Die
Wallfahrtskirche auf dem Hohenpeißenberg im bayrischen Voralpenland
–
der Ort seiner Wandlung zum „Propheten“
Am 10. Februar 1882 hat der Maler
Diefenbach eine
Vision. Nach einer durchwachten, in Ängsten und Zweifeln schweißgebadet
durchkämpften Nacht tritt er ins Freie. Er steht auf dem
Hohenpeissenberg, der
in der oberbayrischen Ebene wie eine Aussichtskanzel aufragt, vor sich
von
Horizont zu Horizont die endlose Kette der Alpengipfel. Es ist der
Augenblick
des Sonnenaufgangs. Diefenbach scheint über den Wolken zu schweben, die
wie
wallende Meerflut weithin das Land überdecken. In der kühlen Glut der
aufgehenden Sonne erstrahlen die schneebedeckten Eisriesen: smaragdene
Lichtkrone in majestätischer Ruhe und Reinheit.
Am
Tag seiner Hochzeit hat er sich in diese Einsiedelei geflüchtet, ein
uraltes
Heiligtum, Mönchszelle, Wallfahrtsort durch Jahrhunderte. Es ist der
Tag einer
erzwungenen Hochzeit mit einer ungeliebten Frau und der Beginn einer
jahrelangen Ehehölle, die erst mit dem Tod des einen Partners enden
wird. Er
hat einen Schritt vollzogen, der all seinen mühsam errungenen
Überzeugungen ins
Gesicht schlägt. Hat er nicht in jahrelangen Kämpfen sich endlich
losgerungen
aus der Enge seiner katholisch-bürgerlichen Erziehung, hat er nicht die
kirchlich und staatlich sanktionierte Ehe als entwürdigende,
menschenzerstörende Fessel erkannt und verworfen? Hat er, nach schwerer
Erkrankung jahrelang am Rande des Todes schwebend, sich nur darum zur
Erkenntnis der Heilkraft der Natur und eines freien, naturfrommen
Denkens
durchgerungen, um jetzt vor der Übermacht von Sitte und Konvention
feige zu
kapitulieren? Wo liegt die Wahrheit, wo das Recht? - Im Anspruch der
Gesellschaft und ihrer festgefügten Moral - oder in seiner eigenen,
durch
Erfahrung und Leiden erhärteten Einsicht?
In
seiner Einsamkeit blickt er zurück auf ein Jahrzehnt in München, wo ihn
die
Vulgarität seiner Mitstudenten von der Akademie vertrieb, eine schwere
Krankheit und das Versagen der Schulmediziner ihn zum Krüppel schlug,
der
starre Moralismus seiner kirchenfrommen Geschwister ihn aus dem Hause
drängte,
schließlich die Mutter seines unehelich geborenen Sohnes ihn unter das
Joch der
Ehe zwang. Selbst seine Gesinnungsgenossen, die Freidenker und Reformer
aller Richtungen,
haben ihn als "Narren" und schädlichen "Extremisten"
geächtet.
Welches
Schicksal würde ihm blühen, wenn er jetzt, als Einzelner unter
Millionen,
aufstünde, den
Menschen seine Wahrheit
ins Gesicht zu sagen? Wenn er hinabstiege in die Ebene als Apostel und
Prediger
von der Heiligkeit der Natur und der Göttlichkeit des Menschen?
Finstere
Nacht von Wahn und Lüge, wüster Spuk von einem
"Gotte",
den
zu nähren "Diener Gottes" sich bemühn und jene Menschen,
die
"von Gottes Gnaden Fürsten" sich betiteln. -
Mitternacht
ist schon vorüber, nicht gehängt mehr und gekreuzigt, nicht
verbrannt
wird heut der Ketzer; aber
Märtyrer ist er auch heut noch. Leiden, wie er sie erduldet, nennen
keine
Menschenworte; nur Genossen seines
Schicksals
ist
die Tiefe seiner namenlosen Qualen faßbar. -
Heilge
Menschenlieb, die ihren höchsten Adel
nur
den Siegern über tiefstes Weh und namenloses Glück verheißt,
vereint
sie.
