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Henri Oedenkovens Zukunftsstaat

Aus: Neues Wiener Journal, Nr. 3410, Samstag, 25. April 1903, S.7

Ein Mitarbeiter der "WM. N. N ." erzählt:

Auf der Landstraße Locarno-Ascona, rechts beim Kirchhof abbiegend, gelangte ich zu einem mit hohem Bretterverschlag eingezäunten, vier Hektar umfassenden Hügel. Ein Belgier, der mit seiner Familie und einigen wenigen Getreuen bereits längere Zeit dort haust, steht jetzt im Begriff, auch dem größeren reisenden Publikum gegen entsprechende Pension, diesen seinen Kurort und Zukunftsstaat zugänglich zu machen. Der Besitzer und Director dieses Zukunftsstaates, der jedenfalls der sogenannten guten Gesellschaft angehört, macht, abgesehen von seiner Kleidung und Aeußerem, zunächst einen normalen Eindruck. Seine Kleidung besteht aus Kniehose und Blouse von braunem Sammt, die Füße stecken in Sandalen und das wallende Haupthaar nnd Bart erinnern an uns bekannte Figuren aus den Oberammergauer Festspielen.

In liebenswürdiger Zuvorkommenheit zeigte er mir die noch sehr unfertigen Anlagen, die Anfang Mai dem Betrieb übergeben werden sollen, und entwarf mir das Bild, wie er sich das Zurückkehren der Menschen zur Natur vorstellt.


"So lange es kalt ist, bekleidet "Er" (der Zukunftsmensch) seinen Körper, hernach geht er nackt einher - das Hemd ist unmoralisch! Er lebt in selbstgezimmerten Bretterhäusern, bei warmem Wetter in Lufthäusern, ohne Thüren und Fenster. Er bedient sich selber, nur schwer Kranken wird geholfen. Er webt und fabricirt alles zum Leben Nöthige persönlich, und zwar mittels elektrischer Kraft, wo selbige nur irgend verwendet werden kann. Er bestellt das Obst, den Garten. Er kocht die für den Winter nöthigen Obstconserven, notabene seine einzige Kocherei, denn er lebt vegetabilisch, nicht vegetarisch, das ist ein überwundener Standpunkt. Er ißt Nüsse, Obst, Flocken!
Milch, Eier, selbst Brot sind verpönt. Die Essenszeit ist gleichgiltig. Dem Säugling wird nur Muttermilch gereicht, hernach bekommt derselbe sofort Obst, Rohkost. Er wird seine eigenen Zeitungen drucken, seine eigenen Schauspiele und Bücher schreiben, und zwar alle Worte gleich, ohne große Anfangsbuchstaben, denn das ist Zeitvergeudung und strengt das Gehirn des Kindes unnütz an.
Es wird keinen bestimmten Beruf geben; keine Juristen, keine Tischler, keine Aerzte, keine Musiker oder Schuster. Jeder Einzelne wird Alles in sich verkörpern. Bis es dahin kommt, hat er natürlich die Außenwelt noch nöthig, das wird aber später fortfallen. Die Außenwelt wird dann ihn nöthig haben, denn zum Beispiel wird sie von ihm die Obstconserven beziehen."

Als ich mich interessirt erkundigte, wie lange er bereits dies Leben bei der Kost führe und wie er sich körperlich dabei befinde, erwiderte er: Seit vielen Jahren, und er fühle sich sehr wohl. Früher sei er krank gewesen, jetzt immer gesund, und hoffe an 120 bis 130 Jahre alt zu werden. Viel Glück!


 

Henri Oedenkoven, um 1874 geboren, starb 1935, wurde also 61 Jahre alt. Er erreichte damit nur die Hälfte seines angestrebten Wunschziels. Dagegen hat sich seine Vision eines biologischen Obstconservenbetriebs in üppiger Breite verwirklicht, wie die heutige Reformkost- und Naturkostwirtschaft zeigt. Auch sein Rohkost-Müsli, später als Bircher-Müsli bekannt geworden, hat sich durchgesetzt. Die Unmoral des Hemdentragens ist freilich noch nicht ganz überwunden, da es an der nötigen Wärme fehlt. Mit dem in Gang befindlichen Klimawandel könnte sich auch diese Prophetie noch erfüllen.

Ein Echo von Oedenkovens frommem Fortschrittsglauben finden wir bei Hermann Hesse, wenn er 1907 schreibt, nach seinem Aufenthalt im Sanatorium des Reformers:

"(Ich) habe die Überzeugung gewonnen, daß eine Regeneration unsrer Völker und unsres gesamten Lebens möglich wäre, durch Früchtenahrung und Annäherung an das Nacktleben" (Mat. Siddh. II, 346). Er stellt aber zugleich klar, dass er in Ascona nicht solche nur leibliche Erfahrungen gesucht habe. Dagegen habe er dort für sein geistiges Leben einiges gewonnen: mehr Bescheidenheit und einen Fortschritt in Wahrhaftigkeit. Wohin ihn dieser Fortschritt noch führen sollte, konnte er damals noch nicht absehen.

Wie schon der Titel seines Aufsatzes 'In den Felsen' anzeigt: Nicht im Sanatorium hat er neue Erkenntnise gesucht sondern „in den Felsen“, nicht bei den Kultur- sondern bei den „Naturmenschen“, von denen Oedenkoven entschieden sich abgrenzte, die er hinauswarf und die seine Gefährtin Ida Hofmann mit Hass verfolgte. Seine „Bretterhütte in der Einöde“ (ebd., S.339) ist nicht zu verwechseln mit den komfortablen, geheizten und mit elektrischem Strom und fließendem Wasser versorgten Licht-Lufthütten des Sanatoriums. Er schläft nicht im eisernen Feldbett sondern auf einer Laubstreu über nackter Erde. Offiziell ist er Kurgast, inoffiziell und hauptamtlich aber Einsiedler in der „Wüste Thebais“ von Arcegno.

In seinen 'Notizen eines „Naturmenschen“`ist bereits jene Abgrenzung von der Oedenkovenschen Körperheilkunde zu erkennen, die er dann in 'Demian' noch deutlicher ausspricht, wenn er über die „Pflanzenesser“ im Umfeld von Gräser-Demian sagt: „Mit diesen allen hatten wir eigentlich nichts Geistiges gemein als die Achtung, die ein jeder dem geheimen Lebenstraum des andern gönnte“ (Suhrkamp BasisBibliothek 16, S.149).