Erich
Mühsam über den Erziehungsstil von Karl Gräser: Habakuk und die antiautoritäre Erziehung Der
kleine Habakuk, den Namen haben Gräsers ihrem Pflegesöhnchen
beigelegt, der ein ausnahmsweise intelligentes und schönes Kind
ist, geniesst die freieste Erziehung, die man
sich vorstellen kann, das heisst gar keine Erziehung. Ihm
wird nichts befohlen und nichts verboten, er darf schlafen
und essen, soviel und wann er will und herumtollen, wo und
wielange es ihm nur Spass macht. Was aber das schönste ist:
seine Pflegeeltern nehmen ihn völlig ernst. Man
dressiert ihn nicht, wie es deutsche Bourgeoisfamilien mit
ihren Kindern tun, zu artigen Kunststücken
und konventionellen verlogenen Redensarten, die er
herleiern müsste, wenn Besuche kommen, sondern er sitzt
mitten zwischen den Erwachsenen, und wenn er eine Bemerkung zu
machen oder eine Frage an jemand zu richten hat, so wird
ihm mit demselben Ernst, mit derselben Achtung zugehört
und geantwortet wie jedem Grossen.
Wie widerwärtig ist es doch, Kinder, denen etwas geschenkt wird, zum Danke sagen zu zwingen, ehe sie fähig sind, ein Gefühl der Dankbarkeit zu empfinden. Mir verekelt es jede Gabe an ein kleines Kind, wenn es mir mit solchen angelernten Lügen antwortet. Wenn es sich wirklich über mein Geschenk freut, so weiss es sein Gefühl schon zu äussern und zwar herzlicher und ehrlicher als so ein Berlin-W-Fratz, der da, wo ihm die Lüge aus dem Herzen kommt, wo er aus seiner reinen Kinderphantasie heraus allerliebste Lügen erfindet, wie für ein Todverbrechen geprügelt wird. Die Erziehung des kleinen Habakuk zu beobachten, wirkt dieser innerlich verlogenen Verbildung des Kindergemütes gegenüber, wie sie die besten Eltern im besten Glauben betreiben, einfach erlösend. Erich
Mühsam: Ascona, S. 34f.
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[Ernst ist] Anfang d. M. von Zürich nach Askona zum Karl übersiedelt. Dem Karl habe ich diesen Monat sein Erbtheil, 1000 fl., zugeschickt. Mit diesem Geld, welches er an Jennys Verwandte [d. h. an Ida Hofmann und Henri Oedenkoven] zahlen muß, bleibt er im ganzen Besitz seines Grundes. Gust ist jetzt noch in Genf bei Dr. Skarvan, um ein Landerziehungsheim kennen zu lernen, kommt dann auch nach Askona, wo auch noch ein Freund Faßbänder mit ihnen zusammenleben will.
Karl hatte, um ein eigenes Grundstück zu erwerben, Geld von der Familie seiner Lebensgefährtin Jenny Hofmann, der Schwester von Ida, aufnehmen müssen. Durch den von seiner Mutter ausgezahlten Erbteil konnte er sich aus dieser Abhängigkeit lösen und war nun frei für eine eigene Unternehmung. Durch eine Schule sollte die schmale Existenzgrundlage von Obst- und Gartenbau erweitert und zugleich die eigentliche Aufgabe: Verbreitung eines neuen Denkens und einer neuen Lebensweise, erfüllt werden. Gusto begibt sich zu seiner Information und zur Vorbereitung des Unternehmens nach Genf, wo der slowakische Arzt Albert Skarvan, Freund, Mitarbeiter und Übersetzer von Leo Tolstoi, in der dortigen russischen Kolonie sich aufhielt. Offenbar gab es dort eine Schule („Landerziehungsheim") im Geist des Dichters, die er kennen lernen wollte.
