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Friedrich Nietzsches Idealkolonie

Afrikan Spir 1837 - 1890 Die Schrift des russischen Philosophen Afrikan Spir ‚Projekt einer Gemeinde vernünftig Lebender’ (1869) soll auf die Gründer der Siedlungsgenossenschaft Monte Verità Einfluss gehabt haben. Zuvor aber wirkte sie schon auf den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche und dessen Versuch einer ordensähnlichen Lebensgemeinschaft in Sorrent von 1876/77. Nicht weniger wirksam wird Spirs Denken überhaupt für den Denker Nietzsche. Der zertrümmert den hochgespannten, kantianisch inspirierten Idealismus des Russen und errichtet in seinem ‚Zarathustra’ ein aufs Hiesig-Irdische gerichtetes Gegenbild. Dieses Denken wurde, freilich in wesentlichen Zügen abgewandelt, eine der geistigen Wurzeln für die Siedler von Ascona, allen voran für Gusto Gräser. Friedrich Nietzsche 1844 - 1869
Afrikan Spir
1837 - 1890
Friedrich Nietzsche 1844 - 1900

"Nun machte ich den Hintergrund unseres sehr langen Saales ... mit Pflanzen und Bäumchen zurecht, die mit Girlanden von Efeu verbunden waren; auf die Erde hinter die Pflanzen stellte ich Lampen ... Das sieht so magisch aus, die Pflanzen werfen Schatten an die Decke, ganz phantastisch. Auf dem runden Tisch vor dem Sofa stand ein wundervoller Strauß von Kamelien und Rosen; den die Wirtin geschickt; da lagen für Nietzsche eine rotseidene Zipfelmütze mit langer roter Quaste, wie sie hier in Sorrent gewebt werden ... ; ferner ein immens großer Fächer von Leinen, um seine Augen zu schützen. Dabei lag folgender Vers:

Schütze dem Freunde das Haupt, den Sitz so edler Gedanken,

Daß sie zum Heile der Welt oft noch künde sein Mund."

(Malwida von Meysenbug z. n. Janz I, 751)

Sorrent, Villa Rubinacci, Weihnachten 1876. Leben in einer philosophischen Kommune. Die Schriftstellerin Malwida von Meysenbug, einzige Frau unter den vier Bewohnern, hat den größten Raum für die Weihnachtsfeier hergerichtet. Geschenke. Nietzsche erhält eine rote Zipfelmütze, Paul Rée, der immer behauptet, am Grunde aller menschlichen Handlungen spiele Eitelkeit, erhält einen Spiegel mit den Versen:

"Eitel sahst du die Welt, sieh nun im Spiegel sie besser;

Oft ist das Wirkliche Trug, wahr nur der spiegelnde Wahn."

Was der Vierte und Jüngste im Bunde, der Student Albert Brenner, erhalten hat, erfahren wir nicht. Aber auch er wurde mit Versen bedacht. So auch Trina, die dienende Magd.

Traute Dreieinigkeit der Denker, von einer klugen Frau umsorgt und mit Blumen umflort - - ist es nicht das ideale Leben für schöpferische Menschen, die erreichte Gemeinschaft der Schaffenden?

Wirklichkeit oder spiegelnder Wahn?

Schon 1870 hatte Nietzsche in einem Brief an Erwin Rohde geschwärmt:

Und dann bilden wir eine neue griechische Akademie ... Wir sind dann unsere gegenseitigen Lehrer, unsre Bücher sind nur noch Angelhaken, um jemand wieder für unsre klösterlich-künstlerische Genossenschaft zu gewinnen. Wir leben, arbeiten, genießen für einander - vielleicht daß dies die einzige Art ist, wie wir für das Ganze arbeiten sollen ... (Z. n. Treiber 118)

Obwohl nun Rohde sich nicht berufen fühlte, hat die Klosteridee Nietzsche seitdem nicht mehr losgelassen. In der dritten seiner 'Unzeitgemäßen Betrachtungen', die dem Vorbild Schopenhauer gewidmet ist, träumt Nietzsche wiederum von einer Vereinigung der "selteneren Weggenossen" (Schlechta I, 343) , die sich institutionalisieren als "Orden der Philosophen, der Künstler und Heiligen". (Ebd. 327)

