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Monte
Verità als
Experiment genossenschaftlicher Selbstorganisation |
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Eine
Untersuchung von
Gudrun Hofmann Inhaltsangabe Einleitung 1.
Vorbereitendes
Treffen in München
2. Auf der Suche nach dem geeigneten Ort 3. Erste Phase: Beginn und Freilagerzeit 4. Zweite Phase: Henri Oedenkoven und Ida Hofmann verfestigen ihre Position 5. Dritte Phase: Stetige Entwicklung zum kapitalistischen Unternehmen hin 6. Vierte Phase: Die letzten Versuche zur Rettung des Unternehmens 7. Fünfte Phase: Nach dem Auszug der Gründer II Genossenschaftliche
Selbstorganisation 1.
Die
Entwicklung des Genossenschaftsgedankens zur damaligen Zeit
2. Genossenschaftliche
Selbstorganisation auf dem Monte Verità
2.1.
Soziale
Organisation
2.1.1.
Soziale
Herkunft, Motivation, Weltanschauungen
2.1.2. Die Gruppenstruktur in ihrer Entwicklung 2.1.2.1. Anfangsvorstellungen und -umsetzung
2.1.2.2. Die unterschiedlichen Konzepte von Karl Gräser und Henri Oedenkoven 2.1.2.3. Die Freilagerzeit 2.1.2.4. Monte Verità als Sanatoriumsbetrieb 2.1.3.
Die
Stellung der Frau und der Kinder; freie Ehe
2.1.3.1.
Die
Stellung der Frau
2.1.3.2. Die Stellung der Kinder 2.1.3.3. Die freie Ehe 2.1.4. Auseinandersetzungsformen
und Ausleseverfahren
2.2.
Wirtschaftliche
Organisation2.2.1.
Standortwahl
2.2.2. Eigentumsverhältnisse 2.2.3. Finanzierung III Alternatives
Verhältnis zur Natur 1.
Die
Situation von Industrie und Technik zur damaligen Zeit (Deutschland
1870/71 bis
zum 1. Weltkrieg)
2. Die Lebensreformbewegung 2.1.
Naturheilkunde
2.2. Vegetarismus 2.2.1.
Die
vegetarische Bewegung
2.3.
Die
Nacktkultur2.2.2. Die Ideen des Vegetarismus 2.4. Die Sexualreform 2.5. Die Kleiderreform 2.6. Die Tanzkulturbewegung 3.
Die
Rezeption der Lebensreformbewegung auf dem Monte Verità
4. Das Verhältnis zu Natur und Technik auf dem Monte Verità 4.1.
Karl
Gräsers Vorstellungen und sein Leben
4.2. Die Entwicklung Henri Oedenkovens und Ida Hofmanns auf dem Monte Verità in Bezug auf Technik IV Einschätzung 1.
Zum
Scheitern des Projekts
2. Auswirkungen auf die Umwelt 2.1.
Regionale
Auswirkungen
3.
Bedeutung des Projekts in größerem
Bezugsrahmen2.3. Historische Auswirkungen Schluß
Die
antiautoritäre
Studentenbewegung, die noch die Verbindung von Theorie und Praxis,
Politik und
Moral wollte, zersplitterte sich in einzelne, recht unterschiedliche
Fraktionen. Die
marxistisch-leninistischen Gruppen mit streng zentralistischem Aufbau
begaben
sich in die Nostalgie der 20er Jahre, einer KP unter Thälmann, und
setzten die
Agitation der Massen über alle persönlichen Bedürfnisse. Es
entstanden
Guerilla-Gruppen, die den bewaffneten Kampf bereits in der jetzigen
Lage
propagierten und durch spektakuläre Aktionen von sich reden machten. Von
einigen Gruppen wurde
versucht, Vorstellungen von politischer und
persönlicher Emanzipation zu verwirklichen (in Rückbezug auf die
antiautoritäre
Studentenbewegung). Daraus entstand die sogenannte "Spontibewegung". Bereits
im SDS hatten
Frauen erkannt, daß die Männer zwar hohe politische Ziele anstrebten,
doch ihre
Frauen immer noch unterdrückten. So organisierten sie sich autonom in
der
Frauenbewegung. Dies sind die wichtigsten Strömungen, die sich
teilweise intern
leicht veränderten, doch im Wesentlichen auch heute noch so bestehen. In
Teilen der Sponti- und
Frauenbewegung war der Gedanke wichtig, daß man nicht nur auf das Ziel
Revolution hin leben wollte (und danach wird alles anders), sondern
jetzt schon
mit neuen Lebensformen beginnen wollte. Aus dem
Wunsch, nicht nur
linke Theorie, sondern auch Praxis zu machen (mit der Erfahrung im
Hintergrund,
daß man in Institutionen der Gesellschaft meist zur Anpassung gezwungen
wird),
und aus beruflicher Perspektivlosigkeit (Berufsverbote, hohe
Arbeitslosigkeit
auch unter Akademikern) schossen Alternativprojekte aus dem Boden. "Alternativ",
das hieß alternativ zu den bestehenden gesellschaftlichen Institutionen
(konkreter wurde dieser Begriff nie definiert). Man schuf Projekte, die
die
angestrebte Gesellschaft bereits in Ansätzen in sich bargen. "Die neue
Welt ist schon unterwegs" hieß die Parole. Es
entstanden in den
60erjahren: linke Buchläden, Druckereien, Verlage. Andere
Gruppe, die
spirituelle Ansätze hatten und sich an asiatisches Gedankengut
anlehnten,
bauten Naturkostläden, makrobiotische Restaurants, Meditations- und
Jogazentren
auf. Außerdem
entstanden
Nachbarschaftshilfegruppen, Kommunikationszentren für Jugend-liche,
Arbeitslosenselbsthilfeprojekte, Theater-, Musik-, Filmgruppen,
Autowerk-stätten,
wo der Kunde mit einbezogen wird, Mitfahrerzentralen, Frauenzentren,
-häuser,
-kneipen, -buchläden, -verlage, -zeitungen. Mit
zunehmender
Bewußtwerdung über die Bedrohung des Lebens durch Atomkraftwerke
entstanden im
Rahmen der Anti-AKW-Bewegung Gruppen, die sich mit alternativer
Technologie
beschäftigten und mit Möglichkeiten, Energie aus natürlichen Quellen zu
gewinnen. In
diesem Rahmen kamen
die ersten Landkommunegründungen auf, die sich vor allem auf die Ideen
der
amerikanischen Landkommunebewegung stützten. Aus
politischer
Resignation und (oder) dem Wunsch, hier und jetzt ein anderes Leben zu
leben,
begannen sie mit gemeinsamer Produktion und Reproduktion auf
Bauernhöfen,
Mühlen oder sonstigen Häusern in der Provinz. Eigentlich
kann man in
der BRD nicht von der Landkommunebewegung
sprechen, würde
dies doch gemeinsame Vorstellungen und Kommunikation untereinander
implizieren.
Dies findet eher zufällig als organisiert statt. Doch lassen sich
einige
angestrebte Zielvorstellungen, wie besonders aus den Publikationen
'Kompost',
'Grüner Zweig', 'Zero' (vgl. Literaturverzeichnis) hervorgeht,
herauskristallisieren, die mehr oder weniger in den bestehenden
Landkommunen
vorhanden sind: Gemeinsame
Produktion: Selbstversorgung
durch
Anbau landwirtschaftlicher Produkte, teilweise auch Viehzucht; Gemeinsame
Reproduktion: Bewußte
Ernährung, vor
allem Ernährung ohne chemische Zusatzstoffe, keine synthe-tischen
Nahrungsmittel, gesunde Kleidung, die den Körper nicht einengt und aus
natürlichem Material ist; Veränderte
soziale Beziehungen Abbau
von hierarchischen
Strukturen; Die
meisten Landkommunen
haben den Anspruch, in der Praxis vorzuleben, daß ein anderes Leben
möglich
ist. Sie sind kaum explizit nach außen politisch tätig (als
Landkommunebewegung). Viele
Kommunarden wirken
allerdings noch in der politischen Bewegung mit, vor allem in der
Ökologie- und
Frauenbewegung. In
dieser Arbeit geht es
jedoch nicht um die aktuelle Landkommunebewegung, sondern um ihre
historischen
Vorläufer. Diese sind fast gänzlich unbekannt, sicherlich auch weil
einige
Siedlungen sich ab 1933 in die faschistische Ideologie integriert
haben, bzw.
ihre Entwicklung mitgetragen haben (Arierkult, völkische Erneuerung). Gerade
deshalb aber ist es wichtig, die eigene Geschichte zu kennen. Ich
möchte
exemplarisch einen Vorgänger untersuchen, die Siedlung Monte Verità.
