Lebensreformer, Prediger und Jesus-ImitatorenWarten auf den Messias
(oder besser: Lebensreform,
einst und heute [Hermann Müller])
Von Thilo Schmidt
Wanderprediger Gustaf Nagel, geschätzte Aufnahme um 1935 (imago/Arkivi)
Nach
dem Ersten Weltkrieg herrschte große Ungewissheit bei den Menschen und
"Heilige" mit den unterschiedlichsten Motiven und Motivationen traten
auf den Plan. Verschiedene Lebensphilosophien haben bis heute
Auswirkungen.
Zurück zur Einfachheit. Zurück zur Natur. Von dem leben, was der Boden hergibt, auf dem du stehst. Keine Tiere essen. Heilkunde, Naturheilkunde. Nacktheit. Mitunter freie Liebe. Dem gelebten, christlichen Weltbild und dem Materialismus der Industrialisierung den Menschen entgegen setzen, nichts als den Menschen.
"Das Denken von einem vermeintlich harmonischen natürlichen Urzustand war sehr stark."
Die Lebensreform-Forscherin Christiane Barz.
"Also man hat die umgebende Zivilisation so wahrgenommen, dass das ein Abfall von einem natürlichen Zustand war und dass der Grund dafür die Selbstermächtigung des Menschen gegen die Natur war, und das war natürlich die umgebende natürliche Umwelt, aber es war natürlich auch die Natur des Menschen. Und dieser Natur fühlte man sich dann näher, wenn man sich natürlich kleidete, oder nach Möglichkeit eben überhaupt nicht kleidete, und wenn man sich natürlich ernährte, als von dem, was der eigene Boden hergab – und das waren alles Dinge, wo man sich dann dem ursprünglichen Leben über die eigene Erfahrung wieder versichern konnte."
Skepsis an der Moderne
Die Skepsis an der Moderne schuf verschiedenste Lebensreformer. Manche schlossen sich der Wandervogel-Bewegung an. Manch anderer zog, wenig bekleidet und barfuß, als Prophet durch die Lande. Die Sehnsucht nach einem irdischen Erlöser war besonders ausgeprägt, als die Menschen in der Inflation in den 20er-Jahren eine wahre Apokalypse erlebten.
"Also vereint hat sie sicherlich die Grundüberzeugung, dass das Leben ganz neu auf die Füße gestellt werden muss. Und das war eine ganz experimentelle Bewegung, und es gab Überschneidungen zwischen verschiedenen Ideen und ihren Anwendern, also ein Nukleus war zum Beispiel die Naturheilkundebewegung, die auch dann mit dem Vegetarismus verbunden war, und so gab es einzelne Kernideen, die sich fortgesetzt, verbreitet und miteinander verschlungen haben."
Die Lebensreform war keine politische Bewegung im engeren Sinne – man war nicht entweder für ein Leben mit der Natur oder den Vegetarismus oder gegen die Industrialisierung oder gegen die verfestigten gesellschaftlichen Normen des Abendlands. Nein – man war Mensch und nur zu dessen Natur und diesen Wurzeln führte der Weg, ganzheitlich.
"Also die Verbindlichkeit eines einheitlichen christlichen Weltbildes war ohnehin nicht mehr gegeben, und gerade da entstehen auch diese religiösen Suchbewegungen. Unterschiedlicher Art. Also da gibt’s dann die Nietzsche´sche Lebensphilosophie und den Naturwissenschaftlichen Monismus, es gibt die Attraktivität von Buddhismus, östliche Philosophie, Theosophie, Anthroposophie und so weiter, und die Lebensreform, meine ich, ist in ihrer religiösen Aufladung komplett diesseitig. Also es ist eine diesseitige Erlösungshoffnung, die als quasi religiöse Numinosa die Natur, den Körper, das Leben entdeckt."
Der Lebensreformer Gustaf Nagel
Einer der wichtigsten Vertreter der Lebensreformer war Gustaf Nagel. Der Naturmensch und Wanderprediger wirkte vor allem in Arendsee in der Altmark. In Arendsee pflegt die Gustaf-Nagel-Forscherin Christine Meyer seinen Nachlass. Als Kind hat die pensionierte Lehrerin ihn in den 40er-Jahren noch kennengelernt.