Diese Einzelnen sollen ihr Werk vollenden - das ist der Sinn ihres Zusammenhaltens; und alle, die an der Institution teilnehmen, sollen bemüht sein, durch eine fortgesetzte Läuterung und gegenseitige Fürsorge, die Geburt des Genius und das Reifwerden seines Werkes in sich und um sich vorzubereiten. (Ebd. 344)

Fühlen wir uns nicht erinnert an die Zielsetzung, die Afrikan Spir seinem "Projekt einer Gemeinde vernünftig Lebender" gegeben hat? In seinem Entwurf lautet der Paragraph 1:

Die Gemeinde hat zum Zweck, ihren Mitgliedern a) die Mittel zu gewähren für Andere möglichst nützlich zu sein, b) an ihrer inneren Vervollkommnung mit mehr Erfolg zu arbeiten und c) ihnen ein ruhiges Asyl und die Vortheile des Familienlebens zu bieten. (Vorschlag 29)

Die geistige Verwandtschaft sei von einer besseren Realität als die leibliche, meint Spir, und deshalb gelte von den vernünftig Lebenden:

Das Bedürfnis nach einem innigen, herzlichen Verhältnis, welches man gewöhnlich in der Familie zu befriedigen sucht, kann also von diesen Menschen am besten dadurch befriedigt werden, dass sie sich selbst zu einer Familie machen. (Vorschlag 25)

Spirs 'Vorschlag' war 1869 erschienen1, die "klösterlich-künstlerische Genossenschaft" entwirft Nietzsche Ende 1870, vom "Orden der Philosophen, der Künstler und Heiligen" spricht er 1874; zwei Jahre später, 1876, konstituiert sich dieser "Orden" in einer Villa am Golf von Sorrent. Drei Männer und eine Frau nehmen daran teil: die Philosophiebeflissenen Friedrich Nietzsche, Paul Rée und Albert Brenner, zusammen mit der Schriftstellerin Malwida von Meysenbug. Und so sahen das ruhige Asyl und die Vorteile des Familienlebens aus (der Teilnehmer Albert Brenner schreibt an seine Angehörigen):

Wir wohnen etwas abseits von Sorrent, in dem Teile, in welchem nur Gärten und Villen und Gärtnerhäuser liegen. Dieser ganze Teil ist wie ein Kloster. Die Gassen sind eng und werden durch zu beiden Seiten fortlaufende doppelt mannshohe Mauern gebildet, über welche sich Orangenbäume, Zypressen, Feigenbäume und Traubengirlanden erheben und den blauen Streif Himmel recht schön einfassen. ... Wir selbst wohnen in einer 'Villa Rubinacci' ... Ein kleiner Orangenhain trennt uns vom Meere: vom Haine aus muß man noch beinahe senkrecht hinuntersteigen, da Sorrent auf einem Felsen liegt ... Wir haben zwei große Terrassen, die auf das Meer und die Berge gehen. ...

Um 8 Uhr trinken Nietzsche, Rée und ich den Kaffee. Um 1 Uhr essen wir und dann wieder um 7 Uhr und gehen zeitig zu Bette." Und etwas später schreibt er: "Die Lebensweise ist noch immer dieselbe: Morgens 7 1/2 Frühstück, 9-10 diktiert Nietzsche (aber keine neue Schrift), 10-11 Spaziergang, 11-12 Pandekten. Bis 3 Uhr Mittagessen mit Siesta. Bis 5 Uhr spazieren, oder wenn es regnet, arbeiten ..."

(In Janz I, 748)

"Wir leben hier wie in einem Kloster", wiederholt er nochmals, "... Das macht wohl auch viel aus, daß ich mich gesünder fühle und daß wir zu dreien aufstehen, spazieren gehen und frühstücken. Zusammen geht alles viel besser ... " (ebd.)

Vor allem das Arbeiten, das Studieren, Schreiben und Disputieren. Abends kommt man - wie in der Kommune Diefenbachs - zum Vorlesen und Musizieren zusammen. "Nachdem wir die Vorlesungen Burckhardts beendet hatten, lasen wir Herodot und Thukydides", erinnert sich Malwida (in Janz I, 749). Man beschäftigte sich mit den französischen "Moralisten".

