Vor 100 Jahren boomten in
Europa alle möglichen Lebens-Reform-Experimente. Der "Tessiner
Zauberberg" Monte Verità wurde zum Inbegriff diverser
kulturreformerischer Sehnsüchte des heraufziehenden 20.
Jahrhunderts. Aber auch Heinrich
Vogelers Gründung der Worpsweder Barkenhoff-Kommune nach
dem Ersten Weltkrieg stand noch in dieser Tradition, wenn auch als
radikal-politische Variante. Den Verbindungen zwischen Ascona und
Worpswede geht das Stück "Berge der Utopie"
nach, mit dem die Theatertruppe "Cosmos Factory" in den
Theatersommer 2010 auf dem Barkenhoff gestartet ist. |
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Maler im 19. Jahrhundert anderswo
und auch auf dem Monte Verità
Lebensreform, Freiheit und
bäuerliche Idylle: Nicht nur Paula Modersohn-Becker lebte in
einer der ländlichen Künstlerkolonien, die im 19. Jahrhundert in
ganz Europa entstanden. |
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Max Daetwyler (1886 - 1976) rückt 1914 in die Schweizer Armee ein und erklärte: «Ich demonstriere gegen den Krieg; ich werde den Eid nicht leisten.» Als einer der ersten Kriegsdienstverweigerer wird er sofort in die Irrenanstalt abtransportiert. Wer findet: «Keine Soldaten – kein Krieg!» kann nicht normal sein. Als einsamer Bote kämpft er zeitlebens für den Frieden, auch in Moskau und Washington. Bericht in der NZZ vom 13.2.2023 | |||||||||||||
Lebensreform in
Ungarn: Gusto Gräser verbrachte prägende Jugendjahre in Budapest. Die gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen in der Stadt können auf ihn nicht ohne Einfluss geblieben sein. Mit einem Vordenker, dem Philosophen Eugen Heinrich Schmitt, kam er später durch Freunde in Verbindung. Mehr über die ungarische Lebensreformbewegung in den Auszügen aus dem Aufsatz von András Németh in der Reihe NOVALIS Verlag Gondolat Kiadó, Budapest, 2014, ISBN 978 963 693 545 0 Lebensreform, Reformpädagogik und Lehrerberuf
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Gusto Gräsers Jesusbuch EndeFebruar 1951 schreibt Gusto Gräser aus Freimann an seine Tochter Heidi in der Schweiz: Kennt man in Eurem Kreis das Büchlein von A.Nachtigal: „Wenn das Leben erwacht“? Von den Büchern, die sich mit Jesus befassen und ich kenne, scheint mir das die trefflichste Einstellung gefunden zu haben. Hab‘s früher oft verschenkt, hat‘s Heidi nicht? Trudel hatte es! Auszüge aus dem Buch von Albert Nachtigal: Das Christentum ist nicht Lehre, sondern Leben. Was für eine befreiende Wahrheit .... |
Was sind die Wurzeln von DADA?Hauptstränge
führen auf den Monte Verità von Ascona.
