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DER TANZENDE VAGABUND

Auszüge aus dem Buch von Peter Watson

Peter Watson

DAS ZEITALTER DES NICHTS

Eine Ideen- und Kulturgeschichte

von Friedrich Nietzsche bis Richard Dawkings

C. Bertelsmann, München 2016

Im Widerspruch zu seinem Titel bietet dieses Buch eine Chronik der Sinnsuche seit Nietzsche

Auszüge

Ein neuer Menschenschlag

Der tanzende Vagabund

Die Eroberung des Hügels bei Ascona begann um die Jahrhundertwende, als Gustav "Gusto" Gräser nach einem Jahr des Vagabundierens mit sieben anderen jungen Leuten bei einem Treffen in München beschloss, der Welt der Städte und Völker den Rücken zu kehren und eine Kommune zu gründen. Das Jahr 1900 hatte der westlichen Welt mit spektakulären Ausstellungen die technischen Triumphe des 19. Jahrhunderts vor Augen geführt. Aber Gräser und die anderen, meist Kunsthandwerker, die mit Holz, Metall oder Leder arbeiteten, betrachteten die Welt der Wissenschaften, Technik und modernen Medizin mit Widerwillen. Im Herbst 1900 begaben sie sich auf Wanderschaft durch die Schweiz und auf die Suche nach dem richtigen Ort für ihre utopische Siedlung. Am Monte Verità bei Ascona fanden sie, wonach sie Ausschau gehalten hatten.

Ascona, damals ein rückständiges Bauerndorf mit rund tausend Einwohnern, liegt auf der Tessiner Seite des Lago Maggiore in einer Region, die im Heldenepos der Schweiz nie eine große Rolle spielte. Ihre Attraktionen sind das milde Klima, in dem Pinien wie Palmen gedeihen, die Kulisse von schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund und Rosenbüschen am Seeufer, eingebettet in eine Landschaft, die sich einer einzigartigen Pflanzenvielfalt rühmen kann, von Eichen und Birken bis hin zu Zitronen- und Olivenbäumen. Und dann waren da die Bauern. Für die Künstler und Intellektuellen, die es zum Monte Verità zog, waren sie das beglückende absolute Gegenteil moderner Städter. Sie sprachen Italienisch, waren gläubige Katholiken, bewirtschafteten Weinberge, fischten im See und schmuggelten alles Mögliche über die nahe italienische Grenze. Das Land war so arm, dass ein steter Strom seiner Bewohner in die Städte oder nach Amerika floss.

Gräser lebte während der folgenden zwanzig Jahre in dieser Landschaft. Er war immer an der frischen Luft, immer in Bewegung und ernährte sich von dem, was das Land hergab. Seine Lebensweise war sein Werk, seine Schöpfung, und an der arbeitete er unermüdlich, indem er seine Bedürfnisse und Gelüste dem Klima und den Höhlen, den Früchten und den essbaren Blättern anpasste. Er war ein Vegetarier, der dem Leben huldigte und sich weigerte, etwas zu essen, das getötet worden war. Seine Lebensmaxime war gelebte Freiheit anstelle von Abgrenzung, Menschlichkeit anstelle von Religion, Herzlichkeit anstelle von Frömmelei.26 Zwar wurde Gräser immer mal wieder seiner Anschauungen wegen (Anarchist, radikaler Pazifist, »theoretischer« Nudist) inhaftiert, fand aber Unterstützung durch Hermann Hesse, der Martin Green zufolge glaubte, dass Künstler eine besondere — eine gesellschaftlich privilegierte - Art hätten, ihren Glauben kundzutun, und ausgenommen seien von gewöhnlichen Pflichten.27

Man richtete Werkstätten ein, wo von Schmuck bis Möbeln so ziemlich alles hergestellt wurde für Kunden, die die Massenwaren aus den Fabriken satthatten.28 Niemand am Monte Verità machte etwas aus rein wirtschaftlichen Gründen oder mit irgendeinem bestimmten Ziel vor Augen - das hätte ja individuellen Ehrgeiz wecken können. Man tat, was man tat, schlicht und einfach aus Freude und zur Feier des Lebens. Man brauchte nur eben so viel, hieß es dort, um die Minimalbedürfnisse zu decken, ansonsten würde man schnell in genau das Sozialsystem abrutschen, das die Malaise überhaupt erst verursacht hatte. Um diese »Fülle des Daseins« zu leben, folgte man bereitwillig Hermann Hesses Zarathustra:

