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Ein Doppelgänger Gusto Gräser's in Wien ?

Jacob Levy Moreno
(* 18. Mai 1889 in Bukarest; † 14. Mai 1974 in Beacon, New York)

Mit 16 ließ er sich „einen Bart stehen, verließ die Schule und begann ein Wanderleben zu führen" (Friederike Scherr in Wieser15). „Opponierte gegen Gott, die Schule, das politische System und ganz allgemein gegen Autoritäten" (15). Las zwar viele philosophische und religiöse Bücher aber mit heftiger Opposition, wenn die Verfasser nicht nach ihren eigenen Ideen lebten. Ihm ging es um das Handeln im „Hier und Jetzt" und in der „Begegnung". Er fühlte sich zu jenen hingezogen, die Bärte trugen als Symbol der eigenen Freiheit und des "natürlichen Menschseins und als Etwas, das nach eigener Art wächst und nie stillsteht" (in 17). Er hüllte sich in einen bodenlangen Prophetenmantel: „Ich trug einen dunkelgrünen Mantel, der fast bis an meine Knöchel reichte. Jedermann fing an, mich mit ihm zu identifizieren, ,dem Mantel des Propheten'. Ich trug ihn sommers wie winters, vielleicht in der Absicht, mich leicht erkennbar zu machen wie ein Schauspieler, der bei jeder Vorstellung in einer beliebigen Rolle das gleiche Kostüm trägt. Manchmal schien es mir, als ob ich einen Typ, eine Rolle schuf, die niemals vergessen werden konnte, wenn man ihr einmal begegnet war" (in 145).

Er wollte eine „Religion der Begegnung" gründen, dabei wie Jesus auf alles "kulturelle Drum und Dran" verzichten (in 16). "Er würde den Menschen in ihren Häusern und auf der Straße begegnen und völlig unbefangen mit ihnen sein. Ja, er würde „in der Art eines pathologischen Mannes erscheinen und humorvoll alle Anzeichen von Wahnsinn zeigen" (16).

Nein, nicht Gusto Gräser ist gemeint, aber einer, der möglicherweise sein „Schüler" war. Er lebte in Wien zu der Zeit, als auch Gräser dort auftrat, zwischen 1907 und 1914. Bewegte sich im selben Milieu, in der Cafe-Boheme im ersten Wiener Bezirk. „Seine Vorbilder waren verschiedene Propheten, die ebenfalls ihre Familien verließen, den Armen und Kranken halfen, und sich ihre eigene Anhängerschaft suchten" (15). Wer diese Propheten waren, verrät uns die Verfasserin nicht, doch die Verwandtschaft dieses jungen Mannes mit dem Denken und Tun des Siebenbürgers ist unübersehbar.

Grundpfeiler seines Denkens sind Spontaneität, Begegnung mit Menschen, spielerische Kreativität. Auf die Menschen zugehen, sie ansprechen, mit ihnen reden, aus dem Augenblick heraus handeln - das tat er, so wie Gräser es tat. Er inszeniert Stegreiftheater. Zu den Mitspielern sollen Elisabeth Bergner, Peter Lorre, Alexander Moissi gehört haben; Dramatiker wie Georg Kaiser und Arthur Schnitzler sollen Gäste gewesen sein. Aus den Begegnungen auf der Straße wird Stegreiftheater, aus dem Stegreiftheater wird Psychodrama. Wie er selbst von sich sagt: „ein Bemühen, von Augenblick zu Augenblick den natürlichen, spontanen, ununterbrochenen Fluß der Existenz zu wahren ... Es gab die Idee des ,Augenblicks' ... die Ideen der Spontaneität und Kreativität als universeller

Prozesse - als Haltung den Klischees der ethischen und kulturellen Konserven entgegengesetzt" (in Michael Wieser (Hg.): Jakob Levy Moreno, S. 17).

Die Rede ist von einem 1889 in Bukarest geborenen jüdischen jungen Mann, der später zum Begründer der Soziometrie, des Psychodramas und der Gruppentherapie wurde: Jakob Levy Moreno.