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Geistige
Strömungen um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert -
eine recht umfassende Darstellung
Zeigt das Umfeld auch des Monte Verità |
Wilder denken, freier lieben, grüner wohnen - Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900 |
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„Zivilisation" führt zur Erdumwälzung. Stehen wir vor einer Naturkatstrophe?“ So schrieb Ernst Ostweg 1932 in seiner Zeitschrift ‚Utopia‘. |
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Aufsatz
von Hermann Müller:
Herausgegeben vom Mindener Kreis, in "Kiefern im Wind - Zum Naturverhältnis in der Jugendbewegung", S. 27-36, herausgegeben von Pit Stibane, 2010 |
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LEBENSREFORM IN DER SCHWEIZ --> eine systematische Dokumentation von Edi Goetschel LEBENSREFORM IN DER SCHWEIZ --> und: eine Fülle von Informationen bei Societyofcontrol Mit den Kapiteln: Utopie - Vorläufer - Lebensreform - Monte Verità - Barfüssige Propheten - Bohemia - Münchener Räterepublik - Weimarer Republik - Publikationen - Today |
Der
russische Philosoph Afrikan Spir soll auf die Gründer des Monte
Verità Einfluss gehabt haben. Zuvor aber wirkte er schon auf den
deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche. |
Wir brauchen einander. Dies
einzusehen ist die Grundlage für eine friedliche Weltordnung unter
uns Menschen und mit unseren Mitlebewesen im Mineralien-, Pflanzen-
und Tierreich. Frieden kann es nur dann geben, wenn wir in Frieden
mit der Natur leben. Der Mensch der Zukunft wird im Einklang mit der
Schöpfung leben müssen, wenn er überleben will. Klick dich zu den Elementarkreisen - zum Schamanismus unserer Zeit. |
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Der russische Neukantianismus: Marburg in Rußland. Historisch-philosophische Skizzen von Nina A. Dmitrieva Deutsch русский язык |
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Gelebte Spiritualität ist der Motor einer stillen Revolution, die ihre Vorläufer in Menschen wie Victor Schauberger, Nicolas Tesla, Wilhelm Reich, Karl Landauer, Gusto Gräser, Charles Fourier, Joseph Beuys, Hans Christian Ströbele u.v.m. die in ihrer Zeit auf große Widerstände stießen. |
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Ausschnitt im Nachlass Gusto Gräser Eine
prophetische Dichtung von Alfred Döblin »1001
Zukunftsprognosen und Gegenwartsromane sehn neben Berge
Meere und Giganten a priori weniggleisig, hausbacken, halt
vordöblinisch aus.« Aus
einer Besprechung: „Enzyklopädisch
und visionär erzählt Berge
Meere und Giganten die von Krieg und
Naturzerstörung geprägte Geschichte der menschlichen
Zivilisation bis zum 27. Jahrhundert. Die politische Welt
der Zukunft, die Döblin dabei entwirft, ist aufgeteilt in
zwei große, totalitäre Machtblöcke, die sich im »Uralischen
Krieg« bekämpfen. Gusto
Gräser hat diese Anzeige von Döblins Giganten
(eine Kurzfassung von
Berge, Meere und Giganten)
offenbar gleich nach Erscheinen (1932)
ausgeschnitten und rot angestrichen. Die antiindustrielle
Tendenz musste ihn anziehen. Offen bleibt, ob er das Buch je
gelesen hat. Da
Döblin auch Chinesisch-Taoistisches von sich gegeben hat und wegen anderer Anzeichen frage ich
mich, ob er Gusto gekannt haben könnte. Döblin lebte und
schrieb vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin. Sein
in China spielender Wanglun-Roman wurde im Juli
1912 begonnen - da war Gusto seit einem Jahr
in Berlin. Zitate: Sie
predigten nicht, suchten niemanden zu bekehren. Vergeblich
bemühten sich Literaten, die sich unter sie zu mischen, ein
religiöses Dogma von ihnen zu hören. Viele aßen kein
Fleisch, brachen keine Blumen, schienen Freundschaft mit den
Pflanzen, Tieren und Steinen zu halten. Ein Seufzen preßte
das Land aus. Man hatte so glückverschleierte Augen nie
gesehen. Ein Zittern ging durch die Familien. (Döblin: Die 3
Sprünge des Wang-lun, 1912) Die
Strolche, mit denen er tagelang zusammenhockte, schwankten
in ihrer Auffassung über ihn (Wang-lun). Ein paar Jüngere
nahmen ihn nicht für voll, sie hielten ihn für einen
Halbnarren mit entsetzlicher Gewandtheit, eine Art
Affenmenschen. Die älteren scheuten ihn. Sie nörgelten nicht
an seiner kindischen Verspieltheit; ihnen fielen die nicht
seltenen Minuten seiner unheimlichen Entrücktheit auf.