Fürstenhabgier,
Priesterwahn und Medizinertreiben,
die
der Menschheit Menschlichkeit vernichtet,
die
der Erde blühend Eden in ein "Jammerthal" verwandelt -
dann
mein Irrthum, daß ich
glaubte, Menschen,
die
der eigne Geist nicht zum Aufwärtsstreben antreibt,
mir
zu folgen zu vermögen -
mein
Gemüth, zu weich um Vater, Mutter, Bruder, Schwester
zu
verlassen, wie es, seiner Bahn zu folgen,
selbst
ein Jesus fordern konnte -
endlich
meine vielen Fehler, Folgen jener "Christenlehre",
die
als Kind mir eingeimpft ward, oder denen ich als Opfer
eines
übermächtgen Schicksals, meiner nicht mehr Herr,
verfiel
-
dies
die Wurzeln jenes Kampfes, der seit meinen Jünglingsjahren
meine
beste Kraft verzehrend, mein und vieler Menschen
Lebensglück zerstörte.
Meine
Freiheit ('s war der letzte Stern von eignem Glücke) mußt zuletzt
ich
dem gemeinen Zwang der
"Ehe", dieser fluchbeladnen Frucht der
Weltanschauung
längstvergangner Zeiten,
opfern.
Selbst
die Selbstverleugnung, ohne welche diese That nicht zu
vollbringen,
wad
mir gräßlich schwer gemacht.
So
erbärmlich Joch zu tragen bäumte wild mein Mannesstolz sich.
Doch
es galt mein Kind zu retten!
Dumpf
ergeben in mein
Schicksal, matt, entkräftet,
zog
es mich zur Einsamkeit der Berge, hier,
von
Menschen fern, dem ewig-warmen Herzen der Natur
mein
Leid zu klagen und den Wahnsinn,
dessen grinsendes Gespenst
so
oft mein Lager
schon
umschlich oder heulend wie der Sturm, der Eichen splittert,
mich
umraste, zu bekämpfen.
Hier
irrte ich am Tag in Feld und Wald, ermüdete den Leib,
um
endlich Schlaf zu finden; doch umsonst. -
In
einer Nacht, da
ohne Schlaf ich wieder, nach Ruhe ringend,
qualvoll
dalag, schweißgebadet und mit Thränen
meine
Lagerstätte netzend, verlaß die Hütte ich und stürm
hinaus
ins Freie. -
Hier
ist Friede.
Kein
Lüftchen regt
sich, kein Laut ist hörbar,
die
weite Ebene, bedeckt von dichtem Nebel,
liegt
tief zu meinen Füßen, der Alpen langer Zug
begrenzt
sie -
über
mir die wolkenlose Bläue,
bevölkert
von der Sterne großer
Schar.
Welche
Ruhe! und doch
welch Leben!
Der
Sturm in meinem Innern schweigt, bewältigt von dem Frieden der
Natur.
Nun
klopft das Herz mir hörbar.
Mählich
scheucht die Dämmerung das Dunkel, Sterne schwinden.
Goldner
Schein verkündet Tagesnähe -
ein
unnennbar tiefes Schauern faßt mich - meine Glieder
beben
vor Erregung - jetzt erscheint
der
Sonne Majestät
. . . . . . . . . . . . . .
. .
. . . . . . .
Dieser
Augenblick - es
war der höchste meines Lebens!
Was
ich fühlte nennt kein Wort der Erde.
Vor
der Sonne w a h r e
r M en s
c h e n g r ö ß e
, die mir
aufgegangen,
schwand mein Wahnsinn, Kummer, Schwäche,
Zorn
und Unmuth, wie der Winter vor der Frühlingssonne
schwindet.
Deren
Leben nur ein großes Liebesopfer - meine Mutter -
winkt
mir segnend.
Frei
bin ich jetzt!
frei trotz der Ketten,
welche
Wahn und Niedrigkeit der Zeit noch um mich legen,
frei
in mir selbst!
Der
schwerste Bann von allen, der seines eignen "Ich" -
vernichtet
ist er mit der Eigenliebe letztem Rest!
Jetzt
bin ich frei, dein ganz, o Menschheit!
Heilge
Ruhe wiegte
mich in Schlummer.
Träumend
sah geschlossen ich die Wunden, sah
aus
lautrer Schmerzensquelle stille Wahrheit
sich
ergießen, sah vereint mich meinen Lieben, die Verblendung
mir
entfremdet, sah die Mutter meines Kindes
eifrig
strebend mir zu folgen, sah mein Kind mit Riesenstärke
kämpfen
gegen Wahn und Lüge, sah der Wahrheit Morgenröthe,
sah
der Menschlichkeit Erwachen, sah die Menschheit
"
g o
t t b e f r e i t " !
*
Diefenbach
Hohenpeissenberg
11.