Sie trägt
die Züge der damaligen Bewegungen und Ideen, die ebenso aufgezeigt
werden
sollen. Monte Verità ist nach 20 Jahren endgültig gescheitert. Doch
bereits
vorher wurden von den Ansprüchen und Ideen große Abstriche gemacht.
Hier will
ich untersuchen, welche sozialen und ökonomischen Bedingungen dazu
geführt
haben und inwieweit dieses Projekt eine Alternative zur damaligen
Gesellschaft
gebildet hat. Ich habe
hierbei viel Wert auf den
persönlich-informellen Bereich gelegt, da es Subjekte
sind, die die Geschichte machen. Die Wissenschaft hat in letzter Zeit
die
Wichtigkeit dieser Bereiche erkannt, doch hat die Soziologie noch keine
Kategorien dafür bereitgestellt. Die
Siedlung Monte Verità
besteht in sehr veränderter Form heute noch und ist ein kulturelles
Zentrum der
Oberschicht in der Schweiz. Vor allem spiritistische Ideen werden hier
praktiziert. Ich beschränke mich in dieser Arbeit auf die Phase bis
1920, wo
die Gründer aktiv waren. Sie waren in ihren Ideen und Vorstellungen am
radikalsten. Später wurden hier reine Geschäftsbetriebe errichtet. Der
Gedanke, ein anderes
Leben ohne die gesellschaftlichen Zwänge zu führen, ist nicht neu. Mit
zunehmender Industrialisierung löste sich das kommunale Leben in den
Dorfgemeinschaften auf. Der arbeitslose Bauer oder Handwerker war
gezwungen, in
die Stadt zu gehen, wo er sich bessere Arbeitsbedingungen und
Verdienstmöglichkeiten erhoffte. Doch in den Städten gab es zunehmende
Verelendung, denn die Unternehmer mußten aus Profitgründen die Ware
Arbeitskraft möglichst billig halten. Zunehmender Alkoholismus,
Krankheiten,
Unterernährung, Bodenspekulation entfachten eine breite Bewegung, vor
allem in
den Mittelschichten (vgl. Krabbe), die Lebensreform-bewegung,
die sich zum Ziel gesetzt hatte, diese Übelstände mittels Reform zu
verbessern. Auch in
den Bereichen der
Intellektuellen gab es vielseitigen Protest gegen die Gesellschaft. Auf
dem
Lande entstanden Ansiedlungen von Leuten, die sich in ihrer Ablehnung
der
Gesellschaft einig waren und ein neues Leben beginnen wollten. Einer
der ersten
Siedlungsversuche Deutscher war der Monte Verità in Ascona (neben der
Obstbaugenossenschaft Eden, die um 1900 begann). Die
Ansiedler hatten den
Wunsch, ihr Leben radikal zu verändern und mit ihrer Siedlung auch
Vorbild und
Möglichkeit für andere zu sein. Schon ihr Aussehen erinnert an
Landkommunarden
von heute (bes. denen in USA): lange Haare, weite Kleidung, die Männer
lange
Bärte (vgl. Bilder in Landmann, Mühsam, Flach, Rieß usw., außerdem
aktuell in
'Kompost'). Auch ihre Idee, ihre Idee, ein ganz neues Leben anzufangen,
weil in
den bestehenden Machtstrukturen kein freies Leben möglich ist, ebenso
der
Wunsch, in Harmonie mit der Natur zu leben, lassen Assoziationen zu
heute
aufkommen. Zwei
Schwerpunkte sollen
betrachtet werden: Genossenschaftliche
Selbstorganisation Genossenschaft
wird im allgemeinen definiert als
"Zusammenschluß
gleichgesinnter Personen (Genossen) zur Erreichung eines gemeinsamen
Ziels
durch Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung."
(Fischer-Lexikon, S.2142) Inwieweit
die Siedlung im
Laufe ihrer Entwicklung von der genossenschaftlichen Selbstorganisation
abweicht ist Untersuchungsgegenstand. Alternatives
Verhältnis zur Natur Um das
alternative
Verhältnis zur Natur definieren zu können, ist es notwendig, das
bestehende zu
beschreiben: Die
westliche
Zivilisation beansprucht die Herrschaft über die Natur. "Der moderne
Mensch erfährt sich nicht als Teil der Natur, sondern als eine von
außen
kommende Kraft, die dazu bestimmt ist, die Natur zu beherrschen und zu
überwinden." (Schuhmacher, S. 12) Die
Natur wird vorrangig
als Rohstoffquelle betrachtet und mit ihrer Ausbeutung zerstört. Heute
wird
dies durch die ökologische Krise in Frage gestellt. Die zunehmende
Kritik an
der westlichen Zivilisation zeigt sich auch darin, daß viele religiöse
und
kulturelle Vorstellungen der östlichen Länder ihre Anhänger finden,
z.B.
Buddhismus, Joga, Vegetarismus, Meditation. Als
angestrebtes Ideal
sollen menschliche und nicht-menschliche Natur in herrschaftsfreiem
wechselseitigem
Verhältnis zueinander stehen, in der Einsicht, daß beide von einander
abhängig
sind. Inwieweit dies für die Monte Veritaner zutrifft, wäre zu
untersuchen. Allgemeinphilosophische
Theorien zum Verhältnis Mensch - Natur - Gesellschaft wären zwar
notwendig,
doch würden sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Vorgehensweise Im 1.Kapitel werde
ich einen Überblick über
Entstehung und Verlauf der Siedlung Monte Verità geben. Ein solcher
Überblick
existiert bisher nicht, ist aber notwendig, um Einzelprobleme zu
verstehen.
Deshalb wurde er an den Anfang gestellt. Unvollständige Angaben ergaben
sich
durch die Art der Primärliteratur (Romane - vgl. S.8 ff.). Der
Überblick ist
relativ ausführlich, damit die Analyse der informellen Strukturen eine
bessere
Basis hat. Des weiteren
soll dadurch auch die
Atmosphäre dort besser veranschaulicht werden. Im 2.Kapitel wird die
genossenschaftliche
Selbstorganisation untersucht. Und dem einen Rahmen zu geben, wird die
Genossenschaftsbewegung der damaligen Zeit im Verhältnis zu ihren
historischen
Bedingungen dargestellt. Die Untersuchung der Organisation des Monte
Verità
erfolgt unter den wirtschaftlichen und sozialen Aspekten ihrer
Entwicklung bis
1920 hin. Im 3.Kapitel geht es
um das Verhältnis zur
Natur. Wiederum in Bezug zur damaligen Zeit wird auf die
Lebensreformbewegung
in Ideen und Ausführung eingegangen, sowie auf die Rezeption dieser
Bewegung
auf dem Monte Verità. Schließlich wird das Verhältnis zu Natur und
Technologie
anhand zweier kontroverser Vorstellungen auf den Monte Verità
betrachtet. Im 4.Kapitel sollen
Gründe für das Scheitern
der Siedlung näher erörtert werden, sowie die Reaktionen der Umwelt auf
das
Projekt. In diesem Zusammenhang soll eine Einschätzung
der hier betrachteten Bewegung gegeben
werden. Im
Schlußteil
werden die Berührungspunkt
des Monte Verità mit der
zeitgenössischen Landkommunebewegung dargestellt. Hier soll näher
darauf
eingegangen werden, ob die Kerngedanken des Monte Verità in der
zeitgenössischen Landkommunebewegung mit historisch bedingten
Veränderungen
wieder auftauchen. Ein Anhang enthält die
von mir
zusammengestellten Biographien der Gründer, die zum Verständnis
notwendig, aber
in der Literatur nicht vorhanden sind. Außerdem die 'Provisorischen
Statuten
der vegetabilischen Gesellschaft des Monte Verità' und andere
Dokumente. Auch
diese waren in der Liteartur nicht vollständig vorhanden. Ich habe sie
von
Harald Szeemann erhalten, der eine Ausstellung über den Monte Verità
plant. I
Überblick über
Entstehung und Verlauf der
Siedlung Monte Verità "Zuerst
kamen die
Vegetarier, die Grasfresser, die in weißen Hemden herumgingen und ihren
Acker
bebauten. Dann kamen die Gottsucher jeder Art. Astrologen, Gesundbeter,
Buddhisten, die auch eine Erneuerung der Welt - aber von der Seele her
- wollten.