(Alfred Döblin, ebendort über Wang-lun, 1912) Ein
Zittern ging durch die Menschen, wenn Gräser auftrat.
Manche, die ihn bewunderten, hatten glückverschleierte Augen.
Andere nannten ihn einen Narren und gingen ihm aus dem Weg.
Den Klarsehenden entging nicht die unheimliche Entrücktheit
dieses Menschen. Die
Reaktionen auf Wang-lun entsprechen denen auf Gusto Gräser -
bis heute. Döblin
hat in den beiden Büchern zwei Zukunftsszenarien entworfen. Im
ersten Buch ist der Ausgang noch pessimistisch, im zweiten
Buch hofft er auf ein kommendes naturfreundliches Zeitalter –
nach der Selbstzerstörung der technokratischen Giganten. Aus
einer Besprechung von Die
drei Sprünge des Wang-lun: Wang-lun
ist eine historische Figur; der Aufstand, den dieser
Fischersohn anführt, hat tatsächlich 1774 stattgefunden. Er
ist nur eine in einer Reihe vieler ketzerischer Unruhen im
Norden Chinas, die von der kaiserlichen Regierung verfolgt
werden. Wang-lun
beruft sich zunächst auf die Lehre vom Wu Wei, vom
Nichthandeln, die auf Laotse zurückgeht. Die Anhänger der
Sekte verehren als Tempel das Weltall, ihre Götter sind die
Berge und Flüsse. Sie sind Vegetarier und nennen sich Brüder
und Schwestern.
Taoistische und buddhistische Elemente verbinden sie in
ihrem Glauben mit alten Vorstellungen volkstümlicher
Mythologie. Doch ihr passiver Widerstand scheitert an der
Realität politischer Machtverhältnisse und die Menschen
greifen zu den Waffen; ein Konflikt, der in verschlüsselter
Form auch die Probleme des deutschen Kaiserreichs zu Anfang
des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Döblin
widmet sich in dem Roman, den er 1912 und 1913 schreibt,
nicht dem technokratischen Fortschrittsdenken seiner Zeit,
sondern ihren revolutionären Umbrüchen. Thema ist der
Widerstand des Einzelnen gegen den totalitären Staatsapparat
… Döblin
geht es nicht um ein Heldendrama, sondern um die Wirkung
charismatischer Führer auf die Masse. Wang-lun verschwindet
über weite Strecken des Romans hinter den revolutionären
Ereignissen, die er auslöst. Ihn interessiert
die kollektive Katastrophe, das Scheitern einer religiösen
und sozialen Bewegung und das allgemein menschliche
Schwanken zwischen Hoffnung und Resignation, Kampf und
Verzweiflung, Sieg und Niederlage. Dabei beschönigt er
nichts; Wang-lun und die anderen Protagonisten werden in
ihren guten und schlechten Charaktereigenschaften gezeigt. Die
drei Sprünge des Wang-lun
gilt als erstes Meisterwerk expressionistischer Erzählkunst.
Für viele markiert dieser Roman den Beginn der literarischen
Moderne in Deutschland, wegen seiner explosiven Sprache und
der faszinierenden Flut an Bildern und Motiven. Der Roman
macht seinen Autor berühmt, obwohl er gängigen
Lesegewohnheiten widerspricht. Die Sprache hat ein hohes
Tempo, Szene reiht sich an Szene, Bild an Bild, Ereignis
folgt auf Ereignis. Einzelne Sequenzen stehen lose im Ganzen
und folgen Döblins Schreibtechnik, die nicht auf Linearität
des Erzählens angelegt ist, sondern einzelne Sequenzen für
sich stehen lässt, die erst der Leser zu einem Ganzen
zusammenfügt. Günter
Grass schreibt über dieses bemerkenswerte Buch: „Wang-lun,
der Führer der Schwachen und Wehrlosen,
wird, indem er das Schwachsein zur Ideologie erheben
will, schuldig. Die Greuel der Schwachen und Gammler der
Mandschu-Zeit messen sich an den Greueln der
Herrschenden; Wang-lun, der sanfte Berserker, scheitert
und löscht sich aus."