"Und der Mann hat mich einfach fasziniert. Wir waren sehr kirchlich erzogen, und er sah ja immer aus wie ein Prophet. Und hielt da Reden vor Leuten, und wir haben uns einfach als Kinder dazugestellt. Wenn er mit dem Klingelbeutel rumging, dann sind wir vorher verschwunden, weil wir ja keinen Groschen hatten, um den zu geben. Auch wenn er am schwarzen Brett, da war ich so sechs Jahre alt, wieder einen neuen Anschlag anbrachte. Ich konnte ja noch nicht lesen, aber ich habe gehört, wenn die Leute das laut gelesen haben, oder ich hab gefragt: Lest mir doch das mal vor."
So wie sich Gustaf Nagel in Arendsee niederließ – wobei er sich nicht wirklich niederließ, seine Wanderungen, barfuß, führten ihn bis nach Jerusalem – kam er mit der Polizei in Konflikt. Zunächst wohnte er in einer selbst gegrabenen Erdhöhle. Mehrfach kam er in Haft.
"Er war ja ein Harmloser. Ein harmloser Friedensapostel und auch Lebensreformer. Er hat nicht in die Norm gepasst und auf keinen Fall in Arendsee. Deswegen wollten ihn ja die Arendseer auch am liebsten gar nicht hier haben. Denn er hatte 1902 schon versucht, nach seiner Jerusalem-Reise hier in Arendsee Fuß zu fassen und ein Sonnen- und Brausebad zu gründen. Aber das ging pleite, weil ja die Leute nicht zu ihm kommen konnten in die Heilanstalt, denn das war ja anstößig. Wer konnte denn da schon hingehen? Doch nicht die Arendseer!"
Tausende Zuhörer
Nach einer lebensbedrohlichen Schwindsucht wendet sich Nagel der Naturheilkunde zu, er geht, mittlerweile entmündigt, auf Wanderschaft. Spricht vor tausenden Zuhörern. In einer Annonce wirbt er so dafür:
"Am besten heilt dich die Natur, folgst du mit Gott ihrer Spur. Komm zu mir, ich zeig sie dir."
"Er hielt Vorträge, in Berlin, da ging er natürlich zu Fuß hin, über Rathenow, hatte in Berlin Unterkunft genommen im Februar 1902, ging barfuß über die Friedrichstraße, barfuß im tiefen Schnee. Und nahm dem Pastoranden die Konfirmanden weg. Darüber war der sehr ärgerlich, ging zur Polizei, hat ihn angezeigt. Die Polizei musste kommen und musste Gustaf Nagel praktisch wegsperren. Damit der Pastor Ruhe hatte und seine Konfirmanden wieder."
Die Literaturwissenschaftlerin und Lebensreform-Forscherin Christiane Barz.
"Auf
seinen Predigtreisen hat er, so ist es überliefert, von Obst- und
Gemüsespenden gelebt und im Heu geschlafen, aber er hatte auch
sozusagen Autogrammkarten und jede Menge Postkarten, die er auflegte
und verkaufte, die sein alltägliches Leben in seinem Paradiesgarten am
Arendsee gezeigt haben…"
"Der Paradiesgarten" von Gustaf Nagel in Arendsee. (Deutschlandradio / Thilo Schmidt)
Der Paradiesgarten. 1910 unternimmt Nagel einen zweiten Versuch, in Arendsee ein Sonnen- und Brausebad zu errichten. Er kauft ein Seegrundstück, auf dem er unter anderem einen Seetempel mit Tempelgrotte errichtet. Reste davon stehen noch, das Grundstück pflegen Christine Meyer und der Gustav-Nagel-Förderverein.
"…und dieses hier ist noch original von Gustaf gemauert worden. So einfach ist das gemauert. Ich hab mal den Sohn gefragt: Was hat denn dein Vater hier zum Mauern genommen? ´Ja, Sand vom See`. Und das hält alles. Das steht über 100 Jahre und hält noch."
Mit seiner Frau und den drei Kindern lebt Gustaf Nagel auf kleinstem Raum in einer Holzbaracke auf dem Grundstück. Die Einfachheit erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Auch auf seine Schreibweise, die stark vereinfacht und ausspracheorientiert war.
"Das lange ´i` hat Gustaf Nagel weggelassen. Warum soll man ein ´e` dort noch schreiben? Man hört es doch gar nicht. Das stumme ´h` – hat er auch weggelassen. Das hört man nicht, das braucht man nicht zu schreiben. Er hat alle Substantive kleingeschrieben. Und daran hat er eben gearbeitet. ´Schreibe, wie du sprichst` war sein Motiv, und er hat so geschrieben, wie er sprach. Also Kwelle mit ´kw`. Man hört doch ´Kw`, also schreibt man das auch."