Wie die Urmönche der Wüste suchten sie die Einsamkeit von See und Fels,
um mit
dem Rätsel des Daseins zu ringen. Dann kamen die Verherrlicher des
Lebens: die
Maler, Bildhauer, Dichter, Architekten - insbesondere solche, die
anderswo ihr
Leben nicht mehr fristen konnten. Unter
dieser unermüdlichen Sonne
trugen sie auch die
bittersten Entbehrungen leichter. Zuletzt kamen die Millionäre." (Wilhelm
Schmidtbonn, zit. nach
Riess, S.12)
1.
Vorbereitendes Treffen in München Im
Oktober 1900 trafen
sich in München einige Leute in der Wohnung von Ida Hofmann: sie
selbst, Henri
Oedenkoven, Karl Gräser, Gustav Gräser, Jenny Hofmann, Lotte Hattemer. Es "...
beseelte
mehr oder weniger fast alle ein gleiches Verlangen nach Verlassen der
veralteten gesellschaftlichen Ordnung, besser Unordnung, zum Zwecke
persönlicheren Lebens und persönlicherer Lebensführung - nach
Freiheit."
(Hofmann, S.7) Oedenkoven
hatte bereits
einen Plan entworfen: Er wollte eine Naturheilanstalt gründen, "für
solche
Menschen, die in Befolgung einfacher und natürlicher Lebensweise
entweder
vorübergehend Erholung oder durch dauernden Aufenthalt Genesung finden
und sich
in Wort und Tat seinen Ideen, seinem Wirken anschließen wollen."
(Hofmann,
S.6) Gleichgesinnte
können
sich anschließen und finanziell beeiligen, so daß bei allgemeinem
Bodenbesitz
jede(r) persönliches Eigentumsrecht hatte und sich seine
Gebrauchsartikel
selbst herstellte. Für
später waren Mühlen,
Webereien, Fabriken vorgesehen, wo Produkte zur Befriedigung der
Bedürfnisse
hergestellt werden sollten, aber keine Luxusgegenstände. Diese sollten
auch
nicht zur Kapitalanhäufung da sein. Auch waren Schulen geplant (vgl.
Hofmann,
S.7). Die
Gruppenmitglieder besprachen
die Verwirklichungsmöglichkeiten
eines solchen Plans und diskutierten, ob die einzelnen dafür geeignet
seien, in
praktischer wie moralischer Hinsicht, wobei Oedenkoven und Hofmann
nicht
hinterfragt wurden. Dabei wurde Gustav Gräser nicht gewünscht; er
schloß sich
trotzdem an. Kommentar: Die Verfasserin
übernimmt hier unkritisch die Darstellung von Ida Hofmann in eigener
Sache. Aus
dieser Quelle stammt die allgemein akzeptierte Legende, Oedenkoven sei
der
allein maßgebliche Erfinder und Betreiber des Monte Verità-Projekts
gewesen.
Leider liegt eine Darstellung von
anderen
Beteiligen
nicht vor. Doch ergibt sich eine alternative Sicht allein schon aus der
Tatsache, daß Gusto Gräser bereits einer Art von Landkommune angehört
hatte,
nämlich der Kolonie 'Humanitas' des Malers und Sozialreformers
Diefenbach auf
dem Himmelhof bei Wien. Er war also der einzige unter den Beteiligten,
der
schon Erfahrung in alternativer und kommunitärer Lebensweise gesammelt
hatte.
Daß er seine eigenen Vorstellungen von einer Liebeskommune im
urchristlichen
und zugleich lebensreformerischen Sinne mitbrachte und auf seinen
Bruder
übertrug, liegt auf der Hand, sollte sich auch im Verlauf des
Unternehmens
deutlich genug erweisen. Tatsache ist also, daß sich zwei verschiedene
Konzeptionen alternativer Gemeinschaft von Anfang an gegenüber standen:
die der
Gräsers und die Oedenkovens. Aus eben diesem Grund und nicht nur aus
persönlicher Abneigung versuchte Oedenkoven seinen Antipoden Gusto
Gräser von
Anfang an auszuschließen. Dies gelang ihm nicht, weil er auf die
Mitarbeit und
Beteiligung von Karl Gräser angewiesen war. Er allein mit der einzigen
Anhängerin und Gesinnungsgenossin Ida Hofmann hätte eben keine Siedlung
schaffen können. Das Unternehmen stand also von Beginn an auf einem
oberflächlichen Kompromiß: jede der beiden Parteien war auf die andere
angewiesen und jede hoffte, am Ende ihre eigene Konzeption durchsetzen
zu können.
2. Auf
der Suche nach dem geeigneten Ort
Bezüglich
des Ortes für solch ein Projekt war man
sich einig, daß
es im Süden sein müßte, wo es warm war, schön war und viele Früchte
gab. So
trennte man sich und machte sich allein oder zu zweit, in
Reformkleidern, nur
mit Sandalen barfuß auf den Weg, um am Ufer eines oberitalienischen
Sees ein
Grundstück zu finden. Überall fielen sie wegen ihres Aussehens auf.
Besonders
Lotte Hattemer und Ida Hofmann, zwei Frauen allein, ohne Korsett, Hut
und
Handschuhe, mußten sich einige Belästigungen gefallen lassen. Je weiter
sie
nach Süden kamen, desto offener und aufgeschlossener wurden die Leute. In
Ascona, einem
Fischerdorf am Lago Maggiore, fanden sie den geeigneten Ort. "Dieser
Teil des
Tessins war vorbereiteter Boden für die Ödenkovenschen Ideen ...
Überall gab es
Abseitslebende. Künstler, Philosophen, Theosophen, Vegetarier,
politische
Flüchtlinge. Nicht in großen Mengen, im Gegenteil, nur ganz vereinzelt,
verstreut, aber doch genug, um einen Hauch des Besonderen, des
Bereiten, des
Empfänglichen über die Gegend zu legen." (Landmann, S.26) Sie
kauften am Monte
Monescia, der später in "Monte Verità" umbenannt wurde, dreieinhalb
Hektar steiniges, verwildertes Weidegelände.
Kommentar: Es waren
die Gebrüder Gräser, die das Gelände für den zukünftigen Monte
Verità entdeckten. Zunächst hatte man gemeinsam in der Gegend des Comer
Sees
gesucht - ohne überzeugenden Erfolg. Dann trennte man sich; die
Gräserbrüder
wanderten zum Nordufer des Lago Maggiore, warfen Anker in Monti della
Trinità
über Locarno. "Von
Karl Gräser kam eine begeisterte Nachricht: 'Hier findet man wirkliche
Menschen, auch langhaarige - und vegetarische Pensionen...' Da gab es
kein
Halten mehr!" (Landmann, S.21) Das
Trio Henri, Ida und Lotte schloß sich den Gräserbrüdern an, die in der
vegetarischen Pension des Ehepaars Engelmann bereits wie zu Hause
waren. In dem
slowakischen Arzt Dr. Albert Skarvan, einem Anhänger Tolstois, der
wegen seiner
Überzeugung aus der Armee ausgestoßen worden war, hatten sie einen
Gesinnungsgenossen und
Freund gefunden.