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Nach Gusto: | |||||||||||||
Gusto schrieb, wohl nach dem 2. Weltkrieg: |
Mensch,
dein Herrentum gedeiht - Trumpf ist Mischmaschinenzet! Ihre Eisensaurier rasen, dich als Material zu grasen – ungeheure Saurierein! Eins nur kann dem Unfug wehren, eins: trautahmendes Verehren, herzgottvoll Besonnensein! Erst wo wir
hinter dem Grauen,
zum grünen Walde gesellt, die Gärten, die Hütten bauen. Bildung und Wildung trauen - da erst tritt der Mensch in die Welt! |
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Und das sagte 1990 Peter Cornelius Mayer-Tasch: |
Das Drama Mobilität – Überlegungen zu einer
Transit-Philosophie. Transit VON PETER CORNELIUS MAYER-TASCH Transit: Er, sie, es geht hindurch. Transire - das
Hindurchgehen. Wo-durch? Wo-her? Wo-hin? Hindurchgehen heisst
zunächst und zuvörderst, sich zu be-wegen, sich auf den Weg
machen, Weg- Strecken zu durchmessen. Durchmessen aber werden
materielle und spirituelle Räume - geographische Räume,
Zeiträume, metaphysische Räume. Wege durch Raum. Zeit und
Ewigkeit. Wege und Scheide-Wege. (...) Ging es in der Vergangenheit bei der Bewertung des
Weges und der Wege, bei der Entdeckung von Irrwegen wie bei der
Suche nach Auswegen in erster Linie um Richtung und Ziel dieser
Wege, so ist heute nicht zuletzt auch der Weg selbst und die Art
und Weise der Zurücklegung dieser Wege – die Art und Weise der
Bewegung also – zum Problem geworden. Zumindest im räumlichen Sinne des Wortes waren wohl
noch nicht einmal in den Zeiten der grossen Völkerwanderungen so
viele Menschen gleichzeitig «unterwegs» wie heute. Kaum mehr
absehbare Verkehrsströme bewegen sich un-entwegt zu Lande, zu
Wasser und in der Luft. Der Fort-Schritt, der diese zum
Charakteristikum der Moderne gewordene zivile
Generalmobilmachung ermöglicht hat, war und ist natürlich längst
kein Fort-Schreiten mehr, sondern allenfalls ein Fort-Rollen.
Neben der Zähmung des Feuers war die Erfindung des Rads der
zweite prometheische Anstoss für die Entwicklung des neuzeitlichen Homo faber. Der Erfinder des Rads hat alle nachgeborenen
Generationen Opfer ihres eigenen Bewegungsrausches auf
ebendieses Rad geflochten. Wenn es zunächst noch gemächlich
rollte, so sollte es sich – von der menschlichen
Beschleunigungsgier angetrieben – im Laufe der Zeit immer
schneller drehen, bis es samt seiner Herren und Sklaven vom
Boden abzuheben und sich in die Lüfte zu schwingen begann. Wenn der Weg stets zugleich auch Wagnis war, so ist
die Bereitschaft, sich diesem Wagnis auszusetzen, im Zeichen des
immer geschwinder rollenden Rades mehr und mehr zur
Waghalsigkeit und Verwegenheit geworden. Und dies in mehrfacher
Hinsicht. Wer sich diesem Wagnis aussetzt, riskiert – je
häufiger und je länger, desto mehr – Kopf und Kragen. Die Zahlen
jedenfalls sprechen für sich. Weltweit sind es im Jahr etwa 250
000 Menschen, die unter die Räder kommen – mehr, als beim
Atombombenangriff auf Hiroshima und Nagasaki ums Leben kamen.
