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Monte Verità als Experiment genossenschaftlicher Selbstorganisation
und
alternativen Verhältnisses zur Natur

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Eine Untersuchung von Gudrun Hofmann
mit Kommentaren von Hermann Müller
(1977 – 1997 - 2007)

Inhaltsangabe

Einleitung

 I  Überblick über Entstehung und Verlauf  der Siedlung Monte Verità

1.            Vorbereitendes Treffen in München
2.            Auf der Suche nach dem geeigneten Ort
3.            Erste Phase: Beginn und Freilagerzeit
4.            Zweite Phase: Henri Oedenkoven und Ida Hofmann verfestigen ihre Position
5.            Dritte Phase: Stetige Entwicklung zum kapitalistischen Unternehmen hin
6.            Vierte Phase: Die letzten Versuche zur Rettung des Unternehmens
7.            Fünfte Phase: Nach dem Auszug der Gründer

II  Genossenschaftliche Selbstorganisation

1.            Die Entwicklung des Genossenschaftsgedankens zur damaligen Zeit
2.            Genossenschaftliche Selbstorganisation auf dem Monte Verità
2.1.         Soziale Organisation
2.1.1.      Soziale Herkunft, Motivation, Weltanschauungen
2.1.2.      Die Gruppenstruktur in ihrer Entwicklung
2.1.2.1. Anfangsvorstellungen und -umsetzung
2.1.2.2.   Die unterschiedlichen Konzepte von Karl Gräser und Henri Oedenkoven
2.1.2.3.   Die Freilagerzeit
2.1.2.4.   Monte Verità als Sanatoriumsbetrieb
2.1.3.      Die Stellung der Frau und der Kinder; freie Ehe
2.1.3.1.   Die Stellung der Frau
2.1.3.2.   Die Stellung der Kinder
2.1.3.3.   Die freie Ehe
2.1.4.      Auseinandersetzungsformen und Ausleseverfahren
2.2.         Wirtschaftliche Organisation
2.2.1.      Standortwahl
2.2.2.      Eigentumsverhältnisse
2.2.3.      Finanzierung

III Alternatives Verhältnis zur Natur

1.            Die Situation von Industrie und Technik zur damaligen Zeit (Deutschland 1870/71 bis zum 1. Weltkrieg)
2.            Die Lebensreformbewegung
2.1.         Naturheilkunde
2.2.         Vegetarismus
2.2.1.      Die vegetarische Bewegung
2.2.2.      Die Ideen des Vegetarismus
2.3.         Die Nacktkultur
2.4.         Die Sexualreform
2.5.         Die Kleiderreform
2.6.         Die Tanzkulturbewegung

Exkurs: Zum Begriff des Natürlichen in der Lebensreformbewegung

3.            Die Rezeption der Lebensreformbewegung auf dem Monte Verità
4.            Das Verhältnis zu Natur und Technik auf dem Monte Verità
4.1.         Karl Gräsers Vorstellungen und sein Leben
4.2.          Die Entwicklung Henri Oedenkovens und Ida Hofmanns auf dem Monte Verità in Bezug auf Technik

IV  Einschätzung

1.            Zum Scheitern des Projekts
2.            Auswirkungen auf die Umwelt
2.1.         Regionale Auswirkungen
2.3.         Historische Auswirkungen
3.            Bedeutung des Projekts in größerem Bezugsrahmen
 

Schluß



Einleitung

Die antiautoritäre Studentenbewegung, die noch die Verbindung von Theorie und Praxis, Politik und Moral wollte, zersplitterte sich in einzelne, recht unterschiedliche Fraktionen.

Die marxistisch-leninistischen Gruppen mit streng zentralistischem Aufbau begaben sich in die Nostalgie der 20er Jahre, einer KP unter Thälmann, und setzten die Agitation der Massen über alle persönlichen Bedürfnisse.

