Aus: Hugo Ball (1909-1926)
Schriften zum Theater, zur Kunst und Philosophie

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Über Okkultismus, Hieratik und andere seltsam schöne Dinge

(15.11.1917)

Vor etwa zwei Monaten fand in Ascona ein Kongreß statt, dessen Sitzungen ein seltsames Publikum vereinigten. Niemand hätte dem kleinen Fischerdorf eine so interessante Fremdenkolonie zugetraut, wie sie sich hierbei in den einfachen, aber eleganten Landhäusern auf dem Monte Verità zusammenfand. Aber Ascona ist heute ein Hauptsitz von Vertretern und Anhängern der okkulten Wissenschaften, und so brachte der Kongreß des »Ordo Templi Orientalis« im August, wenn auch viele Gäste aus England, Österreich, Deutschland und Frankreich ausgeblieben waren, desto nachhaltigeres Leben in die ortsansässigen Zirkel.

Die Ziele des »O. T. O.« sind menschlich und klar. Er pflegt die Lehre der alten Freimaurer vom Memphis- und Misraimkult. Seine Absicht ist eine intensive Herzenskultur, gegründet auf Liebe, Güte und Freude. Er hat eine umfassende eigene Literatur geschaffen, deren Zweck es ist, eine höhere Lebensauffassung als die geltende materielle zu vertreten, und da der Orden mit Ausnahme der allgemeinen Menschenverbrüderung keinerlei Dogma hat, so zählt er heute bereits Hunderte von Initiierten in den deutschsprechenden Ländern.

Zeigen diese Tendenzen den Okkultismus auf einem sehr humanen und zeitgemäßen Wege, so erhielt dieser Kongreß eine Bestärkung seiner edlen Ziele durch eine Reihe Veranstaltungen der Zürcher Kunstschule des Herrn von Laban, die dem kleinen Ascona alle Ehre machten.

Seit Herr von Laban seine Tanzschule von München 1913 nach Zürich verlegt hat, hat sein Institut an Bewußtsein und Umfang des Studienplans sehr zugenommen. Die Laban-Schule ist heute in notwendiger Ausgestaltung ihres Grundgedankens weit über das hinausgewachsen, was eine Tanzschule herkömmlicher Art dem jungen Eleven zu bieten hat. Sie hat sich zu einem Institut entwickelt, das sich nicht nur die Ausbildung des Könnens, sondern schon die Erziehung zum Künstler angelegen sein läßt. Mit der Erziehung zur Persönlichkeit umfaßt sie das ganze Gebiet der Eurythmie. Es handelt sich nicht mehr um die Technik allein, sondern um die Kunstpädagogik, von der die Ausdruckskultur, in Tanz, Ton und Wort, nur der praktische Teil ist. Der Eleve soll neben der Pflege seiner geistigen und physischen Talente auch Gelegenheit erhalten, die Zusammenhänge seiner Kunst im rhythmischen und kulturellen Ganzen zu erfassen. Er soll sich nicht nur als Individuum, sondern als Teil im Kosmos und im Gesamtkunstwerke empfinden, und so erweist sich die Theorie der beiden leitenden Persönlichkeiten, R. von Labans und Mary Wigmans, als eine künstlerische Gemeinschafts- und Festspielidee von reichen und produktiven Möglichkeiten: die Schule wird zum Erziehungsinstitut großen Stiles, das dem Schüler einen moralischen Rückhalt und Werte mitgibt, auf denen er sein späteres Leben basieren kann. Ein solches Unternehmen erfordert nicht nur von seiten der Lehrer, sondern auch von seiten der Schüler eine Unsumme moralischer und physischer Arbeit, vor allem aber unbedingte Hingabe, und hierin ist der hohe Ernst begründet, der die Leistungen des Einzelnen und der Direktion bei ihren öffentlichen »Demonstrationsabenden« kennzeichnet. Hierin liegt die Werbekraft der Schule, die heute bereits eine ganze Anzahl markanter Persönlichkeiten in ihren mannigfachen Lehrfächern (Tanz, Gesang, Zeichnen, Film, Dekoration, Pantomime usw.) vereinigt. Und in eben diesem Ernste in der Disziplin ihrer Bestrebungen berührt sie sich mit den Idealen der Freimaurer. Selten wird man überzeugendere Ausführungen über den Ursprung des künstlerischen Ritus, der mimisch- theatralischen Kulthandlung und des hieratischen Tanzes gehört haben als in den Vorträgen R. von Labans, und selten wird man Kulttänze aus Altmexiko, Zentralafrika und dem Orient mit mehr intuitivem Erfassen haben tanzen sehen als in seiner Schule.