Die Welt ist nicht da, um verbessert zu werden. Auch ihr seid nicht da, um
verbessert zu werden. Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein.
19

Eugen Diederichs, der Verleger von Hermann Hesse und Herausgeber einer Monatszeitschrift für Politik und Kultur mit dem Titel Die Tat, war überzeugt, es stünde ein drittes Stadium der Menschheitsentwicklung bevor, welches nicht nur mehr Freiheiten bringen, sondern dem Menschen auch die verlorene Würde zurückgeben würde (die von so großer Bedeutung für Georg Simmel war). Von Gräser jedenfalls lässt sich sagen, dass er in der Tat einen neuen Menschenschlag erschuf, seinen Einfluss aber hauptsächlich auf Jugendbewegungen ausübte. Für den Tänzer und Choreografen Rudolf von Laban bestand der ganze Sinn des Lebens darin, die Entfaltung von Menschlichkeit (im Gegensatz zum rein Roboterhaften) zu fördern.30

Die Idee von einem Leben auf Wanderschaft, einer Vagabondage, scheint sich erst mit Gräser herauskristallisiert zu haben (in Asien hatte es sie natürlich schon seit spätestens Buddhas Zeiten gegeben). Auch Hesse, der ohnedies einen Hang zum Vagabundieren hatte, war davon beeinflusst. Eine Bestätigung dafür lieferte er mit seiner Erzählung Knulp (1915), der erfolgreichsten seiner Publikationen vor der Veröffentlichung von Demian. Die Geschichte beginnt im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Knulp ist ein liebenswerter Landstreicher und Habenichts, der ein spielerisch sinnliches Leben führt. Seine Jugendliebe hat er verlassen, um auf Wanderschaft zu gehen, aber die Frauen bleiben ihm verfallen. Allerdings ist das für Hesse gar nicht der Punkt, er betont vielmehr Knulps Empfindsamkeit, seine guten Manieren, seine Heiterkeit und freundliche Unbeschwertheit: Knulp weigert sich schlicht, sich an irgendein Gewerbe, einen Ort oder eine Person zu binden.31

Der Monte Verità war Gräser zur Heimat geworden. Die Bauern boten ihm ein Stück Land an, in der Hoffnung, dass er Gleichgesinnte anlocken würde, doch er lehnte das Geschenk ab. Er wollte nichts besitzen. Seine vielen praktischen Talente hatten ihm inzwischen den Namen »Klempner« und den Ruf eines Problemlösers eingebracht. Sein erstes »Heim« bestand aus zwei Steinplatten mit ein paar Brettern darauf als Liegestatt; er soll auch der Erste gewesen sein, der sich ein Stirnband umband und einen Poncho trug, wie es dann so typisch für seinesgleichen werden sollte. Seine Kleidung und Sandalen fertigte er selbst, und oft ernährte er sich nur von Früchten, die auf den Boden gefallen waren, oder von dem, was andere weggeworfen hatten. Später bezog er eine Höhle, die er mit »Krimskrams« dekorierte. Als Kleiderhaken steckte er Zweige in Felsritzen, Gegenstände verwahrte er in ausgehöhlten Baumstämmen. Es gab auch Zeiten, da hauste er zusammen mit bis zu acht Kindern und mehreren Frauen in einem Wohnwagen. 1912 war er bei der Leipziger Wandervogel-Gruppe zu Gast, auch einige seiner Gedichte veröffentlichte er im Wandervogel. Monatsschrift für Deutsches Jugendwandern. Der Stuttgarter Rechtsanwalt Alfred Daniel, der sich für Walt Whitman und Leo Tolstoi begeisterte, schrieb 1915:

Meine Erinnerung an Gusto Gräser geht fünfundsechzig Jahre, also bis zum Jahre 1913 zurück. [...] Damals begegnete mir in den Strassen Stuttgarts die Täufer-Johannes-Gestalt Gusto Gräsers, in härenem Gewand, mit fliegenden Haaren, in Sandalen, mit einem grossen Netz über der Schulter, in welchem Druckschriften verstaut waren. [...] Ich erinnere mich, wie er des Sonntags seine >Gemeinde< im Bopserwald, hoch über der Stadt, um sich versammelte. Passanten gesellten sich hinzu, und so mögen oft 90 oder 60 Personen dem Redner gelauscht haben, der da wie ein wiedergekommener >Bergprediger< mit seiner sonoren, weithin schallenden Stimme redete

Als nach der Weltwirtschaftskrise von 1922 erneut Massenarbeitslosigkeit in Deutschland Einzug hielt, begannen auch wieder Landstreicher auf den Straßen aufzutauchen. Es ist nicht einfach, ein Vagabund zu sein, wenn man Winternächte überstehen muss, und in der damaligen Zeit kam noch hinzu, dass solche Leute oft schlicht als Faulpelze oder Perverslinge diffamiert oder für Revolutionäre gehalten wurden.