Es entstanden Guerilla-Gruppen, die den bewaffneten Kampf bereits in der jetzigen Lage propagierten und durch spektakuläre Aktionen von sich reden machten.

Von einigen Gruppen wurde versucht, Vorstellungen von politischer und persönlicher Emanzipation zu verwirklichen (in Rückbezug auf die antiautoritäre Studentenbewegung). Daraus entstand die sogenannte "Spontibewegung".

Bereits im SDS hatten Frauen erkannt, daß die Männer zwar hohe politische Ziele anstrebten, doch ihre Frauen immer noch unterdrückten. So organisierten sie sich autonom in der Frauenbewegung. Dies sind die wichtigsten Strömungen, die sich teilweise intern leicht veränderten, doch im Wesentlichen auch heute noch so bestehen.

In Teilen der Sponti- und Frauenbewegung war der Gedanke wichtig, daß man nicht nur auf das Ziel Revolution hin leben wollte (und danach wird alles anders), sondern jetzt schon mit neuen Lebensformen beginnen wollte.

Aus dem Wunsch, nicht nur linke Theorie, sondern auch Praxis zu machen (mit der Erfahrung im Hintergrund, daß man in Institutionen der Gesellschaft meist zur Anpassung gezwungen wird), und aus beruflicher Perspektivlosigkeit (Berufsverbote, hohe Arbeitslosigkeit auch unter Akademikern) schossen Alternativprojekte aus dem Boden.

"Alternativ", das hieß alternativ zu den bestehenden gesellschaftlichen Institutionen (konkreter wurde dieser Begriff nie definiert). Man schuf Projekte, die die angestrebte Gesellschaft bereits in Ansätzen in sich bargen. "Die neue Welt ist schon unterwegs" hieß die Parole.

Es entstanden in den 60erjahren: linke Buchläden, Druckereien, Verlage.

Andere Gruppe, die spirituelle Ansätze hatten und sich an asiatisches Gedankengut anlehnten, bauten Naturkostläden, makrobiotische Restaurants, Meditations- und Jogazentren auf.

Außerdem entstanden Nachbarschaftshilfegruppen, Kommunikationszentren für Jugend-liche, Arbeitslosenselbsthilfeprojekte, Theater-, Musik-, Filmgruppen, Autowerk-stätten, wo der Kunde mit einbezogen wird, Mitfahrerzentralen, Frauenzentren, -häuser, -kneipen, -buchläden, -verlage, -zeitungen.

Mit zunehmender Bewußtwerdung über die Bedrohung des Lebens durch Atomkraftwerke entstanden im Rahmen der Anti-AKW-Bewegung Gruppen, die sich mit alternativer Technologie beschäftigten und mit Möglichkeiten, Energie aus natürlichen Quellen zu gewinnen.

In diesem Rahmen kamen die ersten Landkommunegründungen auf, die sich vor allem auf die Ideen der amerikanischen Landkommunebewegung stützten.

Aus politischer Resignation und (oder) dem Wunsch, hier und jetzt ein anderes Leben zu leben, begannen sie mit gemeinsamer Produktion und Reproduktion auf Bauernhöfen, Mühlen oder sonstigen Häusern in der Provinz.

Eigentlich kann man in der BRD nicht von  der Landkommunebewegung sprechen, würde dies doch gemeinsame Vorstellungen und Kommunikation untereinander implizieren. Dies findet eher zufällig als organisiert statt. Doch lassen sich einige angestrebte Zielvorstellungen, wie besonders aus den Publikationen 'Kompost', 'Grüner Zweig', 'Zero' (vgl. Literaturverzeichnis) hervorgeht, herauskristallisieren, die mehr oder weniger in den bestehenden Landkommunen vorhanden sind:

Gemeinsame Produktion:

Selbstversorgung durch Anbau landwirtschaftlicher Produkte, teilweise auch Viehzucht;
oder Einkommen durch Herstellung kunsthandwerklicher Produkte, dies ohne starre Arbeitsteilung;
Entwicklung von sanfter Technologie oder gänzliche Ablehnung aller technischen Geräte;
Energiegewinnung aus natürlichen Quellen;
Anbau ohne Chemikalien.