Dann las man von Spir 'Denken und Wirklichkeit' ... Das war die Atmosphäre, in welcher der Gedanke der "Gemeinde freier Geister" gedieh, von der auch Nietzsche seiner Schwester am 20. Januar 1877 schreibt: "Die 'Schule der Erzieher' (auch modernes Kloster, Idealkolonie, université libre genannt) schwebt in der Luft, wer weiß was geschieht! Wir haben Dich schon im Geiste zum Vorstand aller wirtschaftlichen Angelegenheiten unserer Anstalt von 40 Personen ernannt." (Janz I, 755)

Die Gemeinde freier Geister, die Idealkolonie, die Freie Hochschule - für einige Monate wurde sie Wirklichkeit. "In unserem kleinen Kreise ist viel Nachdenken, Freundschaft, Aussinnen, Hoffen, kurz ein ganzes Teil Glück beisammen", schreibt Nietzsche an Louise Ott. (SCH III, 1128)

Wenn wir so abends beisammen saßen, Nietzsche gemütlich im Lehnstuhl hinter seinem Augenschirm, Dr. Rée, unser gütiger Vorleser, beim Tisch, wo die Lampe brannte, der junge Brenner am Kamin mir gegenüber und mir helfend Orangen schälen für das Abendbrot, da sagte ich oft scherzend: 'Wir repräsentieren doch wirklich eine ideale Familie'. (Malwida v. M. in Janz I, 749f.)

Von solchem Anfang ermutigt, strickt man an Plänen, "dem Kampf gegen das verrottete Alte und Böse junge Kräfte zu gewinnen" (Meysenbug: Nietzsche 41), "damit sie dann hinausgingen in die Welt, den Samen einer neuen vergeistigten Kultur auszustreuen" (Meysenbug in Janz I, 750). Gemeinsam suchen sie nach "Lokalen" und finden am Strand geeignete Grotten. Denn ihr "Kloster für freiere Geister" soll keinesfalls einem Kloster gleichen und auch nicht den üblichen Schulen. Die Peripatetiker nehmen sie sich zum Vorbild, die Herumwandelnden, die Wanderer.

Allen Ernstes dachten wir daran, in dem herrlichen Erdenwinkel, in dem wir uns befanden, ein Institut für junge Leute beiderlei Geschlechtes zu gründen, das durch Beispiel und Belehrung die Pflanzschule werden sollte, aus welcher Apostel einer reineren, höheren Lebensanschauung als der in Konventionen erstarrten der modernen Welt hinausgehen würden. (Meysenbug: Nietzsche 41)

Die Hoffnungen sind groß, das Lebensgefühl gehoben. "Nietzsche sagte neulich, es sei ihm noch nie so gut geworden im Leben und werde ihm wohl nie wieder so gut werden. Es geht ihm auch wirklich entschieden besser, er sagte, er fange wieder an zu ahnen, was Gesundheit sei", schreibt Malwida an ihre Tochter (in Janz I, 750). Der unter schweren Anfällen von Migräne und Verdauungsbeschwerden leidende Nietzsche kann diese Meldung nur teilweise bestätigen. Nach Hause schreibt er am Weihnachtstag: "Ich bin viel kräftiger geworden; noch keine einzige Indisposition des Magens. Aber jede Woche ein heftiger Kopfschmerz; dabei bleibt es" (in Janz I, 751). Und doch:

Wie milde, wie versöhnlich war Nietzsche damals noch, wie sehr hielt seine gütige, liebenswürdige Natur noch dem zersetzenden Intellekt das Gleichgewicht. Wie heiter konnte er auch noch sein, wie herzlich lachen ... (Malwida ebd. 749)

Warum konnte es dabei nicht bleiben? Woran starb das Idyll?

"Dann las man von Spir 'Denken und Wirklichkeit'", berichtet Janz (I, 755). Das bezieht sich auf den Winter 1876/77. Es ist nicht das erste und nicht das letzte Mal, daß Nietzsche dieses Hauptwerk von Spir sich vornimmt. Schon am 28. März 1873, unmittelbar nach seinem Erscheinen, hatte er das Buch aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen (er entleiht es fünfmal im ganzen!) und trotz seines Augenleidens neben seiner beruflichen "Pflichtlektüre" her durchgearbeitet. "Mit Spirs Buch und Gedanken sollte er sich noch Jahre inensiv beschäftigen, einen eigenen Dialog mit ihm führen." (Janz I, 555)

