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Johannes Friedrich Guttzeit (1853 - 1935) Naturprediger, Naturphilosoph, Dichter Im Herbst 1898, als Gräser in der Himmelhof-Kommune von Diefenbach lebte, schloss sich eine Gruppe junger Leute dieser Gemeinschaft an, Schüler des Naturpredigers Johannes Guttzeit. Mit ihren urchristlichen Idealen – leben wie die Lilien auf dem Felde, brüderlich und ohne jede Gewalt - haben sie offenbar den ohnehin schon kritischen und zum Absprung bereiten Gusto Gräser beeindruckt und mitgerissen. Es kam zur Rebellion gegen den Meister und zum Ausscheiden der ganzen Gruppe. Durch seine Anhänger brachte Guttzeit einen wesentlichen Anstoß, über das gemäßigte Aussteigertum Diefenbachs hinauszugehen in ein Wanderleben ohne Geld, ohne Brotberuf, ohne Pass, ohne Besitz.
Wer war Guttzeit? - Wegen Krankheit quittierte der preußische Offizier 1879 den Militärdienst, lernte in Italien die vegetarische Lebensweise kennen, veröffentlichte schon 1882 eine Schrift, die die Richtung seines Sinneswandels anzeigt: ‚Von der Kirche zur Natur’. 1884 gründet er den ‚Pythagoräer-Bund’, der später ‚Bruder-Bund’ heißt, seit 1885 mit dem Organ ‚Der Bruder. Zeitschrift des Bundes für volle Menschlichkeit.’ Diefenbach, der ihn vermutlich von diesem Blatt her kennt, wendet sich im selben Jahr 1885 um Hilfe an ihn, bittet um seinen Besuch. Zunächst kommt, am 10. Juli, dessen Schwester Elisabeth nach Höllriegelskreuth, dann, am 17. September, Guttzeit selbst. Er übernimmt die Aposteltracht von Diefenbach, betätigt sich als dessen Sekretär, führt ab 22. September das Tagebuch der „Humanitas“. Aber schon im November ist Diefenbach unzufrieden mit Guttzeit. Der reist am 24. Dezember ab – nach Italien. Nach jahrelangen Wanderzügen und Aufenthalten im Süden lässt er sich in Dresden-Loschwitz nieder. Pfingsten 1888 tritt er in Zürich als Prediger auf und beeindruckt stark den jungen Gerhart Hauptmann, der ihm in der Novelle ‚Der Apostel’ ein reichlich verzerrtes Denkmal setzen wird. Guttzeit tritt in Naturheilvereinen, Vegetarier-Gesellschaften und ähnlichen Reformvereinen als hochgeschätzter Redner und Rezitator auf, wird als „der deutsche Tolstoi“ gesehen. Der Friedrichshagener Bruno Wille schreibt in ‚Die Freie Bühne’ über den Mann, der „den Titel ‚Herr’ und den Pluralis majestatis vermeidet, alle Welt duzt, mit ‚Bruder’ oder ‚Schwester’ anredet und die Höflichkeitsphrasen mit Peinlichkeit unterlässt. ... Ja, nichts Geringeres als die Herrschaft will Guttzeit abschaffen, die Vergewaltigung in jeder Form, politisch, militärisch, volks-wirtschaftlich, häuslich und diätetisch“. Darin ist ihm Gräser mit noch größerer Entschiedenheit gefolgt. Zahlreiche Publikationen kirchenkritischer, sozialkritischer und lebensreforme-rischer Richtung, zeitweise Predigertätigkeit für die Freie Gemeinde in Stettin. Ein gegen ihn 1890 angestrengter Prozeß wegen seiner Kleidertracht, die als „grober Unfug“ bezeichnet wird, endete in allen Instanzen mit seiner Frei-sprechung. Später lebte Guttzeit in Stuttgart, in Söflingen bei Ulm, nach seiner Verheiratung in Schmargendorf bei Berlin, wo er zu Moritz von Egidy in nähere Beziehung trat, danach in Loschwitz bei Dresden. Am 4. Juli 1900 wird er dort verhaftet, weil er eine dreimonatige Gefängnisstrafe wegen angeblicher „Beschimpfung der jüdischen Religion“ nicht angetreten hat. Grund war sein nicht antisemitisches, wohl aber religionskritisches Buch über ‚Unsinn und Unmoral im Alten Testament’. Er zieht noch im selben Jahr nach St. Peter bei Triest und geht dort, von seiner ersten Frau geschieden, eine Scheinehe ein mit einer jungen Frau, der er die Schande einer unehelichen Mutterschaft ersparen will. Vermutlich auf dem Weg dorthin besucht er einen seiner Anhänger, den ehemaligen Berufsschullehrer und sozialdemokratischen Agitator Anton