„Tolstoi zählt zu den wichtigsten libertären Reformpädagogen, die ganz wesentlich antiautoritäre Strömungen in der Pädagogik weltweit im 20. Jahrhundert beeinflusst haben. Der folgende Beitrag von Ulrich Klemm, der sich seit den 80er Jahren mit Tolstois Pädagogik befasst (vgl. z. B. “Die libertäre Reformpädagogik Tolstois und ihre Rezeption in der deutschen Pädagogik”, Reutlingen: Trotzdem Verlag 1984), legt den Schwerpunkt auf Tolstois Didaktik des Dialogs. Im Mittelpunkt steht dabei der bemerkenswerte Bericht seines ehemaligen Schülers Wassilij Morosow, der als Erwachsener seine Schülererfahrungen in Tolstois Schule aufschrieb und die 1919 in einer deutschen Übersetzung als Buch erschienen“ (Internet). Über dessen pädagogische Tätigkeit schreibt die Webseite „Graswurzelrevolution":
Tolstoi als Pädagoge
Als der Dichterphilosoph 1910 starb, hinterließ er nicht nur ein weltbewegendes dichterisches Werk, sondern auch eine Sozialethik und Pädagogik, die ihn weit über die Grenzen Rußlands hinaus bekannt machten. ... >>>>> Mehr darüber: hier!
Tolstoi, dessen Wirken zeitlebens von einer freiheitlichen Gesinnung durchdrungen war, drückte diese Haltung erstmals als Erzieher und Pädagoge aus. Er wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zum Begründer einer pädagogischen Reformbewegung, die weit über Rußland hinaus wirkte (vgl. Wittig/Klemm (Hg.) 1988) und die wir heute als eine libertäre Reformpädagogik beschreiben können. Bereits mit 21 Jahren, 1849, richtete er erstmals auf seinem Familienerbe “Jasnaja Poljana” (Lichte Wiese; etwa 100 Kilometer südlich von Moskau im Gouvernement Tula) eine Bauernschule für seine Leibeigenen ein. Im Jahre 1859 gründete er - nach einigen Jahren freiwilliger Militärdienstzeit, während derer er auch am Krim-Krieg (1853-1856) teilnahm - erneut auf seinem Bauerngut eine Bauernschule, die bis 1862 von ihm geleitet wurde Dieser Zeitraum von 1859 bis 1863 gilt heute als die Phase seiner intensivsten Beschäftigung mit pädagogischen Fragen. Neben dieser Schule, die als ein klassisches Beispiel einer antiautoritären Schule libertärer Prägung gilt, gab er auch eine eigene pädagogische Zeitschrift heraus, die von 1862 bis 1863 in zwölf Ausgaben erschien. Sie diente der Verbreitung seiner Erziehungs- und Bildungskonzeption und sollte in Rußland eine Reformdiskussion innerhalb der Pädagogik motivieren. In ihr erschienen u.a. die zentralen pädagogischen Aufsätze Tolstois aus dieser Zeit, die später von seinem Freund und Biographen Raphael Löwenfels 1907 ins Deutsche übersetzt und zu seinen Pädagogischen Schriften in zwei Bänden zusammengefaßt wurden (Tolstoi 1907, Neuausgabe 1994).
Von großer Bedeutung für Tolstoi während dieser Zeit war auch seine Auslandsreise 1860/61. Er reiste neun Monate durch Deutschland, Frankreich, Italien, England, Belgien und die Schweiz mit dem Ziel, sich über das westeuropäische Bildungssystem zu informieren. Er hospitierte an deutschen und französischen Schulen und Kindergärten, besuchte Vorlesungen an der Berliner Universität und kam mit bedeutenden Pädagogen zusammen. Über die Schulpädagogik in Deutschland schrieb er hierzu am 29. Juli 1860: “War in der Schule. Entsetzlich. Gebet für König. Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder” (Tolstoi 1978b, S. 273).