Größter Anziehungspunkt der Altmark
Trotz aller Bemühungen der Behörden, Nagel für verrückt zu erklären und sein Wirken zu diskreditieren, wird sein "Paradiesgarten" zum größten Anziehungspunkt der Altmark, sagt Christine Meyer, und Nagel zeitweise zum größten Steuerzahler Arendsees.
In Zeiten großer Unsicherheit hatten die Wanderprediger, Barfußpropheten und Jesusimitatoren den größten Zulauf. Die Menschen suchten und fanden Halt bei den "Inflationsheiligen", wie manche von ihnen im Nachhinein – abwertend – genannt wurden. Christiane Barz.
"Bei den Inflationsheiligen war das sehr stark religiös aufgeladen. Also die Vorstellung, dass die Zivilisation in einen apokalyptischen Abgrund führt und die Menschheit daraus errettet werden müsste durch diese ganz spezielle Imitatio-Geste. Also die sahen alle ja auch sehr jesusmäßig aus, mit langen Haaren, Bart und in Tücher gewandet, also das war eine diesseitige Erlösungspraxis.
Friedrich Muck-Lamberty zum Beispiel, der sich hat feiern lassen und mit seiner Jüngerschar durch die Lande gezogen ist und der auch das praktiziert hat, was wir heute Polyamorie nennen würden – was damals Haremswirtschaft genannt wurde – ja, das war ein manipulativer Zugriff auf seine Anhängerschar, so dass es einige Frauen gab, die mit ihm den 'deutschen Heiland' gebären wollten. Und damit geriet dann die Bewegung in Misskredit. Aus guten Gründen."
Gusto Gräser – Prophet oder Verrückter?
In den 50er-Jahren trifft der Student Herrmann Müller zusammen mit einem Freund in München auf Gusto Gräser, in einem Café nahe der Technischen Hochschule.
Herrmann Müller: "Und man sah auf den ersten Blick, das ist mindestens ein Original, vielleicht aber auch ein Prophet, oder aber auch ein Verrückter. Das war schwer zu sagen. Ja?"
In diesem Moment ändert sich das Leben von Herrmann Müller fundamental.
"Also wir waren einfach sprachlos, nach dieser Begegnung. Als wir rausgingen, hatten wir das Gefühl, wir haben zum ersten Mal einen Menschen gesehen. Einem Menschen begegnet. Weil er so völlig anders war. Auch die Sprache. Der hat gesprochen, so wie man eigentlich nur mit sich selber spricht, oder in Träumen. Also diese ganzen Konventionen des Benehmens oder des Sprechens, die waren bei ihm nicht vorhanden. Die waren weg. Und insofern kam man da in einen Freiraum des Denkens und des Menschlichen, das man sonst normalerweise gar nicht erfährt."
Herrmann
Müller sitzt an seinem Küchentisch im Nordschwarzwald. Müller erzählt,
ihm sei bei der Begegnung mit Gusto Gräser sofort klargeworden, dass er
sein Studium an den Nagel hängt. Und denselben Weg gehen wird wie der
Dichter und Naturprophet Gusto Gräser, der als Vater der
Alternativbewegungen auch Hermann Hesse, Ernst Bloch, Thomas Mann und
andere inspirierte. Gusto Gräser, markantes Gesicht mit tiefen Furchen,
ein Bart wie Karl Marx, Hermann Müller sieht Gusto Gräser auffallend
ähnlich. Ein Wiedergänger Gräsers, nicht nur äußerlich.
Gräser war Mitbegründer der Reformsiedlung auf dem "Monte Veritá" im Tessin, wo er anfänglich auch lebte. Wo die Kinder aus den Dörfern vor ihm auf die Knie fielen. Die Kommunarden tanzten nackt in der Sonne, ernährten sich vegetarisch. In den 1920er-Jahren Europas verrücktester Ort seiner Zeit. Gräser ging auf Wanderschaft quer durch Europa, das geprägt war durch Industrialisierung und Materialismus.