Losert in Eppan bei Meran in Südtirol. Jenen Anton Losert, der 1898 zugleich mit Gusto Gräser in der Himmelhof-Kommune von Diefenbach gewesen war, gegen den Meister rebelliert hatte und zusammen mit Gräser ausgestoßen worden war. Von sozialdemokratischen Überzeugungen herkommend hatte sich Losert zunehmend in individual-anarchistische Richtung und schließlich zum urchristlich motivierten religiösen Radikalisten entwickelt. In St. Peter betreiben Guttzeit und seine Frau Alma einen Versandhandel mit alternativen Schriften. Außerdem gibt er eine Zeitschrift heraus, die bis 1903 erscheint und dem neuen Jahrhundert das Stichwort gibt: ‚Der Neue Mensch’. Mitarbeiter sind u. a. die Naturärztin Anna Fischer-Dückelmann, die später auf den Monte Verità ziehen wird, die Vorkämpferin der Friedensbewegung Bertha von Suttner, zeitweise auch Fidus und Diefenbach. Die Zeitschrift hat jedoch zu wenige Bezieher und muss eingestellt werden. Guttzeit legt im Alter von 55 Jahren seine Apostelkutte ab und wird 1908 in Olching bei München sesshaft, wo er sich von nun an als Sachbuchautor betätigt. Im Juli 1908 nimmt er am Bundestag des Deutschen Vegetarierbundes in München teil, den auch Gusto Gräser und Hermann Hesse besuchen. Er stirbt 1935 im Alter von 82 Jahren. In der Trias der frühen Naturpropheten Diefenbach-Guttzeit-Gräser ist er der Besonnene, Maßvolle, aufklärerisch Vernünftige. Er hat als einsamer Streiter in eindrucksvoller Breite und ohne jeden Hass all jene Missstände und Rückständigkeiten aufs Korn genommen, die damals noch selbstverständlicher Besitzstand waren und erst im Laufe eines Jahrhunderts als solche erkannt und nach und nach angegangen wurden: die Unterdrückung und Misshandlung von Frauen, von Kindern, von Soldaten, von Homosexuellen, die Unsitten in Kleidung und Ernährung, die Hochschätzung des Militärs, des Adels, des Krieges und der „Blut- und Eisenreligion“ (wie er sie nannte) des Alten Testaments. Kurz: gegen Machtstreben und Vergewaltigung in jeder Form. Ein Aufklärer und Erwecker der besten Art, der zu seiner Zeit verlacht und schnell vergessen wurde, der aber weiterlebt in seinem „Schüler“ Gusto Gräser und dessen Werk.
Einige Stimmen zu Guttzeit: Niemals habe ich eine so augenfällige, gegenwartsstarke Illustration evangelischer Vorgänge vorher und nachher erlebt. Es war eine wahrhaft heilige Szene, die durch kein Oberammergau zu erreichen ist. Gerhart Hauptmann über seine Begegnung mit Guttzeit Guttzeit, unser deutscher Tolstoi und Schüler Diefenbachs, tritt als uner-schrockener Wahrheitsapostel auf. Der Naturarzt, Berlin J. G. ist ein Apostel der Neuzeit und ihrer edelsten Bestrebungen. Er erhebt seine Stimme und redet gewaltig wie ein Prophet des alten Bundes zu der irrenden Menschheit. … mit Bewunderung erfüllt von dem gewaltigen Feuergeiste, der aus J. G. spricht. Aber unser Johannes predigt nicht etwa eine unfassbare Lehre, sondern er lebt sie uns auch praktisch vor. Anti-Korruption Kämpfer gegen die “Schlachthaus-Zivilisation“ …Das Symbol des durch einen Apfel zerbrochenen Schwertes schmückt die Titelblätter seiner Bücher. Frecot/Geist/Kerbs: Fidus Ja, nichts Geringeres als die Herrschaft will Guttzeit abschaffen, die Vergewaltigung in jeder Form, politisch, militärisch, volkswirtschaftlich, häuslich und diätetisch. Bruno Wille in Freie Bühne J. G. gehört zu den besten, allerbesten Söhnen unseres Volkes. Moritz von Egidy
Über Guttzeit schreibt Ulrich
Holbein in
seinem Buch ‚Narratorium’: Johannes
Friedrich
Guttzeit,
Gesundheitsprediger, Naturphilosoph, Publizist (1853-1935): Geboren
in
Königsberg/Ostpreußen, zog er 1871
als königlich-bayrischer Offizier in den Krieg gegen
Frankreich. Ab
1879 wandte
sich der preußische Leutnant anläßlich einer Krankheit in
Italien
vegetarischer
Lebensweise zu (genau wie Karl Wilhelm Diefenbach und auch
Gustaf
Nagel).