Kommentar

Peter Watson bietet in seinem Buch auf nahezu 800 Seiten eine umfassende Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Titel seines Werks ist leider unglücklich gewählt, arg missverständlich. Denn er berichtet darin weniger über das „Nichts" der Zeit als über all diejenigen Versuche, die aus dem Nichts herausführen wollen. Mit dem "Nichts" ist gemeint der von Nietzsche prognostizierte „Tod Gottes", d. h., das Verdämmern der christlichen Religion. Watsons Buch jedoch ist das Buch eines Suchenden, eines Suchenden nach Religion, nach neuer Religion. So lautet etwa ein Kapitel „Die Religionen der Philosophen". Was kommt nach dem „Tod Gottes"? Das ist seine durchgängige Frage.

Und so wirkt es denn wie ein Auftakt zum Tenor seines Buches, dass er gleich im ersten Kapitel auf den Monte Verità zu sprechen kommt - und zuerst auf Gusto Gräser. Ihn nennt er den tanzenden Vagabunden, durch ihn sieht er einen „neuen Menschenschlag" geschaffen. „Gräser war die allererste - und auf ihre Weise mutige - Gestalt, die den Monte Verità mit seinen deutlich postreligiösen Ideen zu dem machte, was er werden sollte" (S.66).

Peter Watsons Darstellung des Monte Verità stützt sich allerdings fast ausschließlich auf das Buch von Martin Green Mountain of Truth' von 1986. Das dichterische Werk von Gräser ist ihm unbekannt. Daraus ergeben sich gewisse Fehlurteile. So unterschätzt er gewaltig die Wirkung Gusto Gräsers auf Hermann Hesse. Die Erzählung ,Knulp\ die er als Beispiel ins Feld führt, hat mit der Wirklichkeit des Siebenbürgers eher wenig zu tun. Watson wählt, aus mangelnder Sachkenntnis, eine literarische Schnulze anstelle der hohen Eroica von ,Demian\ ,Siddharta\ ,Morgenlandfahrt' und ,Grasperlenspiel.

Auch täuscht er sich, wenn er die Wirkung Gräsers vor allem in der Jugendbewegung gegeben sieht. Viel stärker und weittragender ist sein Abdruck in den Dichtungen von Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann, Bruno Goetz, Emil Szittya, Hermann Broch und anderen. Ähnliches gilt für seine Wirkung auf Psychologen und Philosophen wie Otto Gross, C. G. Jung, Erik H. Erikson und Ernst Bloch.

Watson stellt Gräser und Ascona in den Eingang seines Buches. Damit ist einmal gesagt, dass Gräser ein Nietzscheaner war, und zum andern, dass die nietzscheanische Revolution im Monte Verità ihr unausgesprochenes Leitbild hat. „Der Nietzscheanismus war dort allgegenwärtig, allerdings weniger in seiner ,Wille zur Macht'-Ausprägung als durch das Dionysische und das Ziel einer ekstatischen Dynamik" (61f.).

Das ist sicher richtig. Aber Watson vergisst - weil es nicht in seine atheistische Auslegung passt -, dass Gräser Taoismus und Hinduismus in sich aufgenommen hat, zwei Religionen zweifellos, wenn auch teils atheistische. Und auch Dionysos war einmal ein Gott, echte Ekstase begründet Religion.

Er sieht dann, wiederum mangels genügender Quellenkenntnis, den Einfluss von „Ascona" vor allem durch Laban gegeben. Der ist sicher bis heute weit besser erforscht als der von Gräser. „Die Ethik, die er (Laban) für eine moderne, nachchristliche Kultur avisierte, hatte jedoch die gleichen Schwerpunkte wie Gräsers" (66).

Watson zitiert einen Satz von Heidegger, den man als Hinweis auf Gräser verstehen könnte: „Alle jene ,nichttechnischen Weisen', welche von der herrschenden technischen Kultur als ,gering' betrachtet und an den Rand gedrängt wurden, empfand Heidegger als ,das Rettende"' (S.292).