Und wenige Tage später, sozusagen als Antithese, stellt er fest: “Montaigne hat als erster den Gedanken von der Freiheit der Erziehung klar ausgesprochen. Innerhalb der Erziehung wiederum ist das Wichtigste Gleichheit und Freiheit”. Anfang 1861 kehrte Tolstoi von seiner “Bildungsreise” zurück mit der Überzeugung, “daß die einzige Grundlage der Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist” (Tolstoi 1985, S. 48). In seinem programmatischen Aufsatz “Gedanken über Volksbildung” (Tolstoi 1985) führt er diesen Gedanken weiter aus und bemerkt: “Erst wenn die Erfahrung zur Grundlage der Schule gemacht werden wird, wenn die Schule sozusagen ein pädagogisches Laboratorium geworden ist, dann erst wird die Schule nicht hinter dem allgemeinen Fortschritt zurückbleiben und dann wird auch die Beobachtung im Stande sein, feste Grundlagen für die Wissenschaft der Erziehung zu schaffen” (Tolstoi 1985, S. 34/35).
Tolstoi kommt damit nicht nur zu einer Kritik an der bestehenden pädagogischen Praxis, sondern ebenso zu einem theoretischen Konzept. Er verbindet seine Pädagogik mit einer Gesellschaftskritik, die deutlich zum Ausdruck kommt, wenn er fragt: “Woran liegt es, daß es eine Erziehung gibt? Wenn eine so unmoralische Erscheinung, wie Zwang in der Bildung, d. h. Erziehung (Tolstoi unterscheidet zwischen ‘Bildung’ als freien Unterricht und ,Erziehung’ als Zwangsmaßnahme; U.K.) Jahrhunderte existieren kann, so muß die Ursache dazu in der menschlichen Natur wurzeln.
Diese Ursache glaube ich zu entdecken, erstens in der Familie, zweitens in der Religion, drittens im Staat und viertens in der Gesellschaft” (Tolstoi 1907, S. 157). Tolstoi erweist sich hier als ein ideologiekritischer Pädagoge, dem es darum geht, Strukturen einer autoritären Erziehungswirklichkeit zu entlarven. Gleichzeitig versteht er Pädagogik als eine auf Erfahrung aufbauende Wissenschaft, die sich nach dem Grundsatz der Freiheit und Herrschaftslosigkeit neu konstituieren muß.
Zum Ende seiner ersten “pädagogischen Phase” trugen wesentlich die Repressalien der zaristischen Regierung bei. Am 3. Oktober 1862 schrieb der russische Innenminister an das Unterrichtsministerium: “Die sorgfältige Prüfung der pädagogischen Zeitschrift ‘Jasnaja Poljana’, welche Graf Tolstoi herausgibt, führt uns zu dem Schlusse, daß diese Zeitschrift durch ihre Propaganda für neue Lehrmethoden und Volksschulgründungen häufig Ideen verbreitet, die nicht nur unrichtig, sondern auch schädlich sind ...” (Birukof (Hg.) 1906, S. 478).
[Dies schreibt Pawel Birukof, Freund und Biograf Tolstois, der zehn Jahre später, 1916, einen „Vegetarischen Kongress" (aber eigentlichen einen Friedenskongress) auf den Monte Verita einberufen und dort leiten wird. - Anmerkung von H. M.]
Tolstoi wurde außerdem einer Verschwörung gegen den Zaren beschuldigt, was man zum Anlaß nahm, sein Wohnhaus sowie seine Schule zu durchsuchen und zu verwüsten. 1863 zog sich Tolstoi daraufhin, verbittert über die politischen Verhältnisse in Rußland, aus der Pädagogik zurück und widmete sich seinem großen Roman Krieg und Frieden.
Die Schule von Jasnaja Poljana
Im Zentrum von Tolstois pädagogischen Tätigkeiten steht zweifellos in dem hier besprochenen Zeitraum seine Bauernschule in Jasnaja Poljana. Er setzte damit, aus heutiger Sicht, Zeichen für ein neues und libertäres Verständnis von Bildung und Erziehung, das nicht nur zu seinen Lebzeiten Anerkennung fand, sondern in gleichem Maße auch zum Vorbild für nachfolgende fortschrittliche Pädagogen wurde (z.B. Dennison 1971). Über seine Schule selbst existieren eine Reihe von Selbst-und Fremdzeugnisse, die sie für uns heute transparent machen. Neben seinem eigenen Erfahrungsbericht, der 1862 in seiner Zeitschrift erstmals erschien (vgl. auch Tolstoi 1976), sind es vor allem die “Erinnerungen” seines Schülers Wassilij Morosow, die uns ein anschauliches Bild seiner Freiheitspädagogik vermitteln (Morosow 1919).