Guttzeit gab alsbald Druckschriften heraus wie: ,‚Von
der
Kirche zur Natur. Ausdruck der Hauptgeistesströmung unsers
Zeitalters“,
Berlin 1882. Ab 1883 als Wanderprediger mit blondwallendem
Haupthaar in
Berlin
und anderswo. Zeitweise verglich er sich, seiner Unstetheit
wegen, mit
Ahasver.
1884 gründete er den „Pythagoräer-Bund“, aus dem der
„Internationale
Bund für
konsequente Menschlich-keit“ hervorging mit dem Vereinsblatt
„Zentralblatt für
humane Bestrebungen“ bzw. „Der Bruder. Zeitschrift des
Bundes für volle
Menschlichkeit”, darin Beiträge mit Titel wie „Unsinn und
Unmoral im
alten
Testament oder die Blut- und Eisenreligion” oder „Auf dem
Schlachtfelde.
Kriegsgedicht gegen den Krieg”. 1885
arbeitete
Guttzeit für Diefenbach, der
ihn in dessen Kleiderreform einführte und den er berufenen
Menschheitserlösern
zurechnete, und allseitigen, weltumfassenden Geistern wie
Goethe,
Shakespeare
und Moritz von Egidy (1847-1898). Während Guttzeit seine
Schwester
Elisabeth in
die Humanitas-Landkommune von Höllriegelsgreuth bei München
entsandte,
wo
Meister Diefenbach sie in Fidelis umtaufte, wurde er selber
dort als
ungenügend
ausgesondert. Auch Guttzeit trat nun urchristlich gewandet
auf, im
Männerreformanzug,
gefertigt aus weißem Flanell, mit Leibgurt, gamaschen- und
sandalenartiger
Fußbekleidung und klassisch wallendem Mantel, aber ohne Hut
bzw. nur
mit
lebendigem Kranz auf dem Haupt, also quasi lorbeergekränzt.
Alle
Menschen,
statt sie mit Höflichkeitsphrasen zu belästigen, beschenkte
er, gegen
„entbrüdernden Luxus“ fechtend, unvorgewarnt mit
brüderlichem Du,
lehnte als
Fechter wider Herrschaftstrukturen die Anrede „Herr“ als
feudales
Unterwerfungsrelikt ab, nannte alle „Bruder“ und
„Schwester“; gleichwie
später
die Kommunisten alle Genossen „Genossen“ nannten, und Gräser
und Nagel
alle
„Freund“ anredeten. Schweinefleischessende Gesellschaft
hingegen schalt
Guttzeit wortmächtig „Schlachthaus-Zivilisation“; Milch
gemolkener Kühe
nannte
er spielverderberisch „Kuhsaft“, zugunsten reiner Obst- und
Körnerdiät.