"Wie wichtig Spirs Werk Nietzsche auch später gewesen ist, geht daraus hervor, daß er dessen 2. Auflage am 2. Februar 1877 bei Schmeitzner in Leipzig kauft und sich erneut im September 1881 von Overbeck zuschicken läßt" (Schlechta/Anders 122). Nachdem er in Sils Maria sich eingenistet hat, bittet er den in Basel verbliebenen Freund: "Sodann hätte ich eins von meinen Büchern aus den Zürcher Kisten sehr nötig: Spir, Denken und Wirklichkeit - ... besteht aus 2 Bänden" (Janz II, 82). "Nietzsche hat dieses Exemplar noch einmal ganz durchgearbeitet und dabei mit vielen Anstreichungen und einigen Randbemerkungen versehen. Es befindet sich in Nietzsches nachgelassener Bibliothek." (Schlechta/Anders 122)

Noch im Frühsommer 1885, als er den 'Zarathustra' schon hinter sich hat, beschäftigt ihn wiederum Spir. Und obwohl er sich damals mit erkenntnistheoretischen Fragen abgibt, treten Namen wie Kant, Descartes, Leibniz und Hegel in seiner Lektüre völlig zurück. Dagegen: "Intensiv benützt sind offenbar Teichmüller und wieder Spir, auf den Nietzsche mit Angabe der Seitenzahlen hinweist. Er hat also deren Werke in seiner Bücherkiste in Sils zur Hand." (Janz II, 430)

Nietzsche zitiert Spir ausführlich in 'Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen' (1873; Schlechta III, 400f.) und dann wieder in 'Menschliches, Allzumenschliches' (1878; Schlechta I, 459f.). Dort beruft er ihn geheimnisvoll andeutend, nämlich ohne seinen Namen zu nennen, als einen "ausgezeichneten Logiker", dessen Erkenntnis in einem neuen Licht stehen werde, wenn einmal die Entstehungsgeschichte des Denkens ( - seines Denkens?) geschrieben sei.

Will sagen: Volle zwölf Jahre lang, von spätestens 1873 bis mindestens 1885, von der Entstehungszeit der ersten 'Unzeitgemäßen Betrachtungen' bis über die Vollendung des 'Zarathustra' hinaus, vollzieht sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Denken des russischen Philosophen. Er ist ihm Gesprächspartner - Wegbereiter oder Widerpart?

Was bedeutete ihm Spir? Warum kehrt er immer wieder zu ihm zurück?

Erinnern wir uns: Dem Philosophen Spir geht es, nach eigener Aussage, um die Rettung der Religion. Er sieht sie bedroht von der zersetzend sich ausbreitenden Wissenschaft. Die Felder ihrer Zuständigkeiten müssen abgegrenzt werden. Zur Religion gehört der Raum des Unbedingten, zur Wissenschaft das Feld der Erfahrung. Damit hier kein Übergreifen, keine Grenzüberschreitung stattfinde, vollzieht Spir einen scharfen Schnitt: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Welten. Gott ist nicht der zureichende Grund der Dinge, Gott ist nicht der Schöpfer der Welt. Die Welt der Erfahrung ist eine Welt der Täuschungen, sie läßt keinen Rückschluß auf "ewige Wahrheiten" zu.

Die Welt der Erfahrung enthält keine Substanzen, weder seelische noch körperliche, sondern bloß Phänomena.

Die Welt der Erfahrung ist in keinem uns bekannten Sinne Function der wahren Substanz der Dinge. Letztere enthält nicht den zureichenden Grund der Welt. Das Verhältnis beider ist unerkennbar. (Denken und Wirklichkeit, Anhang)

Die Nabelschnur zwischen Gott und Welt ist durchschnitten. Das Absolute, als die körperlose Identität mit sich selbst, ist zwar gerettet. Aber das Raumschiff "Empirie" treibt steuerlos ins Ungewisse. Denn mit den Substanzen sind zugleich die platonischen Ideen als Leitsterne ausgelöscht.

Dies aber - Empirie und Wissenschaft - ist das Schiff, auf das Nietzsche jetzt mit beiden Beinen aufspringt. Ihm geht es nicht darum, die Religion zu retten, ihm geht es darum, sie zu zerstören. Ungewollt und unfreiwillig gibt ihm dazu Spir das Werkzeug an die Hand. Spir hat die Waffe geschmiedet, mit der Nietzsche von nun an philosophiert: Destruktion aller gewohnten Sinngebungen, Mythen und Ideale. Spir vertritt als seine Einsicht,

dass alle Veränderung dem Wesen der Dinge an sich oder dem Unbedingten fremd ist ... dass die Welt der Erfahrung Elemente enthält, welche dem wahrhaft eignen, normalen, unbedingten Wesen der Dinge fremd sind, also etwas Abnormes, Nichtseinsollendes repräsentieren. (Moral und Religion 8f.)