Februar 1882
Sonnenaufgang auf dem Hohenpeissenberg 2010
Es
ist keine eigentliche Vision, was er erlebt, scheinbar nicht mehr als
ein
erhebender, erhabener Anblick. Und doch: der Sonnenaufgang im Außen ist
Spiegel
und Widerspiel eines Sonnenaufgangs im Innern. Es ist nicht die Größe
und
Schönheit der Natur allein, die ihn erhebt, es ist die in diesem
Augen-Anblick
erschaute eigne "Menschengröße", nämlich: ohne Rücksicht auf die
eigene Person zu "kämpfen gegen Wahn und Lüge, zu kämpfen für "der
Menschlichkeit Erwachen". Und dies, in der Tat, hat er ein Leben lang
getan.
Er
wird hinabsteigen vom Berge und in härener Kutte auf den Straßen, vor
den
Schlachthäusern und in den Biertempeln von München seine Wahrheit
verkünden,
die da lautet:
Arme
Menschheit!
Gewichen
einst vom Wege der Natur
verfielst
dem Irrtum du, der Quelle allen Übels
...
Nicht
mehr erkennst die eigne Mutter du,
nicht
mehr dich selbst!
Deiner
Mutter Erde
Liebe,
deines
Herzens reine Stimme,
die
traute Stimme der Natur,
verhöhnest
oder überhörst du, heilig ist dir nur -
dein
Wahn!
Wie
viele Tränen sind
geflossen, wie viel versiegt! Wie viel Gebete
heiss
und innig flehten zum Gott der Liebe um Erbarmen und Erlösung!
Und
wie viel Blut - BLUT sag ich! - ist vergossen, und wie viel
Schmerzgeheul
und
wie viel Racheschwüre sind hinaufgeschrien zum Gotte der
Gerechtigkeit!
Und
wie viel Todesröcheln unter Qual und Schmerz aus jugendlichem Leibe
drang hinauf
zum
Gott der Allmacht, dem Schöpfer und Erhalter alles Seins! -
Wie
viel!!!
Und
Du GOTT der Gerechtigkeit, der Liebe und der Allmacht,
Du
Schöpfer und Erhalter alles Seins, des Menschen Vater,
wo
bist du?
Arme,
irregeführte
Menschheit! Zu toten Götzen flehst Du um Erlösung,
indes
Du Dich vom Gott des Lebens und des Heils hast abgewendet, sein
Gebot
missachtest
und dawiderhandelst, der Erde lachend Eden in ein
Jammertal,
in
eine Mördergrube wandelst! - Erkenn Dich selbst! -
In
DIR ist Gott!
Der
Himmel und das Paradies, die Heimat Deines Geistes, Deiner Seele,
der
Erde wonnerfüllte Herrlichkeit, des Weltalls ewge Unermesslichkeit
als
Keim verborgen
liegt in
jedes Menschen Brust! -
Erkenn
Dich selbst! -
Nur
die Erkenntnis Deiner GOETTLICHKEIT befreit
Dich von
den Banden
und
dem Fluch des Irrtums, des Verbrechens, des namenlosen Elends,
der
Schändung Deiner selbst und Deiner Mutter Erde! -
Erkenne,
Menschheit,
deine Mutter, die
N
A T U R,
die
rein und frei als höchstes Wesen dich geboren und nicht befleckt
mit
Erbsünd, Fluch und Schande dich in ihr blühend Eden setzte.
Dass
alle Herrlichkeit des Erdballs, des Weltalls Unermesslichkeit
als
Keim verborgen liegt in j
e
d e s Menschen
Brust!
Erkenne
dich, Mensch.
*
Man
kann die Geschichte von
Diefenbachs Leben nicht erzählen und nicht
verstehen ohne Kenntnis von diesem Hintergrund. Ein Hintergrund, der
noch
abgründiger sich auftut, wenn man eine Passage liest, die in der obigen
Wiedergabe seines Gedichts ausgespart worden ist. Sie erklärt zugleich,
warum
der Malerdichter und Reformer von nun an das Wort "Gott" regelmäßig
in Anführungszeichen setzen wird.
Des
Irrtums und der Lüge finstre Macht liegt noch auf Erden,
der
wüste Traum von einem Gotte schreckt gleich dem Alpdruck
noch
der Menschheit grössten Teil.
Ich
bin erwacht aus diesem unnatürlichen Schlaf,
den
Priester sorgsam hüten, und hab die Quelle allen Elends,
jenen
wüsten Traum von einem Gott, erkannt.