Auf Streifzügen in der Umgegend hatten sie den Monte Monescia über
Ascona
entdeckt, für tauglich befunden und sogleich den Ankauf in die Wege
geleitet.
Der Asconese Luigi Antognini, der in den 50er Jahren noch aus
inzwischen
verschollenen Quellen schöpfen konnte, berichtet: "Die
Gebrüder Gräser hatten Oedenkoven inzwischen mitgeteilt, daß sie auf
der
Collina von Ascona ein wunderschönes Terrain entdeckt hätten, das für
die
Anlage der Siedlung geeignet sei. Einige Tage später verließen alle
drei
[Henri, Ida und Lotte] die Pension in Monti della Trinità und begaben
sich nach
Ascona, wo sie von den Gräsers erwartet wurden. Sie hatten bereits
sowohl für
den Ankauf der Grundstücke die Wege geebnet wie auch für die Anmietung
eines
benachbarten Hauses, in dem sie sich provisorisch schon hatten
einrichten
können. Ohne
zu zögern gaben Henri und seine Begleiterinnen ihre Zustimmung zur Wahl
dieses
Platzes und zum Erwerb der Grundstücke. Sie lagen auf dem Gipfel des
Weinbergs
von Ascona, mit einem großartigen Ausblick über die ganze Gegend: auf das Becken des Sees,
bis hin nach
Italien, auf Locarno und das Magadino bis hin nach Bellinzona, auf
einen großen
Teil des Valle Maggia." (In Rezzonico, S.26) Geistig
vorbereitet für die Ansiedler war diese Landschaft und speziell der
Hügel von
Ascona durch die Theosophen von Locarno einerseits, die dort ein
theosophisches
Kloster hatten errichten wollen, durch Michael Bakunin und andere
Anarchisten
andererseits, die im Tessin eine Zuflucht und Sympathien unter der
Bevölkerung
gefunden hatten. Der Hügel von Ascona bot also nicht nur berückende
Aussicht,
er lag zugleich am Schnittpunkt von rauher Bergnatur und mondäner
städtischer
Zivilisation (in Locarno): Einsiedlerwildnis mit Kulturanschluß. Für
geistige
und politische Freiheit waren hier schon Brückenköpfe geschlagen.
3. Erste Phase: Beginn
und Freilagerzeit Schon
zu Beginn - kaum
hatte man mit der Urbarmachung des Landes angefangen - gab es
Auseinandersetzungen mit Gustav Gräser, der von Anfang an nicht
erwünscht
gewesen war. Er mußte trotz des Einspruchs von Karl Gräser gehen. Die
ersten Arbeiten
waren: roden, Wege bauen und Material zum Häuserbauen vorbereiten.
Männer und
Frauen arbeiteten dasselbe,
bis zu 12 Stunden am Tag.
Im Laufe des Winters kam ein sechster Gesellschafter hinzu: Fritz Röhl.
Er war
von Beruf Tischler und Glaser gewesen, "hatte die verschiedensten
Berufsphasen durchgemacht, seine Gesundheit dabei eingebüßt und sie
durch
Vegetarismus wiedergewonnen." (Hofmann, S.22) Er
hatte sich als
Autodidakt eine gute Allgemeinbildung angeeignet und wollte sein
Streben nach
Freiheit und Brüderlichkeit in einem genossenschaftlichen Unternehmen
verwirklichen (vgl. Landmann, S.38). Er als Praktiker brachte die
unbeholfenen
Amateure ein gutes Stück weiter. Trotzdem kam man ohne Hilfskräfte
nicht aus:
es wurden Arbeiter, Schreiner und Gärtner eingestellt. Im Sommer entstand ein reges Leben auf dem Berg:
Viele Neugierige besichtigten gegen Eintrittsgeld die Siedlung.
Außerdem kamen
aus allen Schichten Menschen, die selbst ein anderes Leben führen
wollten.
"So bevölkerte sich Ascona und sein Berg mit allerlei Volk, das sich
zum
großen Teil aus überspannten und verschrobenen Sonderlingen
zusammensetzte. Es
kamen aber auch tüchtige, ernsthafte, selbständig denkende Leute."
(Landmann, S.42) Es
bildete sich eine Art
Freilager, der "Eindruck einer kommunistischen Kommune" (Landmann,
S.43 f.) entstand, Fritz Röhl hielt in seiner halbfertigen Hütte
Vorträge über
Weltanschauungsfragen. Viele arbeiteten für ein bescheidenes Essen und
Nachtlager. Für Ida Hofmann und Henri Oedenkoven war dies vor allem ein
großes
Durcheinander. "Die
Vereinigung so
vieler verschiedener Elemente verursachte eine heillose Unordnung auf
unserem
Berge. Die meisten tun nicht das Notwendige zur Förderung des Zweckes,
sondern
ungefähr genau das, was ihnen beliebt" (Hofmann, S.32). Dagegen
entsprach
diese Art von Zusammenleben viel eher den Ideen von Fritz Röhl und Karl
Gräser. Oedenkoven
und Hofmann
gingen auf Reisen (zu Fuß) und schauten sich kulturelle Veranstaltungen
an,
sowie andere Naturheilanstalten. Nach
ihrer Rückkehr
brachen die Meinungsverschiedenheiten zwischen Karl Gräser und ihnen
(Fritz
Röhl war schon vorher gegangen) vollends auf. Karl Gräser und Jenny
Hofmann,
die inzwischen sich, wie Henri Oedenkoven und Ida Hofmann auch, in
freier Ehe
(ohne kirchliche oder staatliche Bestätigung) zusammengeschlossen
hatten, zogen
nach größeren Streitigkeiten aus und siedelten sich auf einem
benachbarten
Grundstück an. Lotte
Hattemer war in
immer mehr Weltfremdheit und eine Art religiösen Wahnsinns verfallen
und kam
kaum noch in Betracht (vgl. Landmann, S.53). So konnten Ida Hofmann und
Henri
Oedenkoven nun ungehindert ihre eigenen Vorstellungen verwirklichen. Kommentar: Mit
Beginn der praktischen Umsetzung konnte es keine Vernebelung der
unterschiedlichen Positionen mehr geben, nun mußte die Entscheidung
fallen:
Liebesgemeinschaft oder Wirtschaftsunternehmen. Gusto Gräser, der keine
Geldmittel hatte einbringen können, mußte dem notariell eingetragenen
Besitzer
des Ganzen weichen. Oedenkoven machte von seinem Hausrecht auch gegen
den
Widerstand von Karl Gräser Gebrauch. Damit war die Gemeinschaft im
Prinzip
schon aufgekündigt, der ursprüngliche Sinn des Projekts aufgegeben. Was
blieb
war ein Privatunternehmen des Ehepaars Hofmann-Oedenkoven. Zugleich
wird die Unvereinbarkeit der beiderseitigen Vorstellungen in aller
Deutlichkeit
sichtbar. Nachdem
sich mit dem
Handwerker Fritz Röhl ein
weiterer Gesellschafter angeschlossen hat, der sich jedoch auf die
Seite von
Karl Gräser schlägt, bildet sich "ein wahres Freilager" von Suchenden,
Bewunderern und Durchziehenden auf dem Berg. Ida Hofmann sieht mit
Grausen eine
"kommunistische Kolonie" sich entwickeln: "Allen, im
Lebenstrubel zu Schaden gekommenen, unter der kapitalistischen
Ausbeutung
leidenden Existenzen soll zufolge Karl's communistisch-colonistischen
Prinzipien und Fritzen's genossenschaftlichen Bestrebungen zur Lösung
der
sozialen Frage, bei uns geholfen werden." Ida antwortet darauf mit
schneidender Kälte: "Henri und ich betrachten die meisten dieser
Ankömmlinge als Kräfte, die freiwillig willkommene Arbeitsleistung
gegen Kost
und Quartier eintauschen" - das
heißt, als billige, unbezahlte Arbeitskräfte (Hofmann 26 f.). Die
Vorstellung der Gräsers wird sichtbar: Die Siedlung sollte eine
Zuflucht werden
für die Enterbten und Verdammten dieser Erde, "ein Zufluchtsort ... für
entlassene oder entwichene Strafgefangene, für verfolgte Heimatlose,
für alle
diejenigen, die als Opfer der bestehenden Zustände gehetzt, gemartert,
steuerlos
treiben, und die doch die Sehnsucht nicht eingebüsst haben, unter
Menschen, die
sie als Mitmenschen achten, menschenwürdig zu leben" (Mühsam, S.58 f.).