Die Empirie ist das Abnorme, Nichtseinsollende, eine Welt der Täuschungen, der Irrtümer, des Leidens, der Unwahrheit. Dies freilich wird von Spir nicht klagend oder moralisierend behauptet, sondern mit feinster, professionell gehandhabter Logik - er ist der in 'Menschliches, Allzumenschliches' anonym bleibende "ausgezeichnete Logiker"! - erkenntnistheoretisch deduziert. Und Nietzsche nimmt ihm dieses fein geschmiedete Werkzeug aus der Hand, um in endlos wiederholten Analysen des menschlichen Denkens, seiner sprachlichen Mittel und Methoden, immer wieder das Eine zu demonstrieren: "Von jeder Stelle aus gesehen ist die Irrtümlichkeit der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann" (SCH II 598). "Jedes Wort ist ein Vorurteil" (SCH I, 903), wir erliegen ständig der "Verführung von seiten der Grammatik" (SCH II, 565). "Es gibt keine objektiv sinnvolle Korrespondenz zwischen uns und den Dingen" (Schlechta in SCH III,1445), oder, parodistisch gesagt: "im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott! und Gott... war der Unsinn." (SCH I, 750)

Ohne es zu wollen, hat Spir einem erkenntnistheoretisch begründeten Nihilismus den Boden bereitet. Mit 'Menschliches, Allzumenschliches', in dem Nietzsche seinen Vorarbeiter erstmals zitiert, beginnt die radikale Wendung in seinem Denken: hin zu einer naturwissenschaftlich-positivistischen Destruktion aller metaphysischen "Vorurteile". Indem "er sich die Vorstellungen Boscovichs, Zöllners und Spirs zu eigen machte", so urteilt Janz, " ... vollzieht Nietzsche einen Bruch mit seinen bisherigen Arbeiten und beginnt einen neuen Weg." (I, 556)

Mit keinem Wort kommt Nietzsche auf das Identitätsdenken von Spir zu sprechen; das "Unbedingte" interessiert ihn nicht, gilt ihm als abgetan. Ihn reizt das Bedingte, das allzumenschlich Bedingte des vermeintlich "Unbedingten". Unausgesprochen wendet er Spirs Waffen auch gegen ihren Erfinder. Dessen "wahre" Welt ist für ihn die falsche und dessen "scheinbare" Welt für ihn die wahre.

Die "scheinbare" Welt ist die einzige: die "wahre Welt" ist nur hinzugelogen. (Nietzsche in D'Iorio 270)

Spir bleibt auf der Strecke, historisch gesehen, und Nietzsche triumphiert.

Die alte Welt, gegen die er sich wendet, war die Welt der ewigen Ideen Platos, die Welt des Idealismus. Nachdem die Substanzen und mit ihnen die Ideen abgeschafft waren, die statische Welt der Antike, gab es kein Halten mehr. Alles ist von nun an im Fluß, alles fraglich, alles zweifelhaft, aber auch: Alles ist möglich geworden.

Unmöglich geworden ist dagegen eine sinnvolle Verständigung mit Menschen, die an dieser alten Wertordnung hängen, mit einer Idealistin z. B. wie Malwida von Meysenbug. (Sie hat sich in ihren Erinnerungen ausdrücklich so bezeichnet.) "Denn Sie sind 'Idealistin'", schreibt ihr Nietzsche Jahre später, " - und ich behandle den Idealismus als eine Instinkt gewordene Unwahrhaftigkeit, als ein Nicht-sehen-Wollen der Realität um jeden Preis: jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus". (In: Meysenbug: Nietzsche 8)

Er sagt es ihr noch härter in einem Brief vom 20. Oktober 1888, in der übersteigerten Emphase, die schon den Wahnsinn ankündigt:

Sie haben sich - etwas das ich nie verzeihe - aus meinem Begriff 'Übermensch' wieder einen 'höheren Schwindel' zurechtgemacht. Etwas aus der Nachbarschaft von Sibyllen und Propheten: während jeder ernsthafte Leser meiner Schriften wissen muß, daß ein Typus Mensch, der mir nicht Ekel machen soll, gerade der Gegensatz-Typus zu dem Ideal-Götzen von ehedem ist, einem Typus Cesare Borgia hundert Mal ähnlicher als einem Christus. (In Meysenbug: Nietzsche 11)