Ich
bin erwacht, bin zu mir selbst gekommen,
und
in die Welt hinaus ich ruf:
Es
ist kein Gott!
O
könnt ich meiner Stimme
Schall verstärken,
dass
sie, millionenfachem Donner gleich,
die
Erd umbrauste:
"Es
ist kein Gott!"
Zusammen
mit Nietzsche, aber, wie es scheint, noch ohne ihn zu kennen, verkündet
Diefenbach gegen Ende des Jahrhunderts den "Tod Gottes", den Tod des christlichen Gottes.
Im Unterschied aber zu
Nietzsche lehrt er weder den "Willen zur Macht" noch ein
"Jenseits von Gut und Böse" noch den Relativismus und Perspektivismus
einer rein personen- und augenblicksbezogenen "Wahrheit", sondern:
den Willen zur Demut vor der Macht der Natur, ein klares Gut und Böse,
das im
Nichttöten und Nichtverletzen anderer Lebewesen seine unübersteigbare
Scheidelinie hat, und eine universale, immer gültige Wahrheit in den
Gesetzen
der Natur. Und wenn er auch die christliche Kirche wie alle anderen
Heilsanstalten als Vergötzungs- und Unterdrückungsinstitutionen
ablehnte, so
war und blieb ihm doch der „Gottmensch“ Jesus Leitbild und Sinnbild
seines
"Menschheitsideals". Wie immer irrend und träumend, maßlos und
überspannt, starrköpfig und selbstbezogen in seinem
Menschlich-Allzumenschlichen Diefenbach sich gegeben haben mag, in
diesen
Grundlinien seines Tuns und Denkens ist er sich treu geblieben, und in
ihnen
allein, nicht in seinen Begenzungen und Übertriebenheiten, liegt seine
Bedeutung. Als "Naturapostel" wurde er verlacht und gescholten; ein
Apostel der Natur, ihr Prophet und in manchem Sinne ihr Märtyrer ist er
in der
Tat gewesen.
Im
Sonnenaufgang über den Alpengipfeln erlebt Diefenbach den Sonnenaufgang
seines
Innern, den Sonnenaufgang einer Erkenntnis: "Es ist kein Gott".
Göttlich ist der Mensch
und die Natur. Alles Elend auf
Erden leitet sich davon her, daß der Mensch den Weg der Natur
verlassen, seine
Mutter, die Erde, verraten hat. In der Rückkehr zu den Gesetzen der
Natur und
in der Erkenntnis des eigenen göttlichen Selbst liegt die Erlösung, die
Rückkehr ins Paradies.
Zwei
Jahre später steigt der Prophet in Kutte und Sandalen herab in die
Niederungen
von München und verkündet seine Neue Lehre in allwöchentlichen
Sonntagsreden.
Als diese polizeilich unterbunden werden, zieht er sich in die Einöde
eines
verlassenen Steinbruchs bei Höllriegelskreuth zurück.
Er
ist überzeugt, daß ein durch die Gesellschaft geprägter Mensch, ein
Erwachsener, nicht mehr gerettet werden kann. Deshalb will er ein Heim
für
Waisen und unehelich geborene Kinder errichten und die noch
unverdorbenen
Kleinen zu dem von ihm erstrebten Ideal des jesusgleichen Gottmenschen
erziehen. Das Waisenheim kommt nicht zustande, doch nimmt er
halbwüchsige
Kinder auf. Er erhält jedoch keine behördliche Genehmigung und muß die
ihm
anvertrauten Schüler wieder zu ihren Eltern zurückbringen. In seinen
Bildern
sieht und malt er sich als Märtyrer, als eine von aller Welt verlassene
und verstoßene
Christusgestalt.
Ein
Malschüler, den er "Fidus" nennt, schließt sich dem Einsamen an und
veranstaltet in München eine Ausstellung, die Diefenbach mit einem
Schlag
berühmt macht. Er wird nach Wien eingeladen, wo seine zweite große
Ausstellung
einen Sensationserfolg hat. Mehr als 80.000 Menschen wollen seine
Bilder sehen
und eher noch ihren im Apostelgewand auftretenden Schöpfer. Der wird
jedoch von
einem Betrüger um seinen Gewinn und seine Bilder gebracht, muß sich als
Obdachloser bei der Polizei melden.