Tolstois Schul-Praxis, die sich bewußt zur damals gängigen abheben wollte und vom pädagogischen Grundsatz der individuellen Freiheit ausging, sollte kein Instrument zur Erziehung im Sinne einer Indoktrination sein, sondern ein Ort der selbsttätigen, freiwilligen und alltagsorientierten Bildung.
Tolstoi unterschied zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich zwischen Erziehung als Anwendung von Zwang und Bildung als eine freiwillige und freiheitliche Begegnung zwischen Lehrer und Schüler.
Bildung statt Erziehung!
"Bildung" wär das rechte Wort für lebendges Wesen,
drein wir Alle, hier und dort, findend unsres Lebens Hort,
von dem Wust genesen.
Bildung, wie im Baum sie webt, der zur Sonn sich hebet,
wie sie geisternd im Kristall alles Sein durchstrebet.
Bildung - nie zu bannen, nein, keiner Habgier frommend,
aber aus wildheilgem Sein unsres Innern werderein,
freinotwendig kommend.
Gusto Gräser
Dieser Grundsatz führte zu einer Praxis von Freier Schule, die sich bis heute in der Zielrichtung nicht verändert hat und deutlich im Bericht von George Dennison über die “First Street School” von 1964/65 zum Ausdruck kommt, wenn er schreibt, “daß man, wenn die herkömmliche Routine einer Schule aufgegeben wird (die militärische Disziplin, der Stundenplan. die Bestrafungen und Belohnungen, die Vereinheitlichung), weder mit einem Vakuum, noch mit einem Chaos konfrontiert wird, sondern vielmehr mit einer neuen Ordnung, die sich in erster Linie auf Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern gründet, und zwischen Kindern und den ihnen gleichgestellten, die sich letzten Endes jedoch auf solche Wahrheiten der menschlichen Natur gründet: daß der Verstand nicht unabhängig von den Gefühlen funktioniert, sondern daß das Denken am Fühlen und das Fühlen am Denken Anteil hat” (Dennison 1971, S. 10).
Im Sommer 1859 verkündete Tolstoi in “seinem Dorf” die Nachricht von der Eröffnung einer freiwilligen und kostenlosen Schule auf seinem Anwesen.
Über den ersten Schultag, an dem 22 Kinder mit ihren Eltern kamen, berichtet Morosow: “Wir verließen die Schule, nahmen Abschied von unserem teuren Lehrer und versprachen ihm, morgen in aller Frühe wieder da zu sein. Unser Entzücken kannte keine Grenzen. Wir erzählten einander, immer wieder und gerade so, wie wenn nicht jeder einzelne ohnehin dabei gewesen wäre, wie er herausgekommen sei, was er uns fragte, wie er gesprochen, wie er gelächelt habe” (Morosow 1919, S. 17). Die ersten Monate verbrachten sie mit dem Erlernen des ABC: “Drei Monate waren noch nicht vergangen und unsere Schule gedieh vortrefflich. In dieser Zeit hatten wir schon fließend lesen gelernt und die Zahl der Schüler war von 22 auf 70 gestiegen. Es waren da Kinder aus allen Enden und Ecken unseres Landschaftskreises, Kinder von städtischen Kleinbürgern, kleinen Kaufleuten, Bauern und Leuten, die dem geistigen Stande angehörten” (ebd., S. 21).
Ohn
handwerkinnig Schöpferspiel, das Tag und Tat uns hellt, entfaltet sich
uns keine urschön, urheitre, reine würdige Menschenwelt.
Gusto Gräser