"Wenn man also diese Entwicklung umdrehen will, dann muss man auf die geistigen Wurzeln zurückgehen, und die liegen eben in dieser Tradition. Darum geht er weiter als die ganze übliche ökologische alternative Bewegung. Er geht auf diesen, sagen wir, religiösen Grund zurück. Und insofern ist er als Prophet anzusprechen. Weil er da ein Gegenbild aufgerichtet hat. Das ist im Grunde eine Heuchelei und eine Täuschung und ein Doppelleben, dass man so tut, als befinde man sich noch im christlichen Abendland als das, was unser Tun bestimmt. Nein, diese Lüge will er nicht mitmachen, will aber auch nicht im Anti stehen bleiben, sondern ein Gegenbild, ein poetisches Gegenbild – er ist ja Dichter – aufrichten."
Gusto Gräser. Wahlspruch | ||
"Treu mir selbst, dem guten Geiste, der in meinem Leibe wohnt, der mit göttlich hoher Freude jede gute That mir lohnt." Treu dem Weiser, dem Gewissen, das mir immer Antwort sagt, dass sich nicht in Wurmes Weise meine Seele krümmt und plagt. Unerbittlich treu dem Führer, der im Geist mich überschwebt, der mit seines Geistes Stärke meine Seele neu belebt." | ||
Wien, 10. Mai 1898. |
"Er hat ja immer betont, jeder muss seinen eigenen Weg finden. Das Selbst steht bei ihm im Mittelpunkt, die Selbstbestimmung, die Selbstfindung. Deshalb hat sich ja auch um ihn keine Gemeinde gebildet. Weil er keine Gemeinde wollte! Er meint, wenn der Einzelne sich wirklich aus der Tiefe entfaltet, dass er dann in die Gemeinschaft und sogar in den Kosmos hineinwächst. Dass der Kern des Menschen mit dem Ganzen verbunden ist. Und wenn der einzelne seinen Kern findet, findet er auch zum Ganzen."
Heute würde man Gusto Gräser vielleicht als Utopisten bezeichnen. Herrmann Müller wird, darauf angesprochen, beinahe böse.
"Nein, also von Utopie würde ich da überhaupt nicht reden, das ist völlig unsinnig. Es ist zunächst ein Gedanke, ja? Eine Idee. Dass natürlich das Himmelreich nicht auf Erden kommt, das war dem Gusto Gräser völlig klar. Er hat gerade diese Illusion immer bekämpft, die auch bei den Lebensreformern und auch anderen natürlich weit verbreitet war. ´Man könne das Paradies auf Erden wieder herstellen oder erzeugen.` Das hat er für kindische Babyfantasien gehalten. Im Gegenteil: Er war der Meinung, das Leben wird immer Kampf sein und Not sein, und der Glaube an einen ewigen Frieden ist Illusion. Insofern war er Gegenutopist. Das sind Utopien. Zu glauben, ob politisch oder sonst wie könne man das Reich Gottes oder das Paradies der Arbeiterklasse oder sonstige Paradiese herstellen. Dagegen ist er gerade aufgetreten!"
Anfeindungen, Verhaftungen und zum Tode verurteilt
Die Machthaber bekämpfen Gräser. Anfeindungen und Verhaftungen sind die Regel. Gräser wurde aus Sachsen ausgewiesen, aus Baden und Bayern je zwei Mal, in Österreich zum Tode verurteilt. Dabei strebte er nicht nach Macht, auch wenn ihm das Missionarische nicht fern lag.
"Ja; das liegt eben auch an seiner Denkweise. Er war ja stark auch von Laotse beeinflusst. Und das taoistische Ideal ist es ja gerade, unerkannt zu bleiben, die Spuren zu verwischen. Die stellen sich nicht in den Vordergrund. Und die wollen auch keine Macht erobern. Die wollen unten bleiben. So wie das Wasser, das Hauptsymbol im Taoismus ist ja das Wasser, das immer nach unten fließt. Nicht nach oben, immer nach unten. Also er ist in diesem Sinne den Weg nach unten gegangen. Auch sozial, praktisch als Bettler aufgetreten. Ja? Und nicht eben als derjenige, der eben die Welt erobern will, sei es nun materiell oder ideologisch."
Der Heiland, er kam. Und das ist die tragischste Ironie der messianischen Heilserwartung dieser Zeit. Denn er kam in Gestalt von Adolf Hitler. Und führte nicht zur Erlösung, sondern in den Untergang. Der ein oder andere Lebensreformer suchte nach 1933 Kontakt zu den Nationalsozialisten. Gusto Gräser indes wurde von den Nationalsozialisten mehrfach verhaftet, flüchtete von Berlin, wo er sich zuletzt aufhielt, nach München, wo er den Krieg auf Dachböden versteckt überlebte. Dort starb er 1958 völlig vereinsamt.