Karl Gräser
als Jesus, gezeichnet
von seinem Bruder Ernst Erst
recht wurde im Ersten Weltkrieg die Gräser-Enklave auf dem Berg zum
Treffpunkt
von Kriegs- und Systemgegnern wie Hermann Hesse, Ernst Bloch, Hugo
Ball, Pierre
Jean Jouve und anderen. Trotz der Ausschließung durch den "öden
Käufer" Oedenkoven (Gusto Gräser) erhielt sich also der Ursinn der
Kolonie, wie er von den Gebrüdern Gräser gemeint war: als eine Zelle
und
Zitadelle der Gegenkultur für ganz Europa. Zusammenfassung: Nach
kurzandauerndem
gemeinsamem Beginn mußte Gustav Gräser gehen. Kommentar: Die
Initiatoren der Liebeskommune Monte Verità, Gusto und
Karl Gräser, wurden von dem Kapitalbesitzer Oedenkoven aus der
gemeinsamen
Unternehmung verdrängt. Nach Ablauf des ersten Jahres gab es 2 Monte
Veritàs:
die Oedenkovensche Naturheilanstalt als Privatunternehmen bürgerlicher
Lebensreform und das Obstbau- und Gartenanwesen der Gräsers als
Freistatt für
Empörer gegen das herrschende politische und kulturelle System. 4.
Zweite Phase: Oedenkoven/Hofmann verfestigen ihre Position Henri
Oedenkoven und Ida
Hofmann stellten einen Unternehmer an, der drei Hütten baute. So gab es
nun
insgesamt fünf Wohnhütten und ein Lesezimmer. Es kamen neue
Mitarbeiter, die meisten
eher praktisch veranlagt. Im Frühjahr 1902 wurde der
erste Prospekt herausgegeben und der Berg 'Monte Verità', 'Berg der
Wahrheitsuchenden' genannt. Darin wurde eine Naturheilanstalt auf
genossenschaftlicher Grundlage angekündigt. (Vgl. Landmann, S.65) Die
Reaktion waren
Anfragen von Zeitschriften und Ärzten, Besuche von Professoren. Auch
viele
andere trafen ein, so z.B. Europamüde suchten dort Gleichgesinnte zum
Auswandern in die Tropen, besonders nach Samoa, einer deutschen Kolonie
in
Polynesien, wo auch eine vegetarische Kolonie gegründet wurde. In
dieser Periode
entstand neben der praktischen Arbeit auch ein reges geistiges Leben. Oedenkoven
und Hofmann
betrieben eine rigide Personalpolitik. "Anfang Oktober vollzieht sich
abermals der Auszug von einigen Mitarbeitern, deren Art und Weise sich
nicht
für die Ziele des 'Monte Verità' eignet. Der Vergleich mit einem Sieb,
durch
das noch viele fallen müssen, bis eine gesichtete Körperschaft den
sittlich
hohen Anforderungen des Unternehmens entspricht, ist so naheliegend,
daß wir
ihn zum darstellenden Motto wählen möchten." (Hofmann, S.73) Neue
Bewerber mußten eine
Probezeit durchlaufen, um dann bei Bestehen von den beiden Gründern als
freie
Mitarbeiter eingesetzt zu werden. Ein Konsul Salomon lehnte alle
tierischen
Produkte, alle Gewürze und Salz ab. Oedenkoven stimmte dem zu, und so
wurde
dies nun zur Regel auf dem Monte Verità. Dies
schien aber sehr
schwer einzuhalten zu sein, denn nach einiger Zeit gingen die Bewohner
heimlich
nachts in die umliegenden Dörfer und aßen dort auch Fleisch, Wurst und
tranken
Wein. gewisser Nahrungsmittel (Fleisch, Wein, Tee, Kaffee usw.) hemmend
und so
mancher läßt sich durch Ausschluß von Milch, Butter und Käse in unserer
Diät
grundlos abschrecken." (Hofmann, S.79) Zu
dieser Zeit werden
Brot (ohne Hefe im Reformkocher hergestellt), Reform-kleidungsartikel
und Obst
(im eigenen Saft sterilisiert nach Weck's Verfahren) verkauft. (Vgl. Hofmann, S.79 f.) Ende
1904 wird der
Mitarbeiterkreis wieder enger: er besteht nur noch aus Klara Linke,
einem
ehemaligen Kurgast und jetzt Mitarbeiterin, Henri Oedenkoven und Ida
Hofmann.
Die Aufnahmebedingungen werden strenger und die Organisation erfolgt
nach dem
Prinzip von Schüler- und Meisterschaft. Neuankömmlinge wurden als
Schüler
eingelernt. Es
kamen wieder neue
Mitarbeiter. Berühmte Persönlichkeiten wie August Bebel widmeten dem
Monte
Verità einen Besuch; Erich Mühsam schrieb eine Broschüre. (Siehe zur
Literatur
S.9) Zusammenfassung
bis 1905 Bis
1905 berichtet Ida
Hofmann in ihren Memoiren von ungefähr 70 Leuten, die mitarbeiteten,
wenn auch
nur für ganz kurze Zeit. Nach
der Phase des
Feilagerlebens wurden die Leute eher nach praktischen Gesichtspunkten
ausgesucht, vor allem, ob sie tüchtig waren und die Arbeit
weiterbrachten. Als
der Monte Verità bekannter wurde, kamen auch Künstler, Ärzte,
Professoren und
politisch Engagierte. Nach der ersten gescheiterten Revolution 1905 in
Rußland
kamen viele Flüchtlinge, vor allem Studenten. Die
Arbeit allein mit den
geistig zu arbeiten Gewohnten ging zuerst sehr langsam vorwärts; auch
die vielen
Leute, die in der Freilagerzeit da waren, brachten wenig zustande, da
sie vor
allem erst einmal das faule Leben genossen, d.h. nur dann arbeiteten,
wenn sie
Lust dazu hatten. Erst durch Mithilfe von Angestellten, bzw.
Unternehmern
machte die Urbarmachung Fortschritte. Die ersten größeren Investitionen
wurden
ungefähr 1904/1905 getätigt: Wasser- und Elektrizitätsleitung.
So konnten Maschinen
eingesetzt werden;
andererseits mußte mehr verdient werden, damit sich die Investitionen
rentierten. Schließlich
wurde es auch
den Gründern zu schwierig, und die strenge Diät wurde wieder
aufgelockert. Im
Laufe des Sommers 1903
kamen einige Journalisten, um über "das vermeintliche 'Utopia' des
'Monte
Verità'" (Hofmann, S.62) zu schreiben ("flüchtig verfaßte Artikel"
nach Ida Hofmann, S.62). Es
kamen einige Gäste,
die manchmal mehrere Monate dablieben. Im
Frühjahr 1904 hatte
sich das Bild auf dem Monte Verità sehr verändert. "Grüne Wiesen und
gepflegte Wege umgeben unser Gesellschaftshaus; von der ehemaligen
Wildnis
bleibt keine Spur." (Hofmann, S.79) Allerdings
wurde dies
alles nicht ohne Tagelöhner und Handwerker bewerkstelligt. Der Besuch
von
Kranken war nicht so groß wie erwünscht, und Ida Hofmann führte das
darauf
zurück, daß so unterschiedlich von dem Berieb berichtet worden ist.