Näheres ist in den zahlreichen Schriften über den großen Psychologen und Soziologen nachzulesen. Hier soll nur ein erster Hinweis gegeben werden. Der Gedanke, dieser Moreno könnte von Gräser beeinflusst sein, stammt nicht von mir sondern von einem seiner Biographen. Ferdinand Buer schreibt:

„Für Moreno, der ja ab etwa 1910 als Wanderheiliger mit C hristusbart und Prophetenmantel auftrat, dürften vor allem Gusto Gräser (1879-1958) und Johannes Baader (1876-1955) Anregung gewesen sein. Daß Moreno von beiden gewußt hat, ist wahrscheinlich, da ihr Auftreten durch die Presse weit bekannt gemacht wurde und in Literatenzirkeln Gesprächsthema war" (Buer 28).

Nicht nur das: Gräser lebte 1910 mit seiner Familie in Wien, war mit Malern aus dem Kreis der „Neukünstler" befreundet und als werbender Wanderprophet in den zentralen Straßen der Donaumetropole unübersehbar. Moreno und Gräser müssen sich begegnet sein, das ist keine Frage. Welchen Eindruck der zehn Jahre Ältere, in seinem Wollen schon Ausgereifte auf den aufmüpfigen Schüler und Studenten Moreno machen musste, kann man sich vorstellen. Nach den Berichten seiner Biographen hat der junge Ausbrecher um 1910 begonnen, sich offen als Prophet in entsprechender Gewandung zu präsentieren.

„Wie für Moreno waren für diese Wanderprediger (Gräser und Baader) wichtige Vorbilder und Anreger: Walt Whitman, Lao-Tse, Jesus, Buddha und vor allem Gandhi" (29).

Wie Moreno sagt: „Gott ist ewig in und um uns - wie für die Kinder! Steigt er nicht mehr vom Himmel herab, so kann er doch durch die Bühnentür eintreten. ... Gott ist nicht tot. Er lebt im Psychodrama!" (In Wieser 30).

Was er im Wien der Jahre um 1910 auf der Straße und in Wohnungen praktizierte - das spontane Ansprechen von Menschen -, hat Moreno später in Psychodrama und Gruppentherapie intellektualisiert und als psychologische Methode systematisiert. Es ging ihm darum, in einer gesteuerten Katharsis die verschüttete Spontaneität und Kreativität seiner Patienten freizusetzen - ohne jedes Dogma. Bei Gräser hieß das: die Menschen „lebendig schlagen".

Moreno gründet 1918 die Zeitschrift „Daimon“, in der Franz Werfel, Max Brod und Ernst Bloch schreiben, gab sich eine Zeit lang als wandelnder Prophet mit Bart und knöchellangem grünem Mantel, erfindet mit fünf Mitstudenten die „Religion der Begegnung“, um nach dem Vorbild Jesu Nächstenliebe zu leben und Arme und Flüchtlinge zu unterstützen. (Chrismon.de)




Jakob Levy Moreno
Gusto Gräser




„Wanderheiliger mit Christusbart und Prophetenmantel"

Worte von Moreno:

God is spontaneity. Be spontaneous!

I thought of the prophets and saints of the past who appeared as the most shining examples of spontaneous creativity, and said to myself ,This is what you have to produce first and you yourself have to give flesh to it\ Thus I began to 'warm up' to prophetic moods and heroic feelings, putting them in my thoughts, my emotions, gestures and actions ... I played God and infected others to play with me. (In Buer 206)

The locus of the self ... is spontaneity ... If the self of Man can indefinitely expand in creativity and in power, and the whole history of Man seems to indicate this - then there must be some relation between the idea of the human self and the idea of the universal self or God.    (In Buer 209)

Das Werden vollzieht sich nach dem Gesetz der Kugel. Sie hat einen regierenden Mittelpunkt, zu dem alle Kreise gehören und von dem alle Punkte der Peripherie übersehbar sind.    (In Buer 203)

Quellen:

Blattert, Klaus Jacob Levy Moreno - ein Prophet unserer Zeit. In: Wieser 2013, S. 127-181.
Buer, Ferdinand (Hg.) Morenos therapeutische Philosophie. Zu den Grundideen von Psychodrama und Soziometrie. Opladen 1989.
Hutter, Christoph, Schwehm, Helmut (Hg.) J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen. Wiesbaden 2009.
Moreno, J.L. Auszüge aus der Autobiografie. 1995.
Michael Wieser, Christian Stadler (Hg.) Jakob Levy Moreno. Mediziner, Soziometriker und Prophet. Eine Spurensuche.
Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie. Sonderheft 5, Wiesbaden 2013.