Malwida hat die Abirrung ihres Freundes nie verstanden, immer bedauert. Sie mußte "mit tief schmerzlichem Erschrecken sehen, daß diesem hohen Geist Umnachtung drohe, indem er die Bedeutung seiner reformatorischen Aufgabe überschätzte und in eine Höhe hob, in der sie beinahe den Anspruch machte, eine zweite Weltschöpfung zu sein." (Nietzsche 55)

Und damit sind wir wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt: in den Räumen der Villa Rubinacci am Golf von Sorrent. Was immer im übrigen an persönlichen und äußeren Umständen mitgespielt haben mag - der von Spir mitverschuldete Abschied Nietzsches von der herkömmlichen Philosophie hat letztlich auch seinen Abschied aus der Sorrenter Philosophen-Gemeinschaft notwendig gemacht. Der mit dem Spirschen Skalpell sezierende Philosoph konnte sich die rote Zipfelmütze des Idealismus nicht mehr überziehen lassen.

Am 10. April 1877 verließen Rée und Brenner die Gemeinschaft, am 8. Mai nahm auch Nietzsche Abschied von Sorrent. Das "Kloster für freiere Geister" schloß seine Pforten, die "Idealkolonie" löste sich auf. Der "Orden der Philosophen, der Künstler und Heiligen" - er blieb Phantasie, verwehter Traum einer Sehnsucht nach Gemeinschaft. Nietzsche stieg in noch kältere Einsamkeiten als je zuvor. Nicht ohne Wehmut schreibt er einmal an Malwida (in Meysenbug: Nietzsche 10):

Ist von Sorrento's Duft nichts hängen blieben

Ist alles wilde kühle Bergnatur,

Kaum herbstlich sonnenwarm und ohne Lieben? ...

Wehmütig blickt auch Malwida zurück auf die gemeinsam verbrachte Zeit: "Wie milde, wie versöhnlich war Nietzsche damals noch, wie sehr hielt seine gütige, liebenswerte Natur noch dem zersetzenden Intellekt das Gleichgewicht. Wie heiter konnte er auch noch sein, wie herzlich lachen... " (Z. n. Janz I, 749)


1 Ob Nietzsche diese Schrift kannte, wissen wir nicht. Er besaß aber Spirs Werk 'Forschung nach der Gewissheit in der Erkenntnis der Wirklichkeit', das im selben Jahr 1869 erschienen war (vgl. Schlechta und Anders 119). Auch Hubert Treiber, der diesem Thema ausführliche Studien gewidmet hat, vermutet, daß Nietzsche von Spirs 'Vorschlag' zu seinem Klosterprojekt angeregt oder zumindest darin bestärkt worden ist. Vgl. Treiber 1989, S. 121 und 1992, S. 327.



Literatur

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Zum Wandel von Nietzsches Seinsverständnis - African Spir und Gustav Teichmüller. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Meisenheim/Glan 1970, Bd. 24, H. I, S. 50-71.

D'Iorio, P.

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Das Rationale und das Emotionale bei Nietzsche. Diss. Basel 1919.

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Friedrich Nietzsche. Biographie in 3 Bänden. München/Wien: Hanser, 1979.

Meysenbug, Malwida von

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Oehler, M. (Hg.)

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Oesterreich,
T. K.

Deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart. Basel: Schwabe, 1951 (13. Aufl.), Band IV.

Ottmann, H.

Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin/New York 1987.

Schlechta, Karl
(Hg.)

Friedrich Nietzsche. Werke. Frankfurt/M.: Ullstein, 1976. ( = SCH)

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Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen sseines Philosophierens. Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann, 1962.

Titkemeyer, H.

Die Erkenntnistheorie Kants bei Friedrich Nietzsche. Diss. Königsberg 1938.

Treiber, Hubert

Nietzsches "Kloster für freiere Geister". In: Peter Antes und Donate Pahnke (Hg.), Die Religion von Oberschichten. Marburg: diagonal, 1989, S. 117-161.

Treiber, Hubert

Wahlverwandtschaften zwischen Nietzsches Idee eines "Klosters für freiere Geister" und Webers Idealtypus der puritanischen Sekte. In: Nietzsche-Studien, Bd. 22, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1992. S. 326ff.

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