Gustaf Nagel wurde ins Konzentrationslager Dachau verbracht. Mehrfach wurde er, zuletzt nach Gründung der DDR 1950, in die Nervenheilanstalt Uchtspringe eingeliefert. Dort starb er 1952.
Wirtschaftswunder ohne Heilsprediger
Westdeutschland nach 1949: Die Zeit des Wirtschaftswunders brach an, des großen Aufbruchs und der Restaurierung althergebrachter gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen. Das sind nicht die Zeiten für Lebensreformer, Wanderprediger und Heilsbringer.
Bartz: "Ich glaube, die Zeit war dafür nicht mehr da, weil es dieses Erlösungsbedürfnis nicht mehr gab. Also diese unmittelbare Krisenerfahrung war weg, und diejenigen, die noch an diesen, ja, jetzt etwas aus der Zeit gefallenen Lebensentwürfen festhielten, die waren dann einfach nur noch schrullige Sonderlinge."
Aber die Zeiten haben sich
geändert. Man nimmt die Naturzerstörung wahr, den Klimawandel, die
Krisen der Welt und die Unbeherrschbarkeit der globalen Umwälzungen –
und sucht wieder nach Wegen in eine bessere Zukunft und heilere Welt.
Da keimt manches wieder auf, was vielleicht Erlösung verspricht.
Vegetarismus und Bio-Landbau sind längst Lifestyle, Freikörperkultur,
Naturheilkunde oder Polyamorie sind in ihren jeweiligen Nischen
gesellschaftsfähig – aber eine ganzheitliche Reformbewegung von der
Tiefe wie einst...?
Das "Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung" (Zegg) bei Bad Belzig. (imago/HiPi)Bad
Belzig, südlich von Berlin. Auf einem ehemals von der Staatssicherheit
genutzten Areal befindet sich seit 1991 das "Zentrum für experimentelle
Gesellschaftsgestaltung".
Stützel: "Also wir haben sozusagen einen großen Betrieb, der getragen wird von der Zegg gGmbH, also eine gemeinnützige GmbH, und die stellt eben die Menschen an, die eben für die Aufrechterhaltung des Seminarbetriebs notwendig sind. Also für Empfang, Buchhaltung, Küche, Gelände, Aufbau, Gebäudeinstandhaltung. Also alles, was wir tatsächlich brauchen, stellen wir dann auch an. Und das ist natürlich toll, dass das Arbeitsplätze sind, die wir selber auch ausfüllen können."
Ein Ökodorf, auf dem gut 100 Menschen leben und arbeiten. Mit eigener Holzhackschnitzelheizung und Pflanzenkläranlage. Der gesamte Platz gehört dem Zegg, einer gemeinnützigen GmbH. Jeder Bewohner ist gleichzeitig Mieter und Vermieter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. In der Küche, im Seminarbetrieb, in der Schlosserei, im Landbau. Das Zegg trägt sich durch Bildungszentrum und Seminare selbst, erklärt Bewohnerin Barbara Stützel, die über das Gelände führt.
"Ja, wir bieten ziemlich viele Seminare an, weil das, was wir mit uns erforschen, entdeckt haben, auch weitergeben wollen. Wie Kommunikation gut funktioniert, wie man einen Gemeinschaftsaufbau betreibt, auch das was wir im Bereich von Beziehungen, Kommunikation und so was an Methoden entwickelt haben, wie das Forum, zum Beispiel, das geben wir auch weiter. Und viele Menschen kommen her, weil sie eben auch diesen ganzheitlichen Zugang lieben, also weil sie auch merken, hier ist ein Platz, da kann ich einfach erst mal sein, wie ich bin und tatsächlich in mir gucken, was ist das, was ich wirklich will."
Intime Kommunikation und emotionale Transparenz
Wir gehen in eines der Häuser auf dem Gelände. Und treffen dort zwei weitere Bewohner. Eine von ihnen ist Almut Gröger, die seit 1993 im Zegg wohnt.