"Auch
wirkt das Vorurteil bezüglich gewisser Nahrungsmittel (Fleisch, Wein,
Tee,
Kaffee usw.) hemmend und so mancher läßt sich durch Ausschluß von
Milch, Butter
und Käse in unserer Diät grundlos abschrecken." (Hofmann, S.79) Zu
dieser Zeit werden
Brot (ohne Hefe im Reformkocher hergestellt), Reform-kleidungsartikel
und Obst
(im eigenen Saft sterilisiert nach Weck's Verfahren) verkauft. (Vgl. Hofmann, S.79 f.) Ende
1904 wird der
Mitarbeiterkreis wieder enger: er besteht nur noch aus Klara Linke,
einem
ehemaligen Kurgast und jetzt Mitarbeiterin, Henri Oedenkoven und Ida
Hofmann.
Die Aufnahmebedingungen werden strenger und die Organisation erfolgt
nach dem
Prinzip von Schüler- und Meisterschaft. Neuankömmlinge wurden als
Schüler
eingelernt. Es
kamen wieder neue
Mitarbeiter. Berühmte Persönlichkeiten wie August Bebel widmeten dem
Monte
Verità einen Besuch; Erich Mühsam schrieb eine Broschüre. (Siehe zur
Literatur
S.9) Kommentar: Nachdem
das Gelände
auf dem Weinberg von Ascona angekauft war, ließ sich Oedenkoven
notariell als
einziger Besitzer eintragen. Und dies, obwohl alle 5 Siedlungsgenossen
ihre
Mittel in die Gemeinschaft eingebracht hatten und als gleichberechtigte
Partner
galten oder doch gelten sollten. Weil aber Gusto seinen Besitz ganz,
Karl den
seinen weitgehend verschenkt hatte, Lotte Hattemer ebenfalls wenig
bemittelt
war, hatte Oedenkoven (der von seinen millionenschweren Eltern
unterstützt
wurde) von vornherein eine extreme finanzielle Übermacht, die er
keineswegs,
wie die Zukunft erweisen sollte, in brüderlicher Gemeinschaft zu teilen
gedachte. Oedenkoven hatte sich dazuhin das juristische Fundament
gesichert und
zögerte nicht, davon Gebrauch zu machen. Als
erstes mußte der mißliebige Gusto verschwinden. Karl mochte sich für
ihn
einsetzen wie er wollte, Genosse Oedenkoven, der angeblich Gleiche
unter
Gleichen, machte von seinem Hausrecht Gebrauch. Dabei
blieb es nicht. Die Oedenkovens dachten keineswegs daran, sich
pausenlos beim
Aufbau der Hütten und Pflanzungen abzurackern. Schon nach wenigen
Wochen
leistet sich das Liebespaar einen Erholungsurlaub im bequemeren Milieu
des
Monte Trinità. Im Frühjahr verlassen sie die mitten im Aufbau
befindliche
Siedlung, um es sich in Genua und "an dem lieblichen Ortasee" (H 25)
in erstklassigen Hotels wohl sein zu lassen. Später folgen ausgedehnte
Reisen
nach München, zum Tellspiel nach Altdorf, zu den Festspielen in
Bayreuth, nach
Paris. Cabaret, Oper, Theater, elegante Welt, feine Gesellschaft, wie
gehabt.
Für Ida Hofmann, ehemals abhängige Angestellte in balkanischen
Mädchenpensionaten, muß es ein schwindelerregender Aufstieg in soziale
Höhen
gewesen sein. Kurz:
Von gleichen Rechten und Pflichten der Teilhaber keine Spur. Die
weniger
Begüterten, die ihren letzten Groschen in das Unternehmen gesteckt
hatten,
mochten sich inzwischen auf der Scholle abrackern. Kaum von der
Genueser
Vergnügungsreise zurückgekehrt, wirft man Karl Gräser Faulheit vor:
angeblich
ist in der Zwischenzeitzu wenig geschafft worden. Ein hinzugekommener
sechster
Gesellschafter, Fritz Röhl, hat sich an Karl angeschlossen und spricht
zuviel
von Freiheit, Brüderlichkeit und genossenschaftlichem
Zusammenschließen; Lotte
schwebt zu sehr in höheren Sphären. Alle drei haben "utopische Gelüste
und
fantasien" (G 20). Die Herrschaft ist unzufrieden. Zum
Glück strömen immer neue Idealisten hinzu, die freiwillig und kostenlos
Arbeit
leisten. "Unsere mitarbeiter", schreibt Ida, "erhalten keine
bezahlung ihrer arbeit, den di arbeit eines menschen, der sich in
idealem
streben einer edlen sache widmet, ist unbezahlbar" (G 12 f.). Ein
wahrhaft
unbezahlbarer, von echtem Edelsinn erfüllter Satz! Das
Logis übrigens, das den Mitarbeitern gewährt wird, besteht aus einer
Bettstelle
ohne Federung oder Matratze, aber immerhin mit Strohsack und Decke
(vgl. R 102). Karl,
der sich inzwischen mit ihrer Schwester Jenny verbunden hat, macht Ida
den
Vorschlag, sie möge doch auch ihr Vermögen in das Unternehmen
einbringen. Ida
ist mämlich lediglich mit den Zinsen ihres Vermögens beteiligt. Als
sich auch
noch Lotte mit dem (nicht ganz unbegründeten) Vorwurf einer "allzu
üppigen
Lebensweise" hervorwagt, die in krassem Gegensatz zum einfachen und
harten
Dasein der anderen stehe, ist das Maß für die Oedenkovens voll. Alle
drei, auch
die Schwester von Ida, werden
aus dem Paradies
vertrieben. Karl wird ausbezahlt und kann damit einen Teil des ehemals
gemeinsamen Grundbesitzes erwerben, Lotte findet Unterschlupf in einer
leerstehenden Ruine. Nach einjährigem Bestehen hat die mit so viel Hoffnungen begonnene
Lebens-, Wirtschafts- und
Besitzgemeinschaft aufgehört zu existieren. Die Idealisten und
Utopisten sind
ausgebootet; Oedenkoven, der "öde Käufer", wie ihn die Gräsers
nennen, kann triumphieren. Von nun
an ist Feindschaft gesetzt zwischen den "Kulturmenschen im Sinne der
Zuchtwahl",
wie Ida sich sieht und ausdrückt, und den "Naturmenschen" da draußen
und unten (H 47). Streng nach Darwin: survival of the fittest. Bitte
"keine Verwechslung von uns (vom Sanatorium Monte Verità) mit den
Naturmenschen machen", sagt Oedenkoven zu Besuchern. "Das Verhältnis
ist so: In der Mitte ist die grosse Menge der Mittelmenschen. Am einen
Ende
sind die Naturmenschen, am andern wir" (G 20). Wo wir sind, heißt das,
ist
oben. Oedenkoven
hat endlich freie Hand. Die Entscheidungen fallen Schlag auf Schlag.
Der
genossenschaftliche Schlendrian, in dem jeder sich nach Neigung und
Ermessen
freiwillig in die gemeinsame Arbeit einreihen konnte, muß beendet
werden.
"Die zu leistende Arbeit wird von der Leitung je nach Fähigkeit der
Mitarbeiter angeordnet (H 43). Wer nicht pariert, der fliegt. In der
Tugendsprache der Ida Hofmann liest sich das so: "Dank der
Wahrheitsliebe,
welche uns beseelt, findet jedoch ein für Jeden nützliches Feilen
statt"
(H 43). Und es
fliegen viele, denn der
Anspruch bewegt
sich in biblischen Höhen: "Viele sind berufen, aber wenige sind
auserwählt". Es
fliegt Willy Bradtke, "erklärter Sozialdemokrat" (H 37), es fliegen
die beiden ersten Mitarbeiterinnen Henny und Marie Biber schon im
Herbst 1902.