Der Wanderer aus Siebenbürgen war zweifellos ein nichttechnischer Weiser, der von der herrschenden technischen Kultur an den Rand gedrängt und als „gering" betrachtet wurde. Watson stellt ihn an den Anfang seines Buches - als den Vorläufer eines neuen Menschenschlags.

Einige Zitate

Die Eroberung des Hügels bei Ascona begann um die Jahrhundertwende, als Gustav „Gusto" Gräser nach einem Jahr des Vagabundierens mit sieben anderen jungen Leuten bei einem Treffen in München beschloss, der Welt der Städte und Völker den Rücken zu kehren und eine Kommune zu gründen. (62)

[Martin] Green bezeichnet „Ascona" als eine teils tolstoijisch, teils anarchistisch, zu einer guten Portion naturalistisch und gelegentlich auch okkultistisch angehauchte Alternativkultur. ...

Der Nietzscheanismus war dort allgegenwärtig, allerdings weniger in seiner „Wille zu Macht"-Ausprägung als durch das Dionysische und das Ziel einer ekstatischen Dynamik. „Sie wollten Schönheit in Bewegung erschaffen und bejahten den Wert alles Lebendigen, vor allem den des Eros. Seinen dynamischsten physischen Ausdruck fand dies in der Idee und Entwicklung des modernen Tanzes." (61f.)

Die Kolonie verfügte tatsächlich bereits über all die Elemente der Gegenkultur, die sich später vor allem in Amerika entwickeln sollte. Auch ihre Anhänger waren auf der Suche nach Intensität durch sexuelle Freizügigkeit, wozu manchmal Nacktheit,manchmal Orgien und manchmal auch ein Maskulinitätskult gehörten. ... Die Natur sah man im Sein des Menschen ebenso fest verankert wie im Sein von „Tieren, Pflanzen, der Erde, des Wassers, der Sonne". Und genau das, sagt Green, war die asconesische Form von Frömmigkeit ...

Das entscheidende - und am häufigsten beschriebene - Element der Monte-Verità-Idee war der Rückzug aus dem urbanen Leben, um einen „neuen Menschenschlag" zu erschaffen,einen nachchristlich-säkularen, der das Menschsein in all seiner Fülle und in Gestalt einer gelebten "Vagabondage" sowie durch Tanz zum Ausdruck bringen sollte. (62)

In Ascona wurde wirklich mit beharrlicher Energie der Versuch unternommen, Religion zu ersetzen. (68)

Niemand am Monte Verità machte etwas aus rein wirtschaftlichen Gründen oder mit irgendeinem bestimmten Ziel vor Augen - das hätte ja individuellen Ehrgeiz wecken können. Man tat, was man tat, schlicht und einfach aus Freude und zur Feier des Lebens. Man brauchte nur eben so viel, hieß es dort, um die Minimalbedürfnisse zu decken, ansonsten würde man schnell in genau das Sozialsystem abrutschen, das die Malaise überhaupt erst verursacht hatte. ...

Der Monte Verità war Gräser zur Heimat geworden. Die Bauern boten ihm ein Stück Land an, in der Hoffnung, dass er Gleichgesinnte anlocken würde, doch er lehnte das Geschenk ab. Er wollte nichts besitzen. (64)

Der Monte Verità beeinflusste viele Menschen, die nie von ihm gehört hatten. (72)

Von Gräser lässt sich sagen, dass er in der Tat einen neuen Menschenschlag erschuf ... Die Idee von einem Leben auf Wanderschaft, einer Vagabondage, scheint sich erst mit Gräser herauskristallisiert zu haben (in Asien hatte es sie natürlich schon seit spätestens Buddhas Zeiten gegeben). Auch Hesse, der ohnehin einen Hang zum Vagabundieren hatte, war davon beeinflusst. (64)

Gräser war die allererste - und auf ihre Weise mutige - Gestalt, die den Monte Verità mit ihren deutlich postreligiösen Ideen und Lebenseinstellungen zu dem machte, was er werden sollte. (66)

Seine Lebensmaxime war gelebte Freiheit anstelle von Abgrenzung, Menschlichkeit anstelle von Religion, Herzlichkeit anstelle von Frömmelei. (63)

Ein neuer Menschenschlag: Der tanzende Vagabund. (62)