Seit der Erfindung des Automobils starben nahezu 30 Millionen
Menschen auf den Strassen, von Hunderten von Millionen
Verkrüppelter und Verletzter ganz abgesehen. Und auch diese
Zahlen markieren nur die Spitze des Eisbergs. Tod, Verderben und
namenloses Leid verbreiteten auch die indirekten Auswirkungen
der Auto-Mobilisation – all die Verhässlichungs-, Verlärmungs-
und Vergiftungsorgien, die bei dem verschwenderischen Tanz um
das Goldene Rad gefeiert wurden. Das Rad als Lebenssymbol Die Frage, wem diese fast unabsehbaren
Transit-Opfer eigentlich gebracht wurden und noch immer gebracht
werden, liegt nahe. Beantworten lässt sie sich auf verschiedenen
Ebenen. Geht man auf philosophische Distance, so wird man
erkennen, dass der dem Goldenen Rad geweihte Opferaltar aus
zahllosen technisch-ökonomischen Fortschrittshoffnungen
errichtet wurde. In der orientalischen wie in der
keltisch-germanischen Kulturtradition war das (goldene) Rad
Sonnen- und somit Lebens- und Ganzheitssymbol. Der – europäisch geprägten – Neuzeit blieb es
vorbehalten, das Rad mehr und mehr auf ein blosses
Fortbewegungs- und Beschleunigungssymbol zu reduzieren. Und
gerade diese Reduktion des Rades auf ein blosses Fortbewegungs-
und Beschleunigungssymbol entsprach nicht zuletzt auch der
Reduktion der – in der christlichen und zum Teil auch noch in
der frühaufklärerischen Vorstellungswelt als Erlösungs- und
Vervollkommnungsprogrammatik verstandenen – Fortschrittsidee auf
eine mehr oder minder materialistisch geprägte (und zudem Züge
einer neurotisch anmutenden Triebhaftigkeit aufweisende)
Expansionsmentalität. (...) Die vom Homo faber seit Beginn der Renaissance
systematisch herangezüchtete Symbiose von Geldwirtschaft,
Technik und Konkurrenz-Denken hat zu jener Generalmobilmachung geführt, in deren Bann unsere
ganze Zivilisation heute steht. Mobilität wurde – wenn auch mit
gewissen zeitlichen und räumlichen Phasenverschiebungen – zum
Signum der Moderne. Mobilität und Normalität fallen zusammen.
Normal ist der gehende, fahrende, hastende – nicht aber der
innehaltende, stehenbleibende Mensch. Er wird nicht selten mit
Verwunderung, wenn nicht gar ausgesprochen scheel angesehen, bei
ihm scheint etwas nicht zu stimmen. Und ist er eine Sie, so
werden ihr häufig genug zweideutige Absichten unterstellt, muss
sie damit rechnen, belästigt zu werden. Zumindest im Ansatz entspricht der Norm auch ein
menschliches Grundbedürfnis. Sich ungehindert bewegen zu können
vermittelt ein wohl von allen Menschen als wohltuend empfundenes
Gefühl der Freiheit, das sich, durch zahllose technische Künste
gefördert, bis zur Schwerelosigkeit des Dahinsausens und
Dahinfliegens steigem kann. Die Erdenschwere abzuschütteln, ist
ein alter Menschheitstraum, von dem ungezählte Märchen, Sagen
und Geschichten künden. Verkehrsvolumen nimmt weiter zu Inwieweit dieser Traum in Erfüllung gehen konnte,
hing nicht nur von der Kunstfertigkeit, sondern stets auch von
der sozialen Stellung derer ab, die diesen Traum träumten. Je
höher ihr sozialer Rang war, desto leichter liess sich das
Bedürfnis nach Mobilität befriedigen. Im Gegensatz zum Sklaven,
Hörigen und Knecht war der Hochgestellte oder jedenfalls Freie
nicht (oder doch nicht im selben Masse) an die Scholle gebunden;
er hatte mithin die sozialen Grundvoraussetzungen für eine -
mehr oder minder weitgespannte Mobilität. Uberdies standen ihm