Auch ihr Vater Rudolf Biber muß nach wenigen Monaten gehen (H 48). Der
sechste Gesellschafter, Fritz Röhl, in seinen libertären Bestrebungen
nicht
allzugern gesehen, kehrt der Kolonie den Rücken; er stirbt wenig später
an den
in italienischen Gefängnissen erlittenen Entbehrungen. Sein Freund
Huster,
ebenfalls Mitarbeiter, aber "von sozialdemokratischen Idealen
erfasst" (H 26), sucht sein Heil lieber in Indien, zusammen mit
Ferdinand
Brune, der ebenfalls abgeht (H 30). Die Mitarbeiter Stelters, Germer
und Vester
wandern nach Samoa aus. Exkonsul Salomonson, wie sie selbst "ein
glühender
Verehrer Wagnerscher Musik" (H 50), der zu Idas Klavierspiel aus
'Parsifal' vorträgt, befindet sich bald "unter den unfreiwillig
Scheidenden"
(H 73). Pianist Lützow, ehemals Hofkapellmeister in Berlin, der ihre
Konzerte
virtuos auf der Geige begleitet, arbeitet zu wenig. "Wir geben ihm den
Laufpass" (H 61). Luise Hecht, die unter sozialistischen Anwandlungen
leidet, ist trotz Arbeitswilligkeit "kein geeignetes Element für den
'Monte Verità'" (H 73). "Der Vergleich mit einem Sieb, durch das noch
Viele fallen müssen", schreibt Ida, sei so naheliegend, daß sie ihn zum
Motto ihrer Darstellung wählen möchte (H 73). So wird auch die Trennung
von Anita
Dehn und Robert Jentschura zur Notwendigkeit. Robert wird von Henri
"buchstäblich vor die Türe" geworfen (H 86). Auch über den
dichterisch begabten Bruno Hauks muß, so schreibt sie mit Wagnerpathos,
"die Scheide des schon so oft geschwungenen Trennungsschwertes" sich
senken (H 48). Der
Ton ist nicht übermäßig menschenfreundlich. Von "Menschenmaterial"
ist die Rede (H 73) und: "Es erfolgt die Entfernung schädlicher
Elemente
aus unserer Mitte, besonders der Faulenzer en gros" (H 60). Am
Ende finden sich die drei leitenden Direktoren Henri Oedenkoven, Ida
Hofmann
und Klara Linke allein auf der Schlachtstätte. Es ist ihnen gelungen,
innerhalb
dreier Jahre sämtliche Mitarbeiter und Gesellschafter zu vertreiben
oder zu
vergraulen. In ihrer Einsamkeit fühlen sie sich edel und auserwählt wie
die
"Essäer zur Zeit Christi und des Pythagoras" (H 87). Auch diese
hatten die "bei uns nun eingeführte Organisation der Schüler- und
Meisterschaft". Nur leider wollen sich keine Schüler einstellen. Darum:
"Die Kategorie der Angestellten wird ... unvermeidlich und ich
konstatiere
eine bewusste Wiederaufnahme gesellschaftlicher Einrichtungen" (H 88). Mit
seiner selbsterdachten Ernährungslehre hatte Oedenkoven in der Praxis
Schiffbruch erlitten. Sie erwies sich als krankmachend, auch für ihre
Erfinder.
Scharenweise stahlen sich die Anstaltsbewohner in die umliegenden
Felder und
Dörfer, um sich die entbehrten Nährstoffe zuzuführen, nach denen ihr
Körper
unabweisbar verlangte. Der
schwedische
Ernährungsforscher und
-reformer Are Waerland, in seiner
ausführlichen Analyse der Sanatoriums-Diät, konstatiert
den "vollständigen Bankrott der
Fruchternährung auf dem Monte Verità" (W 1). Daß
Kurgäste in hinreichender Anzahl ausblieben, muß auch auf den Charakter
der
Anstaltsleiter zurückgeführt werden. Ida Hofmann und Henri Oedenkoven
gewannen
sich - außer bei den Dorfbewohnern, auf die der Oedenkovensche
Geldregen wie
himmlisches Manna wirkte - wenig Sympathien. Weder Mühsam noch Grohmann
noch
irgendein anderer Zeuge kann sich für sie begeistern. Die Äußerungen
sind
durchweg kritisch, und die Journalisten, die 1903 gleich mehrfach den
Berg
besuchen, liefern ein nicht nur ironisches - was bei dem Thema durchaus
zu
erwarten war - sondern teilweise ein geradezu sarkastisch gezeichnetes
Bild.
Oedenkoven wird als kalt, herrisch und aufdringlich geschildert, Ida
Hofmann
zwar als ausgezeichnete Pianistin gepriesen, im übrigen
aber als säuerliche "alte Jungfer" empfunden. Die
"berühmten Persönlichkeiten", die den Berg besuchen, wie August
Bebel, Frederik van Eeden, Gabriele Reuter oder Hermann Hesse, kommen
nicht
wegen der Oedenkovens, sie kommen zu den Gräsers oder dem Anarchisten
Raphael
Friedeberg. Die
angeblich "flüchtig verfaßten" Artikel entpuppen sich als literarisch
ausgefeilte Milieustudien begabter Journalisten, stimmungsvoll und oft
mit Witz
erzählt, allerdings mit leicht satirischem Einschlag. Henri Oedenkoven
wird so
vorgestellt: "Das
also ist der Herr 'oedenkoven-hofmann'. Ich weiß nicht, warum er die
Großbuchstaben und die Akzente haßt. Er ist groß, mit nazarenischem
Bart und
Haar, eine elegante und würdige Erscheinung mit schlankem und kräftigem
Körper.
Er trägt eine kastanienbraune Tunika mit weiten und bequemen Ärmeln. Er
ist der
Direktor, er ist der Patron, er ist der Chef. Aber sein kalter und
metallischer
Blick gefällt mir nicht; seine Rede ist höflich aber streng. Er möchte,
daß ich
ein Sonnenbad nehme." Obwohl
der Journalist nur gekommen ist, um einen Bericht zu schreiben, wird er
von
Oedenkoven während des Essens zu einer Behandlung gedrängt:
5.
Dritte Phase: Stetige Entwicklung zum kapitalistischen Unternehmen hin 1905
erschien ein von
Henri O. und Ida H. ausgearbeiteter Prospekt, der die Gründung der
'Vegetabilischen Gesellschaft des Monte Verità' verkündete. Er
hatte 45 Paragraphen
und legte unter anderem Zweck und Mittel, die Gruppierungen (ständige
Mitglieder, aktive und passive), die Rechte und Pflichten der
Mitglieder,
Schüler, Mitarbeiter und
Angestellten
sowie die Finanzen fest (hierauf wird später im Punkt Soziale
Organisation
ausführlicher eingegangen). (Nach Riess, S.33) "Die
praktisch-lebensreformerischen Seiten des Sanatoriums wurden in
sachlicher
Weise hervorgehoben, im Gegensatz zu früher, wo der Ton noch stark auf
Weltanschauung und Gesellschaftsreform gestimmt war." (Landmann, S.99) Durch
Hervorhebung eher
des Charakters eines Sanatoriums als eines Siedlungs-experimentes
(Oedenkoven
erlaubte sogar, nicht-vegetarisch zu essen), durch den Einsatz von
Angestellten
wurde der Besuch von Heilungsuchenden, Pensionsgästen und Besuchern
stabiler,
die Arbeit ging zügig voran. Es
wurde viel Reklame
gemacht und die Zeitungen beschäftigten sich eingehend mit dem
Experiment. In
der nächsten Zeit kamen viele Berühmtheiten wie Hermann Hesse (er
machte eine
Alkoholentziehungskur), Fritz Brupbacher, Arzt und Schweizer Anarchist,
Dr.