Auszug Aus Ferdinand Buer (Hg.): Morenos therapeutische Philosophie, Opladen 1989, Seiten 28 und 29

... der Depression, als Verarmungsprozesse breite Bevölkerungsschichten ergriffen, hatten diese Bewegungen starken Zulauf. Diese Wanderpropheten wollten ein völlig neues Reich auf Erden durchsetzen und forderten alle Menschen auf, umzukehren und an der Neuordnung der Gesellschaft mitzuwirken. Diese utopischen Vorstellungen variierten zwischen linksradikalen und faschistischen Visionen.

Für Moreno, der ja ab etwa 1910 als Wanderheiliger mit Christbusbart und Prophetenmantel auftrat, dürften vor allem Gusto Gräser (1879-1958) und Johannes Baader (1876-1955) Anregung gewesen sein. Dass Moreno von beiden gewusst hat, ist wahrscheinlich, da ihr Auftreten durch die Presse weit bekannt gemacht wurde und in Literatenzirkeln Gesprächsthema war.

Nach einem visionären Erlebnis gab Gräser seine bürgerliche Existenz auf und ging auf Wanderschaft, „angetan mit einer langen härenen Tunika, die Haare mit einem ledernen Stirnband zurückgehalten, barfuß oder höchstens Sandalen tragend, den gesamten Besitz in die Tasche gestopft, die er an einem Riemen um den Hals trug“ (Linse, 1983, S. 69). In Weihestunden und Vorträgen, mit Spruchkarten, Wandsprüchen, Flugblättern und Steinzeichnungen rief er jeden, dem er begegnete, zur Umkehr auf. Er übersetzte die „Sprüche“ des Lao-Tse; er hielt sich auf dem Monte Verità bei Ascona auf und suchte auch auf andere religiöse Gruppierungen Einfluss zu nehmen. So auf die Christ- I Revolutionäre, die Marx und Jesus zu einer Synthese verschmelzen wollten.

Johannes Baader verstand sich als Künstlerpriester und entwarf für eine erneuerte Religiosität eine monumentale Tempelarchitektur. Er schrieb 1914 in den „Vierzehn Briefen Christ“: „Es ist eine Plattform zu bauen, auf der alle Gedanken der Menschen Platz haben und von der sie alle in ihrem gleicherweise gewaltigen und feingefügten Spiel überschaut werden können. Und der diese Plattform baut, ist Buddha, der Heiland, der Christus“ (Baader in Linse, 1983, S. 75). Welch frappierende Parallele zu Morenos grandiosen Bühnenentwürfen (vgl. Moreno, 1970, S. 107ff.).

Johannes Baader rechnete sich zur DADA-Bewegung und war mit Raoul Hausmann, George Grosz, Franz Jung und Otto Gross (-* Buer/Schmitz) bekannt. Er brachte den Aktionismus der DADA-Künstler auf den Punkt: ,Nur der Humor kann die Welt erlösen“ (Baader in Linse, 1983, S. 81), eine Position, die auch Moreno vertrat (vgl. Moreno, 1975, S. 258).

Der Schweizer Dadaist Hugo Ball sah in einem Vortrag von 1917 generell im Künstler den Propheten einer neuen Zeit.

Drei Dinge sind es, die die Kunst unserer Tage bis ins Tiefste erschütterten, ihr ein neues Gesicht verliehen und sie vor einen gewaltigen neuen Aufschwung stellten: Die von der kritischen Philosophie vollzogene Entgötterung der Welt, die Auflösung des Atoms in der Wissenschaft und die Massenschichtung der Bevölkerung im heutigen Europa. (...) Die Künstler dieser Zeit sind nach innen gerichtet. Ihr Leben ist ein Kampf mit dem Irrsinn ... Sie sind Vorläufer, Propheten einer neuen Zeit-Ihre Werke tönen in einer erst ihnen bekannten Sprache. Sie stehen im Gegensatz zur Gesellschaft wie die Ketzer des Mittelalters. Ihre Werke philosophieren, politisieren, prophezeien zugleich. Sie I sind Vorläufer einer ganzen Epoche, einer neuen Gesamtkultur“ (Ball in Ritter & v. Bruch, 1988, S. 101 ff.).