auch vergleichsweise schnelle und bequeme Mittel zur Überwindung
räumlicher Entfernungen zur Verfügung – Reittiere oder von Zugtieren gezogene Wagen. Uber
die unmittelbare Erfahrung und den unmittelbaren Genuss der
Beweglichkeit hinaus dürfte ein guter Teil der Faszination, die
heute vom Automobil ausgeht, in der mehr oder minder vagen
Erinnerung des «kollektiven Unbewussten» (C. G. Jung) an solche
– auch in manchen Mythen aufscheinenden - sozialhistorischen
Zusammenhänge wurzeln. An die Stelle des «hoch zu Ross»
Sitzenden oder sich ins weiche Pfühl der Karosse Lehnenden ist
heute der Motorrad-, Auto-, Flug- oder auch Zugreisende
getreten. Dem «blossen» Fussgänger aber gehört «eigentlich» der
Hut in die Hand; zumindest hat er (und seine Lebensinteressen)
demütig zurückzutreten oder sich in Unterführungen zu
verkriechen, wenn Ihre Hoheit, die im Transit befindliche
Mobilität, sich – und sei es auch krachend und stinkend –
nähert. (...) Dass den Verkehrspolitikern nichts Klügeres
einfällt, als der tatsächlichen Entwicklung des
Verkehrsaufkommens durch eilfertige Eröffnung neuer Land-, Luft-
und Wasserwege – sozusagen mit hängender Zunge –
nachzuhasten, statt den Bedarf endlich als normative Grösse zu
begreifen, ist nur die eine Seite der Transit-Medaille. Die
andere, noch schärfer profilierte, ist der Trend zur Schaffung
politischer Voraussetzungen, die das Verkehrsvolumen ins nahezu
Unermessliche zu steigen drohen. So wird insbesondere die
Eröffnung des Gemeinsamen Europäischen Marktes innerhalb des
nächsten Jahrzehnts – d. h. also bis zum Jahr 2000 – aller
Voraussicht nach zu einer Verdoppelung des Güterverkehrs im
Alpentransit und zu ener 40- bis 60prozentigen Steigerung im
übrigen europäischen Verkehrsverbund führen. Mit dieser
Verdoppelung allein wird es allerdings noch lange nicht getan
sein. Zur Vorbereitung und in Begleitung dieses verdoppelten
Güterverkehrs wird es überdies auch zu einer Ausweitung des
Personenverkehrs kommen. Und dies um so mehr, als die
mutmasslichen sozio-ökonomischen Zusatzbelastungen, die der
Gemeinsame Markt gerade auch auf dem Verkehrssektor mit sich
bringen wird, den heute schon beinahe an sich selbst
erstickenden Fluchtverkehr wohl noch weiter verstärken werden. Grund zur Flucht aber glauben die Mitglieder der
fortgeschrittenen Industriegesellschaften unseres Fin de siècle
mehr denn je zu haben. Zu den zeitlosen Fluchtmotiven der
inneren Leere oder «verkehrten» Fülle kommt heute nicht zuletzt
das Bedürfnis nach (Urlaubs-)Flucht vor klimatischen Unbilden
und nach (Urlaubs- und Wohn-)Flucht aus ökologisch besonders
belasteten Gebieten und Verhältnissen. Dass sich als Folge
dieses Fluchtverkehrs die Teufelsspirale der Umweltzerstörung um
eine weitere Runde höher schraubt, ist unübersehbar. Wie die
Wege der unablässigen Güterverschiebung werden auch diese Wege
des unablässigen Menschenaustausches zu Irrwegen. «Reisen
beleidigt den Horizont» betitelte der Berliner Künstler Gunter
Bruno Fuchs einen Mitte der sechziger Jahre entstandenen
Kalenderholzschnitt. Und dies tut es wohl auch tatsächlich in
ständig wachsendem Masse. Verursacherprinzip durchsetzen Die Einsicht freilich in die Fragwürdigkeit der
bisherigen Verkehrspolitik wächst und wächst. Auch werden die
kritischen Fragen immer bohrender. Der Weg, an dem kritisches
Fragen baut, strebt daher auch weg von der Wand
transitpolitischer Selbstzerstörung in die offenen
