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Der
sächsische Maler und Dichter Gusto Gräser ist in der
vorigen Woche von der Hermannstädter Polizei ausgewiesen
worden.
Dies ist ihm unter genau denselben Umständen auch an anderen
Orten widerfahren, so zum Beispiel in Leipzig. Aus diesem Grunde
wäre
es ungerecht, der Hermannstädter Polizeibehörde ihr
Vorgehen besonders zu verübeln. Sie sah sich für
verpflichtet an, einzugreifen, weil verschiedene Herren mit
überempfindlichem Ordnungssinn an dem Auftreten
Gräsers
"Anstoß genommen" hatten. In Leipzig mag es ähnlich
gewesen sein. Aber da sich in Leipzig einige Männer
Gräsers
angenommen und gegen das Vorgehen der Polizei Verwahrung erhoben
haben, zu denen nicht geringere Leute wie Gerhard Hauptmann, Rich.
Dehmel, Friedrich Naumann und Ferdinand Avenarius gehörten, so
erscheint die Schlußfolgerung zulässig,
daß der
"Anstoß" nicht das einzige Wort ist, das zu Gusto
Gräser gesagt werden kann und daß bei der
Beurteilung
dieses vielfach Abgeschobenen der Polizeigesichtspunkt nicht der
allein maßgebende sein muß.
Was
ist es also mit Gusto Gräser? Ich sehe in ihm ein
verkörpertes
Symbol für gewisse Stimmungen, von denen niemand unter uns
modernen Zivilisationsmenschen ganz frei ist. In uns allen lebt in
hunderttausend verschiedenen Gradabstufungen je nach dem Wesen und
den Lebensverhältnissen des Einzelnen, nach Alter und
Zeitumständen, eine Sehnsucht aus der Enge und Gebundenheit,
in
die wir hineingesetzt sind, hinaus zur freien, belebenden, Friede
bringenden, Ruhe spendenden, erlösenden Natur, von der wir,
unserm harten Menschen-berufe folgend, so weit, ach so weit
abgedrängt und entfernt werden. Dieses
Sehnsuchtsgefühl ist
uralt, so alt, wie die menschliche Natur, und es ist auch nicht erst
jetzt entdeckt worden. In allen Jahrhunderten hat es Leute gegeben,
die mit weithinschallender Stimme den Ruf erhoben: "Zurück
zur Natur!" und den Versuch gemacht haben, der Menschheit aus
der Qual und dem Wirrsal des Kulturlebens den Weg dahin zu weisen.
Denken wir an Rousseau im 18., Leo Tolstoi im 19. Jahrhundert! ...
Gräser
will, soviel ich weiß, nicht Prediger und Prophet des
Natur-zustandes sein. Er weiß zu gut, daß eine
größere
Gemeinschaft von Leuten, die so leben, wie er, nicht bestehen
könnte.
Noch viel weniger ist er Sozialreformer. Er trägt nur einfach
eine starke und tiefe Empfindung für die Naturwidrigkeit, in
der
wir alle leben, in der Seele, und da er ohne Zweifel eine nicht
gewöhnliche dichterische Begabung hat, so ringt diese
Empfindung
in ihm nach künstlerischem Ausdruck. Er arbeitet, vielleicht
weniger nach einem bewußten Plan, als einem dunkeln Drange
folgend, mit den Mitteln der lyrischen Dichtung, indem er die
Stimmung, die in ihm selbst lebt und ihre Spannkraft ausübt,
auf
andere zu übertragen sucht und indem er die Sehnsucht darnach,
was er Heimat nennt, nach einem freien, friedlichen, einfachen,
vernunft-gemäßen Leben am Busen der Natur, im
trauten
Verein mit den "Brüdern im stillen Busch, in Luft und
Wasser" in seinem ganzen Leben und Auftreten zu verkörpern
trachtet.
Wer
ihn im grellen Tageslicht in auffälliger, theatralischer
Kleidung durch das Gewühl unserer Gassen gehen sieht, oder das
manchmal dunkle Wortgepränge seiner Verse liest, wird nicht
viel
Eindruck bekommen. Aber draußen in Feld und Wald, wenn er mit
seiner wohlklingenden, tiefen Stimme die Verse selbst vorträgt
oder seine eigenartigen Gedanken ausspricht, da wirkt er ohne Zweifel
stimmungsvoll und künstlerisch, da ist seine Erscheinung ein
menschgewordener Sehnsuchtsruf nach einem verlorenen Paradies unter
Gottes blauem Himmel.
Emil
Neugeboren in: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt vom 13. Mai
1916
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