Raphael Friedeberg (zuerst sozialdemokratischer Abgeordneter des
Reichstages,
dann Gründer der syndikalistischen Bewegung in Deutschland), Else
Lasker-Schüler, eine Dichterin und Malerin, die zu der Bohème Berlins
gehörte,
um nur einige zu nennen. Dr.
Otto Groß, Schüler
von Freud, kam mit einigen Freunden nach Ascona. Er vertrat "das
Prinzip
des Sichauslebens und wollte die Bergbewohner, die von sich und anderen
strengste Selbstdisziplin forderten, ad absurdum führen." (Landmann, S.
123 f.) Es
wurden angeblich
Orgien gefeiert (Landmann, Riess) und Rauschgift genommen, und der
Kreis derer,
die mitmachten, soll sich stetig erweitert haben. Doch dauerte dies
nicht lange
an. Spirismus und Okkultismus wurden von einigen Leuten betrieben. Auch
sogenannte
"Edeldichtkunst" (Landmann, S.126) entstand um den Monte Verità (ein
charakteristisches Produkt: 'Monte Verità' von Heinrich Kropp, ein
Schauspiel
mit hochtrabenden, pathetischen Worten). Ein Ungar, Szittya, schrieb
das
Kuriositätenkabinett, auf das im Literaturteil (Eineitung) eingegangen
wird. Zusammenfassung:
Das Siedlungsexperiment entwickelt sich immer mehr zum Sanatorium und
gleichzeitig zu einem Zentrum des geistigen Lebens aller möglichen
Richtungen. Kommentar: Daß
Oedenkoven, nachdem er die ursprüngliche (informelle)
Genossenschaft gründlich zerstört hat, sich im Jahre 1905 plötzlich als
Genossenschaftsgründer betätigt - er entwirft in 45 Paragraphen eine
'Vegetabilische Gesellschaft des Monte Verità' - , hat einen einfachen
Grund:
die 'Vegetabilische Gesellschaft' dient vor allem der
Kapitalbeschaffung. Jedes
ständige Mitglied zahlt einen Eintrittsbetrag von 3000 Franken, der
auch bei
Austritt nicht wieder erstattet wird. Dafür gewinnt er das Recht, an
den
Arbeiten der Gesellschaft sich zu beteiligen und eine Beteiligung am
Reingewinn. Da ein solcher nie zu erwarten stand und auch nie erzielt
wurde,
war nur die Arbeitsbeteiligung real, die Gewinnbeteiligung rein fiktiv.
Die
vorgebliche Genossenschaft erwies sich als idealistisch maskierte
Ausbeutung.
6.
Vierte Phase: Die letzten Versuche zur Rettung des Unternehmens Seit
1905 waren trotz der
vielen Besucher die Einnahmen stetig zurückgegangen und das Unternehmen
konne
sich nur mit Hilfe von Zuschüssen von Oedenkovens Mutter über Wasser
halten
(vgl. Riess, S.59). Schließlich
wurde das
Verkaufshaus verpachtet und saniert, indem das Lager mit den Dingen
erweitert
wurde, die besonders guten Gewinn
abwarfen. Doch im
Lauf der Zeit kamen immer weniger Ausflügler und Oedenkoven gab den
Laden wegen
mangelnder Einnahmen wieder auf. Aus
strategischen Gründen
wurde ein Hotel auf einem benachbarten Grundstück aufgekauft. "Eine
Konzession zog die andere nach sich, wodurch dem Unternehmen ein Teil
seiner
einstigen Originalität geraubt wurde. Die Praxis siegte über die allzu
hohen
Ideale und fegte alle unfruchtbaren Theorien hinweg". (Landmann, S.144) Dadurch
wurden immer
weniger Menschen angezogen, es gab nur noch einige Passanten, "die die
berüchtigten Naturmenschen suchten" (Landmann, S.155), und die
Einnahmen
wurden immer weniger. Oedenkoven versuchte alles, den Berg zu retten,
lud einen
Fastenkünstler ein, der zur Attraktion werden sollte (und es
kurzfristig auch
wurde), schrieb Prospekt auf Prospekt. Dies
war ungefähr 1913,
wo noch einmal viele Berühmtheiten kamen: Peter Kropotkin (russischer
Anarchist, auf der Flucht), Isadora Duncan und Mary Wigman, berühmte
Tänzerinnen, Laban, der eine Tanzschule in Ascona aufmachte, Emil
Ludwig,
Dichter, Marianne von Werefkin, Malerin, Hugo Ball, Dichter, Dadaist.
Diese
hielten sich aber meistens in Ascona auf, "auf dem Monte Verità wurde
es
stller und stiller." (Landmann, S.163) 1914
lernte Oedenkoven
eine Engländerin kennen und lieben, die aber gegen die freie Ehe war.
So schloß
er eine bürgerliche, standesamtlich sanktionierte Ehe mit ihr (vgl.
Landmann,
S.160 f.). 1914
und1915 hielt die
schlechte Entwicklung an und nur durch die finanzielle Bezuschussung
durch
Oedenkovens Mutter konnte der Betrieb überhaupt noch aufrecht
erhalten werden. 1916 ging es wieder aufwärts und 1917 gab
es eine
Renaissance. Hatte
der erste Weltkrieg
viele in die Heimat nach Deutschland gezogen, so wurde man nun
kriegsmüde und
hoffte, daß der Krieg bald zu Ende sein würde. Es sammelte sich eine
pazifistische Bewegung um den Baron Wrangel, der auch schon vor dem
Krieg
pazifistische Broschüren herausgegeben hatte. Doch
trotz Aufschwung
resignierte Oedenkoven, denn der Etat stimmte trotzdem nicht. "Das
Grundstück war zu groß, die Unterhaltungskosten zu hoch." (Landmann,
S.165) Noch
einmal kam ein Mann,
namens Reuss, ein Spiritist, der alles zu retten versprach: Er gründete
auf dem
Monte Verità den Ordenstempel des Ostens (OTO). Zweck und Ziel wurden
nach der
vorhandenen Literatur nie richtig bekannt. Eine ältere Baronin wurde
Großmeisterin zur Repräsentanz für Geldleute. Und tatsächlich flossen
die
Gelder, der Betrieb wurde sogar noch weiter ausgebaut. Es wurden große
Feste
gefeiert, Fackeltänze, dunkle Zeremonien, Weihehandlungen. Durch
Hierarchisierung (nur wer in höhere Grade kam, wurde etwas mehr
eingeweiht)
blieb das Ganze interessant, aber nicht durchschaubar. "Der
Ruf des Monte
Verità hatte durch die Affäre Reuß erheblich gelitten" (Landmann,
S.170).
Oedenkoven zog sich nun zurück an den Schreibtisch und arbeitete Pläne
aus.
Seine Frau, Ida Hofmann und die Wirtschafterin Klara Linke leiteten den
Betrieb
weiter. Klara Linke versuchte durch Gründung eines Kinderheims die
Einnahmen zu
vergrößern; zuerst lief es auch ganz gut, doch dann kamen Beschwerden
und
Warnungen. Im
Dezember 1919 wurde
der Monte Verità an einen Herrn Scheuermann verpachtet. Im
Januar 1920 verließen
Oedenkoven, seine Frau und Ida Hofmann Ascona, gingen nach Spanien, wo
sie
zuerst eine neue Siedlung ins Leben rufen wollten, verkauften dann aber
ihr
Grundstück dort günstig und siedelten nach Brasilien über. Dort
gründeten sie
eine vegetarische Versuchsstation "mit wenigen, aber aufgeweckten
Mitarbeitern". (Landmann, S.177) Zusammenfassung:
Rettungsversuche durch Verpachtungen und Gründung eines exotischen
Ordens
scheiterten. Ida Hofmann und Oedenkoven mit Frau verpachteten das
Unternehmen
und gingen nach Brasilien. Seitenanfang
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