Diefenbach
träumt nun von einer Insel im sonnigen Süden, wo er fern von der dem
Untergang
zusteuernden Kulturmenschheit den Menschen des kommenden Zeitalters
heranbilden
will. Zu Fuß überquert er mit seiner Familie die Alpen, gelangt
schließlich
nach Ägypten. In unmittelbarer Nähe der Sphinx von Giseh und in ebenso
gewaltigen Dimensionen plant er nun sein Waisenhaus in Form einer
riesigen
Sphinx. Die ägyptische Regierung stellt
ihm ein Stück Wüste
als Bauland zur Verfügung, doch familiäre Ereignisse zwingen ihn, nach
Wien
zurückzukehren.
Hier
kämpft er um die Rückgewinnung seines Lebenswerks und will mit einer
großen
Wanderausstellung an frühere Erfolge anknüpfen. Sie wird jedoch, von
der Presse
boykottiert, zu einem Mißerfolg; Diefenbach ist dem Konkurs nahe.
Gleichwohl
sammeln sich in dieser Zeit zwei Dutzend junge Schüler oder Jünger um
ihn, die
ihn als Meister verehren. Sie wollen sich von ihm zu "Gottmenschen"
heranbilden lassen und unterwerfen sich freudig den harten Regeln
seiner naturreligiösen
Gemeinschaft, die er 'Humanitas' nennt.
Äußerer Druck und innere Spannungen führen jedoch zum Bankrott des
Unternehmens. Sein "Himmelhof" genanntes Heim wird zwangsgeräumt,
Diefenbach selbst entmündigt, einer seiner Jünger in einem
Skandalprozeß
angeklagt.
Diefenbach
flüchtet sich jetzt mit seiner Familie nach Triest und von dort nach
Capri, wo
er den Rest seiner Jahre verbringt. Er kommt dort als Maler zu einem
gewissen
Wohlstand, aber seine Schüler und selbst seine eigenen Kinder und seine
Frau
wenden sich von ihm ab. In alledem sieht er den Widerstand und die
Rache der
alten Mächte, denen sich sein Evangelium von der Göttlichkeit des
Menschen und
der Natur entgegenstemmt. Er vereinsamt und verbittert zusehends,
zweiundsechzigjährig stirbt er einen qualvollen Tod.
Diefenbachs
Bild trägt manche Züge des Überspannten und der Verhärtung. Es besteht
kein
Anlaß, ihn als Heiligen und Weisen zu malen. Dennoch imponiert der
ungeheure
Mut, mit dem er es gewagt hat, sich als Einzelner und Einsamer, einer
einmal
gehabten Erkenntnis folgend, dem Ganzen der Gesellschaft
entgegenzustellen.
Dies umso mehr, als seine Einsicht das Grunddefizit des westlichen
Kulturkreises klar erfaßt und im Prinzip einer sinnvollen Lösung
entgegenführt:
Achtung für die Natur und für die Selbstführungskraft des Menschen. Er
war
nicht der Narr, als den man ihn verspottet hat, sondern ein radikaler
Aufklärer
und religiöser Humanist, den die Schau einer Zukunftskultur zu stetiger
Selbstüberforderung und zu utopischen Hoffnungen hinriß. Daß er mit
seiner
Losung "Natur und Selbst" die Parole für das kommende Jahrhundert,
für einen lebensnotwendigen Kulturwandel gegeben hat, läßt sich heute,
nach
hundert Jahren, erkennen.
Diefenbach
ist als ein Pionier, ein Vorkämpfer, ein Bahnbrecher vorangegangen und
als
Mensch am übermächtigen Widerstand seiner Umwelt gescheitert. Mit
prometheischer Anstrengung hat er alte Götter gestürzt, einem Nietzsche
vergleichbar, und dafür prometheisch gelitten. Er hat Schüler gehabt,
die auf
seinen Schultern, aber in Abkehr von seinen Irrtümern, seine Idee
weitergetragen und weitergebildet haben. Sein naturfrommes
Menschheitsideal
blieb ein Stammeln und Tasten; erst ein von ihm Vertriebener, der gegen
seinen
Meister rebellierende Gusto Gräser, hat Sprache und Ausdruck für sein
noch
traumverhangenes Wollen gefunden.
Zu
seinen Schülern hat Diefenbach einmal gesagt, er fliege hoch und sehe
weit. Er
könne eine Kirchturmuhr schon lesen, wenn sie noch kilometerweit
entfernt sei.
Früher als andere hat er gesehen, was die Stunde geschlagen hat.