Junge
Anhänger um sich geschart, empörte er sich in seinem
Kleiderreformbuch
„Auch
ein heiliger Rock“, zahlreiche Pilger kämen nach Trier, um
dort einen
ungenähten „Fetzen“, den heiligen Rock Christi, zu sehen,
während er
als
„deutscher Sokrates“ sich für seine selbsterfundene
Reformtracht auf
Wollbasis
vor Gericht zu verantworten habe und deshalb sogar, wegen
„groben
Unfugs“ ins
Irrenhaus eingewiesen werden solle. (Weswegen war er – wie
lange und wo
– im
Gefängnis???) Alsbald Scheinehe mit einer jungen
Frau namens
Alma, um sie vor der Schande unehelicher Geburt zu bewahren,
verkracht
natürlich, hetzte von Ort zu Ort, auf der Flucht vor Polizei
und
finanzieller
Misere. In Tirol baute Guttzeit einen Buchversand auf, bei
seinem
Jünger Anton
Losert, der ebenfalls von Diefenbach herkam und gemeinsam
mit Gusto
Gräser dort
rausgeworfen wurde. Guttzeit verkrachte sich mit Losert, der
angeblich
eine
Jüngerin verhungern ließ, weil sie wie er als „Lilie auf dem
Felde”
normale
Arbeit verweigerte. Er setzte das Schlagwort vom „Neuen
Menschen” in
die Welt
(falls ihm darin keiner voranging). 1895/96 setzte er sich
in
Vortragszyklen
mutig für Oscar Wilde ein, beeindruckte den jungen Gerhart
Hauptmann in
Zürich,
beklagte sich schriftlich bei ihm über sein
größenwahnsinniges Zerrbild
in der
Novelle „Der Apostel”. Hessefreund
Emil
Strauß ließ in seinem
autobiographischen Roman „Das Riesenspielzeug“, und zwar in
einer
Alternativsiedlung von Emil Gött (auch einem frühen
Naturpropheten und
Dichter!), um 1900 am Bodensee, die „Brüder Siedentop“
auftreten,
„berühmte,
den Hofbewohnern bereits aus Zeitschriften bekannte
Vegetarier“,
vermutlich
abgebildete oder karikierte Guttzeitjünger: Sie „kommen in
feierlicher
Haltung,
reden eine erhabene Sprache, sind mit Mönchskutten und
goldenen
Stirnreifen
bekleidet, wie Märchenfiguren“. Von den Siedlern wurden sie
nach
einiger Zeit
als Schmarotzer verjagt. Wacholderbaum-Autor
Bruno
Wille attestierte
Guttzeit 1891 ein „individuelles, angenehmes, jeglicher
Rohheit baares
Gesicht
mit wallendem Vollbart“, mokierte sich über Guttzeits
Plädoyer, auf die
„reine
unverfälschte Stimme des Herzens“ zu hören, unterzog
Guttzeits
Natürlichkeitsbegriff strenger philosophischer Prüfung und
nannte
Guttzeits
„Cardinalbegriffe willkürlich deutbare Conclusionen“ und
Inkonsequenzen.
Unentwegt brachte Guttzeit Mahn-, Kampf- und Lehrschriften
heraus,
Sinngedichte, und „Spiritualistische Briefe”, z.T. in
Gesprächsform,
allein
1893 sieben Stück, gegen Prügelstrafe („Eine Gefahr für
Bildung und
Sittlichkeit“), gegen Mode, gegen Soldatenmißhandlung; über
Scheinsucht,
Prügelkuren, Wilhelm Hübbe-Schleiden, Moritz von Egidy,
Grundzüge einer
Gesundheitspflege der Kindesseele, über urnische Liebe (in
„Naturrecht
oder
Verbrechen? Eine Studie über weibliche Liebe bei Männern“
bzw. „Die
Liebe zum
gleichen Geschlecht“), gipfelnd in seinem Gedicht: „leb
wohl, du Weib!“
Weitere
Titel: „Zukunfts-Menschlichkeit und
Gegenwarts-Philosophistik“ oder
„Unsterblichkeit auf Erden. Ein Beitrag zur Versöhnung des
Gefühls mit
der
Einsicht”. Er arbeitete an der Aufhebung des Gegensatzes
zwischen Ehe
und
freier Liebe. Die Quintessenz seiner Lehre packte er 1898
ins Manifest
„Was
will der Naturprediger? 40 Lehrsätze des reinen
Menschentums”. Um 1903
resignierte er als Naturprediger wegen mangelnder
Unterstützung und
lebte
fortan als populär-wissenschaftlicher Schriftsteller in
Olching bei
München.