Das veranlaßt mich, besonders dreier Begabungen zu gedenken, die heute innerhalb dieser Schule Vorbildliches leisten.

Mary Wigman, die impulsive Erfinderin des »Tanzes an sich«, des von Musik und Rhythmus losgelösten absoluten Tanzes, dem jeder singuläre und kollektive Eindruck gleicherweise zu Geste und körperlichem Leben wird, hat die Tanzkunst zu einer tiefen Verinnerlichung geführt. Sie bringt alles Geistige auf eine rhythmische, körperliche Basis zurück, und dieser Charakterzug nicht zum wenigsten verbürgt der Schule eine beständige Verjüngung, Vereinfachung und starke Führung zur Mimik hin. Religiös gesehen ist Mary Wigman eine Rembrandt-Natur. Sie liebt die Mystik der Fläche, Hell, Dunkel, den Kontrapunkt der Farben und Komposition; die große, geniale Sprache, Verklärung der inneren Linie und das plötzliche Aufleuchten seelischer Komplexe. Ihr Muskelspiel hat einen männlichen, kriegerischen Akzent. Sie beherrscht eine Skala der Leidenschaften von sich selbst verzehrender Glaubensglut bis zu den Delirien alttoledanischer Feste. Und sie instrumentiert und drapiert ihre Passionen vom grellen Rot bis zum tiefen Schwarz mit allen starken, eindeutigen, plastischen Farben.

Raya Belensson ist Russin, Tartarin. Ihr Tanz ist strenger, religiös noch geschlossener. Er ist nicht von Passionen bestimmt, sondern von Überzeugungen. Slawisch-volkstümliche Elemente mischen sich in die Sprache einer Orthodoxie, deren Schrift nicht Liebhaberei, sondern Leben ist, so verschollen und fremd uns Westlern eine alte Kirchensprache, alte Kirchenmusik und ein orthodox geschriebenes Manuskript Dostojewskis berühren. Wenn sie Chopin tanzen würde, würde man den Slawen sehen, nicht den mißglückten Liebhaber der George Sand: Verhaltene und beherrschte Tränenstürze und den Stolz luxuriöser Demut. Mehr Leiden als Leidenschaft. Sonja Kowalewski und Maria Bashkirsew hatten von ihrem Blut. Liebt Mary Wigman die Plastik, die Fläche, so entspricht Raya Belensson die Linie, die Kante, der rechte Winkel. Alle Spitzfindigkeit der Rabulistik fängt sich an ihrem Körper. Nichts liegt ihr besser als die Geheimsprache liturgischer Zeichen. Wie keine zweite zeigt sie sich für den rituellen und hieratischen Tanz begabt.

Ganz anders wieder Sophie Täuber. Anstelle der Tradition treten bei ihr die Sonnenhelle, das Wunder. Sie ist voller Erfindung, Kaprize, Bizarrerie. In einer Zürcher Privatgalerie tanzte sie »Gesang der Flugfische und Seepferdchen«, eine onomatopoetische Lautfolge. Es war ein Tanz voller Spitzen und Gräten, voller flirrender Sonne und Glast und von schneidender Schärfe. Die Linien ersplittern an ihrem Körper. Jede Geste ist hundertmal gegliedert, scharf, hell, spitz. Die Narretei der Perspektive, der Beleuchtung, der Atmosphäre wird hier einem übersensiblen Nervensystem Anlaß zu geistreicher Drolerie, zur ironischen Glosse. Ihre Tanzgebilde sind voller Fabulierlust, grotesk und verzückt. Ihr Körper ist mädchenhaft klug und bereichert die Welt durch jeden neuen Tanz, den sie — geschehen läßt.