in einer kalifornischen Zeitung berichtet.

Die Kommune um den Monte Verità wurde für immer mehr junge Menschen ein Beispiel für das Aussteigen aus der bürgerlichen Gesellschaft. Um dem drohenden Kriegsdienst zu entkommen, flüchteten viele junge Männer vorübergehend nach Ascona. Viele emigrierten auch in die USA. Mit ihren Vollbärten, langen Haaren, Jesuslatschen und nackten Oberkörpern wurden sie von den Amerikanern „Nature Boys“ genannt. Sie gehörten irgendwann allmählich zum Bild der amerikanischen Bevölkerung. In den nächsten späteren Generationen übernahmen viele junge Amerikaner die Naturmenschphilosophie der deutschen Einwanderer, die ersten Anfänge der Hippie-Bewegung, Woodstock etc. waren geboren!

Artefakte vom damaligen Sanatorium am Monte Verita (Bilder: Ralf Schulze Flickr cc)

Die Schattenseiten

Und wie es eben so ist, wenn Menschen in all ihren verschiedenen Facetten aufeinander-treffen und 24 Stunden am Tag gemeinsam verbringen, kommt es auch zu Streit und Missgunst. Negative Begleiterscheinungen wie Depressionen, Drogen und Liebeskummer blieben auch in dieser neuen alternativen Gesellschaft nicht aus und sorgten bei einigen Gründern der Kommune später zu Unzufriedenheit, bis hin zum Selbstmord.

Das Vorhaben umzusetzen, ein Sanatorium aufzubauen, gestaltete sich von Anfang an schwierig, da einige der Pioniere sich weigerten mitzuarbeiten und man grundsätzlich dem Geld eigentlich abschwören wollte. Letztlich gelang es dann doch, das Naturheilzentrum zu bauen und zahlende Menschen aus ganz Europa besuchten den Monte Verità über knapp zwei Jahrzehnte. 1920 wurde die Naturheilanstalt wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit aufge-geben, der Ort lebte jedoch in seiner magischen Anziehungskraft weiter.

Wegen ihrer ungewöhnlichen Lebensweise, den langen Haaren, weißen Gewändern, der praktizierten freien Liebe und nackten Tänzen in der Natur in bester Hippie-Manier galten sie in der damaligen Zeit als asozial und degeneriert. Nicht wenige Menschen, die sich von der Kommune angezogen fühlten und dort einige Zeit verbrachten, wurden in die Psychiatrie gebracht und wurden so Opfer des strengen Patriarchats.

Magische Anziehungskraft für Künstler und Freigeister

Später sollten viele Prominente aus Kunst, Literatur, Wirtschaft und Politik den Ort besuchen. Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann, Isadora Duncan, Mary Wigman, Marianne von Werefkin, Leonhard Frank, Else Lasker-Schüler, Rainer Maria Rilke, Max Weber, Ernst Bloch, C.G. Jung, Richard Strauss, Gustav Stresemann, Krishnamurti, Lenin und Otto Gross sind nur einige davon. Der Monte Verità wurde schließlich zu einem Ort aller möglichen radikalen Denker und künstlerischen Freigeister. Als der Monte Verità immer populärer wurde und viele europäische und russische Künstler und Intellektuelle anzog, entstand 1913 um Rudolf von Labans eine Tanz- und Kunstschule und mit ihr ein völlig neuer und für die damalige Zeit skandalöser Tanzstil. Praktiziert von Frauen sollte dieser den künstlerischen Ursprung für den Feminismus bedeuten (genannt: „German dance“).

Der Berg der Wahrheit heute?

Heute führt unter dem Monte Verità ein 1,1 Kilometer langer Straßentunnel hindurch, es wurde ein Konferenzhaus mit Teepark errichtet. Ein Museum über die Mystik und Geschichte des Berges ist Ort für diverse kulturelle Veranstaltungen. Der Geist der Freiheit lebt jedoch noch weiter am Monte Verità, dem Berg der Wahrheit.

Copyright: © www.gehvoran.com

Quellen und weitere Infos:

www.youtube.com/watch?v=3O4yfGEZ3rQ

www.gusto-graeser.info/

de.wikipedia.org/wiki/Monte_Verit%C3%A0

Bilder:

Beitragsbild „Frau am Wasser“: „Overcomeariane leishman flickr cc

Bild Altes Sanatorium: „Tessin_Mai_2007_ 042“ sowie Überreste links und rechts daneben Ralf Schulze flickr cc

Flickr creative commons 2.0

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Über den Autor: Alex Miller

Alex Miller, 1973 geboren in Nürnberg, ist Herausgeber von Gehvoran.com. Er ist tätig als Autor, Blogger, Life Coach, Hypno- & Meditationstherapeut sowie Speditionskaufmann. "Meine Erkenntnisse, die aus dunklen wie aus lichten Zeiten resultieren, möchte ich gerne mit vielen anderen Menschen, die auf ihrem Weg sind, teilen. Ich möchte sie zum Nachdenken und Nachfühlen anregen und so zu einem Bewusstseinswandel beitragen."


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1 Kommentar zu diesem Artikel

  1. 1

Holger Hansen

4. Juli 2017 um 18:24

Ja, habe die Zeit am Monte Verità Ende der 70 er und auch noch Anfang der 80 er miterlebt. Als der ganze Berg noch mit lauter Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus bevölkert war. Das Lebensgefühl damals dort war Etwas…sowas gibt es schon lange nicht mehr.