Seine Aposteltracht legte er vermutlich ab und paßte sich
den üblichen
Umgangs-
und Kleidungsformen wieder an. Zusammen mit Diefenbach und
Gräser bildete Guttzeit im Rückblick die Trias, Troika oder
Trimurti
rigoroser
Lebensreform. Guttzeits „voller Mensch“ - und „urnische
Liebe“ – hieß
100 Jahre
später „ganzheitlicher Mensch“ -- und „schwul“. Der Apfel,
der ein
Schwert zu
zerbrechen vermochte, dieses Emblem, das die Titelblätter
seiner bald
recht
verschollenen Schriften schmückte, bildete eine Vorform der
späteren
Blume, die
Flowerpower in Gewehrläufe steckte, oder Pflanzen, die in
pazifistischer
Alternativbewegung aus Kriegshelmen wachsen. Aus
Ulrich
Holbein: Narratorium. 255 Lebensbilder. Zürich 2008, S.
367-368
Uwe Timm schreibt 2017 zu Johannes Guttzeit Ach, Guttzeit, nomen est omen, ein Apostel der Menschlichkeit. Er predigte gegen die Prügelstrafe, predigte die Gleichheit von Frau und Mann, hielt Vorträge über die Liebe und den ewigen Frieden, der Freund fand ihn hoffnungslos naiv, eine ärgerliche Erscheinung. Guttzeit sprach nicht vom Übermenschen, nicht von Aufartung und Höherentwicklung, von Härte, Größe, Kampf und Auslese, sondern von Nächstenliebe, Zärtlichkeit, die auch den Schwachen und Schwächsten gelten müsse. Sie hätten die beiden nebeneinander erleben sollen, den streng im dunklen Anzug gekleideten jungen Mann, Ploetz, mit den damals schon steilfinsteren Stirnfalten, und den in einem handgewebten, langen, einem Frauenkleid ähnlichen Leinengewand einherwandelnden, freundlich blickenden Guttzeit, dessen zotteliges Haar in einen ebenso langen Bart überging, ein Mann, der als Offizier 1870 in Frankreich gekämpft hatte ... Es war ein so anderes Reden als das über den notwendigen Kampf ums Dasein, in dem sich der Stärkere, also erfolgreiche, durchsetze. Dieses Naturgesetz mit seinem propagandistischen Heroismus diente später als Rechtfertigung für das Massentöten in Verdun und Flandern. Krieg und Kampf als etwas Natürliches, ein Wahnsinn ... Was sie trennte, war nicht zuletzt ihr Auftreten. Erinnerte Ploetz an einen der streitbaren, herrischen Propheten aus dem Alten Testament, so hätte Guttzeit dem Neuen Testament entstiegen sein können. Sanft. Allein die stets freundlichen Augen, und seine Hände machten beim Reden gleitende Bewegungen, nicht wie die rechte Faust, mit der mein Freund die Botschaften wie Nägel in seine Reden hämmerte. Guttzeit, Gründer des Pythagoräer- Bundes, predigte gegen Züchtigung in der Schule. Verlangte die Anerkennung der Homosexualität. Das Leben ist vielfältig, und so muss es gelebt werden. Auch im Geschlechtlichen. Ich habe noch diese Stimme im Ohr, diese nicht eifernde, melodische Stimme, ich will sagen, eine deutende Stimme, die nicht zu überreden suchte, sondern nur von Leid und Liebe sprach, kein herrisches Kommandieren: Du musst! Du musst! Aus Uwe Timm: Ikarien. Roman. S. 297ff. Es giebt einen anderen Gott. ... Dieser Gott ist, wie Johannes sagt, die Liebe, und, wie Paulus sagt, die Wahrheit. Johannes Guttzeit: Wer lästert Gott? S. 121 Uwe Timm stellt dem Rassentheoretiker und Rassenfanatiker Ploetz den jesuanischen Wanderprediger Guttzeit entgegen. Guttzeit war der Lehrer von Gusto Gräser. Durch Timms Gegenüberstellung wird sichtbar, dass der Dissens zwischen Hofmann-Oedenkoven einerseits und den Gräserbrüdern andrerseits einen tieferen weltanschaulichen Hintergrund hatte. Hofmann&Oedenkoven waren, jedenfalls in den Gründerjahren des Monte Verita, Darwinisten. Von „Zuchtwahl" (47) „im Sinne des Fortschritts" (46) ist in der MV-Schrift von Ida Hofmann die Rede, von „schädlichen Elementen" (60), von „Menschen und Rassen auf niedrigster, niedriger, höherer und höchster Entwicklungsstufe" (70). Sie spricht von „Menschenmaterial" (73), vom „göttlichen Ich" (40) und, in deutlichem Widerspruch gegen die „faulen" Gräsers, davon, dass der Mensch „um das Recht seines Daseins" kämpfen müsse (88). Das sinngemäß letzte Wort ihrer Schrift lautet: „Kampf ums Dasein" (94). Bei Gusto Gräser finden wir kein Wort von „Zuchtwahl", „Rasse" oder „Menschenmaterial". Von „Kampf ums Dasein" spricht er nur einmal (in den Dreissigerjahren) - um dieser Ideologie entgegenzutreten: Es standen sich also in Ascona gegenüber: Darwinlinie hier - Jesuslinie dort (in einer durch Humanismus geklärten, durch Rousseauismus modernisierten Form). Biologismus gegen Spiritualismus. Kein Wunder, dass die Günder sich nicht einigen konnten und in ihren jeweiligen Nachfolgern sich bis heute entgegenstehen. Dabei deutete sich schon um 1906 eine Annäherung an. Insofern Ida am Ende ihrer Schrift von einer „Wiedererweckung göttlichen Geistes" (93) und vom „Sonnenstrahl des Allwillens" (94) spricht. Jenes Interesse an den theosophisch- spirituellen Ideenrichtungen des Gräserkreises, über die sie zuvor mit herablassendem Spott gesprochen hatte, beginnt auch sie zu ergreifen. Zehn Jahre später wird sie selbst als Rednerin für die einst so verachtete Theosophie eintreten. Man wird sagen können, dass Ida durch den Einfluss des Gräserkreises vor den schlimmen Abirrungen des Darwinismus bewahrt worden ist. Guttzeit hatte zwei Schüler: Gusto Gräser und Gerhart Hauptmann. Beide fanden ihr Ikarien nicht in Amerika sondern in Ascona, Hauptmann in der Dichtung, Gräser in der Tat. |
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Aus Schriften von Johannes Guttzeit
Was
will der Naturprediger? 1. Er will eine veredelte Natur oder naturgemässe Kultur. 2. Er will, dass die Menschheit sich mehr und mehr als eine grosse Familie erkennen lerne. … 9. Er will weder Knechte noch Herren, sondern freie und wahre Menschen; Herrschaft erkennt er nicht an und lehnt es daher ab, als Herr behandelt zu werden. … 22. Er will, dass das weibliche Geschlecht aus seiner alten Sklaverei befreit werde. 23. Er will Anerkennung unseres natürlichen Rechts auf Leben, Gesundheit, Liebe und Freude. … 31. Er will, dass die Kinder nicht mit unnützem Lernkram und auf sonstige Art gequält, abgemattet und eingebosst werden. 32. Er will, dass man auch die Tiere als fühlende, daseins- und freiheitsberech-tigte Wesen anerkenne. … 40. Er will dass Keiner den Andern verdamme, weil Keiner unfehlbar ist. Schöpfung und Sündenfall. Buchstäblich oder geistig? (Aus seiner Selbstanzeige) Unter den mancherlei Reformbestrebungen, an denen sich der Verfasser, vielfach als Vorkämpfer, beteiligte, stand von jeher, seit 30 Jahren, wo er aus der Landeskirche ausschied, um als freireligiöser Prediger zu wirken, die Religions-Befreiung aus kirchlichen Fesseln obenan. Insbesondere hat er seinen Kampf gegen den Missbrauch des Alten Testaments als Sucht- und Volksbuch durch wiederholtes Erleiden von Gefängnisstrafen besiegelt. Seine Schrift darüber wurde, in 1. und 2. Auflage beschlagnahmt, in 3. unbeanstandet, verschlungen. Hunderte von Bestellungen konnten nicht berücksichtigt werden. Seitdem fortgesetzte Nachfrage aus der alten und neuen Welt. Ihr wird nun zunächst entsprochen durch Darbietung einer bedeutend erweiterten Neubearbeitung des ersten Teiles. Die Schrift bringt ausser den bewährten Geisteshieben gegen Buchstabenfrohn und Afterreligion die Begründung einer wahrhaften Religionsfreiheit auf den ja selbst von der Kirche anerkannten