Gestaltungsräume einer lebensgerechten Verkehrspolitik. Schon heute zeichnen sich für diesen Weg zwei
Etappen ab. Die erste Etappe – die Etappe der unmittelbaren
Not-Wende – ist die Etappe einer um- und mitweltfreundlich(er)en
Verkehrspolitik. Fairness gegenüber Um- und Mitwelt im Verkehr
bedeutet aus dieser Sicht, wenn nicht den völligen Ausstieg aus
der Autogesellschaft, so doch ihre entschiedene Zähmung durch
verkehrs-, energie-, finanz- und rechtspolitische Massnahmen, die zur Vermeidung, zumindest aber zur Drosselung
aller umweltschädlichen Verkehrsformen führen. Es bedeutet die
Umleitung des Güterfernverkehrs von der Strasse auf die Schiene wie auch die Verlagerung
des nationalen (und möglichst auch des innereuropäischen)
Flugverkehrs auf das IC- und EC-Netz der Eisenbahnen mit
Ausnahme der energieintensiven Hochgeschwindigkeitsbahnen. Vor
allem aber bedeutete es die Förderung der um- und
mitweltfreundlichen Verkehrsformen durch den Ausbau bzw. die
Wiederbelebung flächendeckender kommunaler, regionaler und
nationaler Geh-, Rad- und Schienenwegnetze sowie die Entwicklung
innovativer Verbundsysteme, die dem Benutzer dieser Wegnetze bei
Bedarf eine Kombination der erwähnten Verkehrsformen nahelegen.
Politischer Schlussstein einer solchen – als Politik der
Mässigung verstandenen – «Fair-kehrspolitik» wäre die gezielte
Ermöglichung und Erleichterung des Überganges von
sozioökologisch problematischen zu sozioökologisch
unproblematischen Verkehrsformen durch nachdrückliche und
nachhaltige steuer- und tarifpolitische Massnahmen, die der so
viel beschworene und so wenig ernstgenommenen Durchsetzung des
Verursacherprinzips eine echte Chance geben. Dass eine Verkehrspolitik, die mehr als die blosse
Minderung von Transit-Schäden im Auge hat, nur in den
Gesamtzusammenhang eines zivilisatorischen Transits gestellt
werden kann, ist unverkennbar. Die zweite Etappe des Reformweges
mündet daher auch in den Königsweg der Verkehrspolitik – in den
Weg der Neuordnung des Verhältnisses von Produktion und
Konsumation. Es ist dies der Weg der Wiederannäherung von
Produzent und Konsument zu Lasten der Transitprobleme
schaffenden räumlichen Arbeitsteilung und der aus ihr
resultierenden Distribution. Gefördert werden kann diese Wiederannäherung von
Produzent und Konsument sowohl im Verantwortungsbereich eines
jeden einzelnen Bürgers wie auch im Verantwortungsbereich der
öffentlichen Hand. Für ein Europa der Regionen (...) Verdeutlichen liesse sich dies an einer ganzen
Reihe von Beispielen aus verschiedenen Bereichen der
europäischen Politik. Gerade das Beispiel der Verkehrspolitik
zeigt jedoch besonders deutlich, wohin die Reise geht: Wie schon
erwähnt, gehen die europäischen Verkehrsprognosen für das knappe
Jahrzehnt nach der Eröffnung des Gemeinsamen Marktes bis zur
Jahrtausendwende von einer 50- bis 100prozentigen Steigerung des
innereuropäischen Flug- und Lastkraftwagenverkehrs aus. Wenn man
bedenkt, dass dieser Verkehr schon heute aus allen
sozioökologischen Akzeptanz- und Toleranzgrenzen zu sprengen
droht, reihen sich solche Prognosen wie von selbst ins
Horrorkabinett denkbarer zivilisatorischer Zukünfte ein. Verkehrs- und Bewusstseinschaos Im Hinblick auf die Belastung einer sozioökologisch
besonders empfindlichen Transit-Region – des Alpenraumes nämlich
– ist diese denkbare Zukunft schon weithin Gegenwart geworden.