Gröger: "Also ein Slogan, der mir sofort einfällt: Ein anderes Leben ist möglich. Also ein Leben jenseits von Kleinfamilie, von nem Acht-Stunden-Arbeitstakt, wo ich dann nach Hause fahre in meine kleine Wohnung, ein anderes Leben auch, wo ich visionieren kann, wo ich von da, wo wir jetzt stehen, auch noch einen geistigen, freien Raum habe, zu visionieren, wohin es noch gehen könnte. Gesellschaftlich, auf die Gesamtgesellschaft geschaut, aber auch ganz persönlich. Und dass es ein Platz ist, an dem das persönliche Wachstum auch gefördert wird. Wo jeder einzelne für sich seinen Weg, ihren Weg sucht."
Gröger spricht von intimer Kommunikation und emotionaler Transparenz, von Kunst, Eros und Natur. Ein Stück weit extrem sei das Leben, das sie sich im Zegg ausgesucht habe, weil es alle Bereiche miteinander verbindet. Die Bewohner des Zegg, das sich gleich nach der Wende gründete, leben in den verschiedenen Häusern auf dem Platz. Kommen im Restaurant zum veganen Essen zusammen, gekocht von Mitbewohnern, die zugleich Angestellte des Zegg sind.
Das Zegg ist ein Ökodorf, mit Bio-Landbau und Solaranlagen. Ein Hauch Esoterik liegt in der Luft. Auch wenn die Lebensreform kein Massenphänomen mehr ist und die Bewohner des Zegg alles andere als Propheten-Popstars sind: Das alles kommt dem Wesen der Lebensreform nahe. Die Bezugnahme darauf ist jedoch nicht ungebrochen, sagt Georg Lohmann, Gründungsmitglied des Zegg.
"Ich bin auch, könnte man sagen, Repräsentant des ganz
schwierigen Verhältnisses der Lebensreformbewegungen zu den politischen
Gegebenheiten der Zeit. Mein Großvater war relativ engagierter und auch
bekannter Wandervogelführer oder -leiter, und mein Vater stand in
dieser Tradition und war gleichzeitig viele Jahre seines Lebens
überzeugter Nationalsozialist. Das ist historisch gesehen teilweise
eine sehr, sehr schwierige Liaison gewesen, die Lebensreformbewegung.
Hitler
war, wie man weiß, Vegetarier, und hat der Anthroposophie und der
Heilkunde durchaus einiges abgewinnen können, und so ist in meiner
Wahrnehmung die Bezugnahme auf die Lebensreformbewegung auf jeden Fall
nicht ungebrochen. Sie darf nicht ungebrochen sein."
Was bleibt?
Die Lebensreformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts geriet in Misskredit, weil sie sich zum Teil von der Natur-Mystik der Nazi-Bewegung angezogen fühlte. Gibt es trotzdem Wirkungen aus der frühen Zeit, die noch heute spürbar sind? Was bleibt – nicht von verrückten polyamoren Haremswirtschaftenden, sondern von Leuten wie Gusto Gräser oder Gustaf Nagel?
Lohmann: "Tatsache ist, dass bei allen Schattenseiten aus dem, was so Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist und unter diesem Sammelbegriff der Lebensreformbewegung zusammengefasst werden könnte, dass da sehr vieles, dass da sehr vieles sehr wirkmächtig geworden ist, durch die Jahrzehnte. In gewisser Weise sogar mehr als das mit den kommunistischen Aufbrüchen nach dem Zweiten Weltkrieg oder selbst in der 68er-Bewegung passiert ist. Ist jetzt mal ne gewagte These, aber meine Interpretation ist, dass ich oft erstaunt bin, wie viel von dem noch in gewisser Weise hält. Und gesellschaftliche Praxis geworden ist."
Bartz: "Ich glaube, der große Unterschied ist der, dass dieser Pioniercharakter, die Vorstellung, dass man sich auf ein noch unbetretenes Experimentierfeld begibt, dass es den nicht mehr gibt. Und das, glaube ich, macht einen großen Unterschied im Selbstverständnis aus. Man muss sich vorstellen: In den 20er-Jahren, wo die Lebensreformbewegung aufkam und die Wanderprediger unterwegs waren, dass da die Grenzen des Üblichen sehr eng gesteckt waren. Und dass es viel Entdeckerlust, Experimentierlust gegeben hat.
Und was uns immer auch heute einfällt – was weiß ich, ich lass mir einen Bart wachsen und ich ess nur noch Avocados oder so – wenn einem das einfällt, gibt es sofort 'ne Gemeinde, die das praktiziert und die ihre eigene Facebook-Gruppe hat. Also die Vorstellung, sich wirklich auf Neuland zu begeben, die wird man sehr schwer umsetzen können."
Deutschlandradio © 2009-2017