Begriff der „religiösen Erfahrung“, ferner eine eingehende, sich an Swedenborg lehnende Anleitung zur fruchtbarsten geistigen Deutung der Bibel, nimmt auch Stellung zu den verschiedenen evangelisch- und katolisch-teologischen Zeitfragen, besonders den durch die morgenländischen Ausgrabungen entstandenen, wobei auf lateinische, griechische, hebräische und mögliche babylonische Texte in gemeinverständlicher Weise eingegangen, manche kirchliche Lehre, wie die von einem Schöpfer, als bibelwidrig gezeigt, in der Vorrede die moderne Teosofasterei gegeisselt, endlich in einem Anhange das Axiom von der Gipfelstellung des Menschen umgestossen wird und in einem zweiten 40 Lehrsätze des reinen Menschentums aufgestellt werden. Johannes der Gustotäufer spricht:
Guttzeit schreibt im Sommer 1900 als Erklärung für das verspätete Erscheinen seiner Zeitschrift ‚Der Neue Mensch’: Seit Mitte März des Jahres bin ich von Dresden fort. Ich hielt mich nach einigen Reisevorträgen in Leipzig auf. Am 6. April sollte ich in Hoyerswerda meine 3monatliche Gefangenschaft für die (von keinem Juden empfundene) „Beschimpfung der jüdischen Religion“ antreten. Das ging nicht: 1. wegen mehrerer Vorträge, die ich für die nächstfolgende Zeit zugesagt hatte, 2. wegen des „Neuen Menschen“, und 3. wegen meines schon begonnenen Umzugs nach Süden. Da ich auf mein Gesuch um Aufschub keine Antwort erhielt, so musste ich mir den Urlaub selbst nehmen, aber – auf der Hut sein. Zwar hielt ich danach noch 3 Vorträge; aber die Einschränkungen, die ich mir nun bei der Wahl des Aufenthalts auferlegen musste, erschwerten unsäglich die weitere Versendung und besonders die weiteren Arbeiten am „Reform-Echo“. … Doch selbst in und bei München, wo ich vor dem Eintritt in die ganz neuen Verhältnisse Heft 1 und 2 erledigen sollte, fand ich unter den (auch pekuniär) misslichen Umständen keine Stätte, wo ich ruhig und sicher eine Reihe von Tagen hätte arbeiten können … Auch muss zur Erklärung gesagt werden … Die Besteller-Zahl ist noch bei weitem nicht gross genug, um durch das Bezugsgeld die Herstellungskosten zu decken, geschweige denn dass etwas zur Deckung der Gründungskosten, für die Versendung, für „Reklame“ oder zum Unterhalt für den Herausgeber nebst Familie abfiele. … Am 4. Juli endlich zu meiner Familie zurückgekehrt, wurde ich schon nach einer Stunde unversehens auf unmittelbare Veranlassung der Breslauer Staatsanwaltschaft verhaftet, behufs Überführung nach Ratibor, wo ich die 3monatliche Gefangenschaft verbüssen soll – ohne meine Angelegenheiten vorher ordnen zu können. In: Der Neue Mensch, 1. Jg., Mai und Juni 1900. Heft 2 und 3, letzte Seite Ein Wort über C. W. Diefenbach In: Der Neue Mensch, Heft 5 und 6, November und Dezember 1900. ...aus einem Vortrage desselben ... in eigener Weiterentwicklung ... Karl Wilhelm Diefenbach, der den meisten unserer Leser wohl mehr als nur dem Namen nach bekannt sein dürfte (139), ist einer von jenen allseitigen, weltumfassenden Geistern, von denen man - wie Goethe von Shakespeare, nach ihm Andre von Goethe gesagt haben, wie auch von Egidy gelten muss - sagen kann: dieser und kein Ende. Das will heissen: fängt man von ihm zu reden an, so weiss man nicht, wo aufhören, weil das Ganze des Menschen und der Welt unter eine eigenartige Beleuchtung gelangt. ... Wir müssen uns vorbehalten, über ihn, als einen der neuen Menschen, später noch mehr zu bringen … Diefenbach hat aus Wien (Himmelhof) weichen müssen, weil er die für seine grossartigen Unternehmungen gemachten Schulden nicht bezahlen konnte, Konkurs ankündigen musste, seine Kunstschätzee meistbietend