Da die Alpenangrenzer Deutschland, Italien und Frankreich
Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind und das Alpenland
Osterreich den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft anstrebt,
ist das Gros der «geborenen» Hüter der sozioökologischen
Integrität des Alpenraumes verkehrspolitisch domestiziert. Ob
die – um eine sukzessive Okologisierung ihrer Verkehrspolitik
bemühte – Schweiz den Widerstand gegen die Zernutzung ihres
Alpenraumes auf lange Frist aufrechterhalten kann, wird nicht
zuletzt von ihrer eigenen ökonomischen Begehrlichkeit und vom
ökonomischen Verführungs- bzw. Erpressungspotential der
Europäischen Gemeinschaft abhängen. Sehr hoffnungsfroh kann ein wacher Beobachter der
Transit-Szene des Alpenraumes jedenfalls nicht gestimmt werden,
solange der europäische Integrationspfad heutigen Zuschnitts
weiter beschritten wird. Würde hingegen der skizzierte Pfad der
Regionalisierung bzw. Interregionalisierung beschritten, so
hiesse dies zunächst einmal, sich auf die ursprünglichen
sozialen und ökonomischen Möglichkeiten der jeweiligen Region zu
besinnen. Und diese Interessen und Möglichkeiten liegen
zumindest nicht zuvorderst in der Förderung von Export und
Import, sondern in der Förderung der Lebensbedingungen, die für
die jeweilige Region typisch sind. Für eine Region typisch ist
ihre natürliche geologische und klimatische Beschaffenheit, ihre
geographische Lage, ihre ethnischen Eigenheiten, Zahl und
(Aus-)Bildung ihrer Bewohner sowie auch ihre kulturellen
Besonderheiten. Und hieraus ergeben sich dann die spezifischen
Produktions- und Reproduktionsmöglichkeiten der jeweiligen
Region. Am Schluss dieser Uberlegungen zu einer
Transit-Philosophie bleibt anzumerken, dass die hier skizzierten
Auswege zwar nur Auswege aus einer ver-fahrenen Verkehrspolitik,
nicht aber Auswege aus einer verfehlten individuellen und
kollektiven Bewusstseinsverfassung zu bieten scheinen. Das
äussere (Verkehrs-)Chaos, in das sich die fortgeschrittenen
Industriegesellschaften manövriert haben, ist jedoch nicht
zuletzt Ausdruck ihres inneren (Bewusstseins-)Chaos. Auswege aus
dem äusseren Chaos weisen daher – zumindest im Ansatz – auch
Auswege aus einem inneren Chaos, wen ihre Signalwirkung
vielleicht auch zunächst nur bescheiden erscheinen mag. ===== Wir veröffentlichen hier Auszüge aus dem
Einleitungskapitel dieses Buches. P. C. Mayer-Tasch/W. Mol/H. Tiefenthaler: Transit -
Das Drama Mobilität, Schweizer Verlagshaus, 207 Seiten, 28 Fr. Tagesanzeiger, Samstag, 12. Mai 1990 - Seite 2 |
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