Von vielen dieser „Inflationsheiligen“ wurde die Welt als Irrenhaus angesehen. Deshalb forderten sie die totale Erneuerung des Menschen von innen her (vgl. Linse, 1983, S. I 36). Moreno entwickelt später gelegentlich ganz ähnliche Vorstellungen, wenn er schreibt:

Da die menschliche Gesellschaft krank ist, ist zu erwarten, dass allmählich ein psychiatrisches I Reich entstehen und sich über die ganze Erde verbreiten wird. Politiker und Diplomaten werde11 I zweitrangig werden. Sozialwissenschaftler, Psychiater, Soziater und soziometrisch orientierte Sozialisten werden an der Spitze stehen. Der Mentor im Weißen Haus, ein zukünftiger Präsident der Vereinigten Staaten könnte in hundert Jahren ohne weiteres ein Psychiater sein. Gleicht nicht der ganze Kosmos mehr und mehr einem riesigen Irrenhaus mit Gott als leitendem Arzt?“ (Moreno, 1981, S. 221).

Diese geforderte Umkehr wurde oft eingeleitet durch die wahre Begegnung mit dem Propheten. So berichtet Werner Niethe von einer Begegnung mit dem Heiligen Louis Haeusser: Ich „gab ihm die Hand und blickte ihm in die Augen! In diesem ,Augen-Blick‘ wusste Ich, dass ich Gott, Himmel, Geliebten, Geist, Seele, Wahrheit, Jugend, Meiner Sehnsucht Ziel, Meinen Freund, den Freund gefunden hatte!“ (in Linse, 1983, S. 52).
Wie für Moreno waren für diese Wanderpropheten wichtige Vorbilder und Anreger: Walt Whitman (vgl. Moreno, 1978a, S. XLI), Lao-Tse, Jesus, Buddha und vor allem Gandhi (vgl. Linse, 1986, S. 125ff.; Moreno, 1978a, S. XXVII, XXXIV).

Will man Morenos experimentelle Theologie erneuern, dann werden schlagartig die Parallelen seines Ansatzes mit einer Mystik deutlich, wie sie heute im Zusammenhang mit der New-Age-Bewegung wieder diskutiert wird. Michael Schacht hat diese Diskussion aufgenommen und vergleicht zentrale Ideen Morenos mit Vorstellungen einer universalen mystischen Tradition (--> Schacht). Deutlich wird, dass Morenos Denken in vielerlei Hinsicht als mystisch verstanden werden kann. Insofern hat eine Rekonstruktion von Morenos religiösen Überzeugungen durchaus ihre Bedeutung für den heutigen spirituellen Diskurs. Morenos Vision, Religion und Wissenschaft miteinander zu versöhnen, also der Gefahr religiöser Spekulation durch empirische Orientierung zu begegnen und die Gefahr affirmativer Datenaggregierung durch utopisches Denken zu bannen, bleibt auch heute aktuell, wie fragmentarisch sie auch nur in seinen Projekten, Theorien und Methoden von ihm selbst verwirklicht werden konnte.

2.3.2 Die therapeutischen Ansprüche

Obwohl Moreno u.a. in der Psychiatrischen Klinik der Universität Wien studierte, war seine ärztliche Tätigkeit in Mitterndorf und in Bad Vöslau nicht in irgendeiner Weise besonders psychiatrisch oder gar psychotherapeutisch ausgerichtet. Allerdings hat Moreno auch hier seine religiösen Überzeugungen, nämlich der Heilung in der Begegnung, beherzigt. Seine Tätigkeit wurde durch den Staat bzw. die Kammgarnfabrik bezahlt; er brauchte daher von seinen Patienten kein Geld zu nehmen. Das war auch mit seiner damaligen Heiler-Vorstellung nicht zu vereinbaren. Er wollte jedem seiner Patienten „begegnen“. Moreno berichtet (1969, S. 44):


Wissen Sie, ich habe niemals Geld genommen von den Patienten. Das war meine Fixe Idee, dass man Geld nicht von Kranken nehmen soll. Das Resultat war, dass die Leute, die Bauern, die Bäuerinnen Von aßen möglichen Orten, mit allen möglichen Geschenken kamen. Sie kamen mit Eiern und Pennen, kleine und große Gänse, und manchmal sogar einem Schwein.“

Erst in Amerika hat Moreno dann „einen Namen erworben und Geld genommen“ (Moreno, 1969, S. 45).

Moreno erwartete, dass Gutes mit Gutem vergolten werde, und es geschah so. An seinen Projekten hatte man unentgeltlich mitzuarbeiten. Nicht wie der Architekt Kiesler, der Morenos Entwurf einer Stegreifbühne ausarbeitete und dann unter seinem Namen öffentlich ausstellte. Ihn zählte er zu jenen: „Sie wollten sich unterrichten lassen, aber nur gegen ... “