verkauft wurden, er auch noch in andere Rechtshändel verwickelt und ihm durch all das der Aufenthalt natürlich verleidet wurde. Er hat sich danach bei Triest aufgehalten und weilt gegenwärtig auf der Insel Capri, genaue Adresse: Anacapri, Villa Giulia. (140) … Auf der heurigen Hygiene-Ausstellung in Neapel gab Diefenbach ein Flugblatt aus ... Als die Ursache aller Krankheiten bezeichnet er die Fleischnahrung. Jedes Wesen, sagt er, ist eine Ausströmung (Emanation) der Gottheit. Menschen und Tiere sind im Wesen sich gleich, nur verschieden im Grad der Entwicklung. Die Metzger sind bezahlte Mörder (142) ... Der göttliche Geist der Natur ruft dem zum Raubtier entarteten Menschen zu: du sollst nicht töten! Hier ist schon der Einfluss zu erkennen, welchen die sog. teosophischen Schriften neuerdings auch auf Dfb ausgeübt haben, wie er mir denn ausdrücklich mitteilt, dass er in ihnen "einen höheren Wert für die Erlösung und Veredlung der Menschheit gefunden hat, als er in seinem seitherigen überhetzten Leben zu finden glaubte". Auch darin pflichte ich ihm bei, dass die Schriften von Annie Besant zur Einführung in jenes Gedankenreich ganz besonders geeignet sind. (143f.) Nachwort. In: DNM, Heft 7 und 8, Juni 1901, S. 10 Der Geist unserer mörderischen und selbstmörderischen Zivilisation hat es fertig gebracht, diesen Wort- und Tatprediger der Reinheit unter eifriger Benutzung jedes sich darbietenden Scheines als sittenlos hinzustellen! – genau wie er’s mit Sokrates machte – und hiermit den Wolf in der Fabel noch zu übertreffen, der das Lamm anklagte, dass es ihm das Wasser getrübt habe. Und das geschieht heute ihm nicht allein. Die kranke, sich mit spielerischen Teilreförmchen betrügende Gesellschaft versteht es meisterhaft, jeden Radikalreformer (wozu die Parteihetzer als Pfleger der Unbrüderlichkeit nicht gehören) und also ihre besten Aerzte zu boykottieren und sie für ihre Wohltaten, wie im Gefühle der Unwürdigkeit, möglichst abschreckend zu strafen. Diefenbach ist einer von jenen Unzähligen, die, mit einer unendlichen Liebe zur ganzen Menschheit, ja zu Allem, was lebt, beseelt, durch hervorragende Geistesfähigkeiten, an rechter Stelle richtig verwertet, der Menschheit hochwichtige Dienste leisten könnten, aber durch die Undankbarkeit endlich genötigt werden, zur blossen Sicherung ihrer eigenen Existenz sich „in’s Privatleben zurückzuziehen“, da Jeder sich selbst der Nächste ist. Ich bin noch nicht so weit, wiewohl mir, jemehr ich von Teil- und Scheinreförmchen auf’s Ganze ging, und nach meinem verselbständigten Gewissen auch lebte, grade von Seiten derer, die mir geistig die Nächsten sein sollten, desto dringender durch Tat und Wort der Rücktritt nahegelegt worden ist! Noch stehe ich, noch wirke ich, noch bin ich nicht ausgehungert. Aber wenn man uns unter den Stein gebracht haben wird, so erdreiste sich wenigstens Keiner, unser Andenken zu feiern, wenn er daneben Andere, die das schwierige Werk einer allseitigen und gründlichen Menschheits-Erneuerung weiterführen, verleugnet, oder verhungern lässt. Johannes Neumenschliche Gedanken Die Geister, welche das alte
Zeitalter stützen, sind verbunden und organisirt. Die Edeln
jedoch, in welchen der Zündstoff zur Entflammung des neuen
Weltentages gelegt ist, sind noch zerstreut und nur zum
kleinen Teile in kleinen Gruppen notdürftig gesammelt. Du
Minderzahl, ermanne dich! Mache dir deine hohe Bestimmung
bewusst! Ebd., S. 11 Von keiner Sekte
komm’ ich ausgesandt, In: Der Neue Mensch, 1. Jg., Mai und Juni 1900, Heft 2 und 3, S. 1 Sinnsprüche |
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