Gemeinsame Reproduktion:

Bewußte Ernährung, vor allem Ernährung ohne chemische Zusatzstoffe, keine synthe-tischen Nahrungsmittel, gesunde Kleidung, die den Körper nicht einengt und aus natürlichem Material ist;
ein neues Verhältnis zum Körper;
Naturheilkunde, vor allem Heilen mit Hilfe von Kräutern.

Veränderte soziale Beziehungen

Abbau von hierarchischen Strukturen;
Emanzipation der Frau;
Versuch der Ausflösung von Zweierbeziehungen;
Gemeinschaftsräume.

Die meisten Landkommunen haben den Anspruch, in der Praxis vorzuleben, daß ein anderes Leben möglich ist. Sie sind kaum explizit nach außen politisch tätig (als Landkommunebewegung).

Viele Kommunarden wirken allerdings noch in der politischen Bewegung mit, vor allem in der Ökologie- und Frauenbewegung.

In dieser Arbeit geht es jedoch nicht um die aktuelle Landkommunebewegung, sondern um ihre historischen Vorläufer. Diese sind fast gänzlich unbekannt, sicherlich auch weil einige Siedlungen sich ab 1933 in die faschistische Ideologie integriert haben, bzw. ihre Entwicklung mitgetragen haben (Arierkult, völkische Erneuerung).

Gerade deshalb aber ist es wichtig, die eigene Geschichte zu kennen. Ich möchte exemplarisch einen Vorgänger untersuchen, die Siedlung Monte Verità. Sie trägt die Züge der damaligen Bewegungen und Ideen, die ebenso aufgezeigt werden sollen. Monte Verità ist nach 20 Jahren endgültig gescheitert. Doch bereits vorher wurden von den Ansprüchen und Ideen große Abstriche gemacht. Hier will ich untersuchen, welche sozialen und ökonomischen Bedingungen dazu geführt haben und inwieweit dieses Projekt eine Alternative zur damaligen Gesellschaft gebildet hat. Ich habe hierbei viel Wert auf den persönlich-informellen Bereich gelegt, da es Subjekte sind, die die Geschichte machen. Die Wissenschaft hat in letzter Zeit die Wichtigkeit dieser Bereiche erkannt, doch hat die Soziologie noch keine Kategorien dafür bereitgestellt.

Die Siedlung Monte Verità besteht in sehr veränderter Form heute noch und ist ein kulturelles Zentrum der Oberschicht in der Schweiz. Vor allem spiritistische Ideen werden hier praktiziert. Ich beschränke mich in dieser Arbeit auf die Phase bis 1920, wo die Gründer aktiv waren. Sie waren in ihren Ideen und Vorstellungen am radikalsten. Später wurden hier reine Geschäftsbetriebe errichtet.

Der Gedanke, ein anderes Leben ohne die gesellschaftlichen Zwänge zu führen, ist nicht neu. Mit zunehmender Industrialisierung löste sich das kommunale Leben in den Dorfgemeinschaften auf. Der arbeitslose Bauer oder Handwerker war gezwungen, in die Stadt zu gehen, wo er sich bessere Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten erhoffte. Doch in den Städten gab es zunehmende Verelendung, denn die Unternehmer mußten aus Profitgründen die Ware Arbeitskraft möglichst billig halten. Zunehmender Alkoholismus, Krankheiten, Unterernährung, Bodenspekulation entfachten eine breite Bewegung, vor allem in den Mittelschichten (vgl. Krabbe), die Lebensreform-bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, diese Übelstände mittels Reform zu verbessern.

Auch in den Bereichen der Intellektuellen gab es vielseitigen Protest gegen die Gesellschaft. Auf dem Lande entstanden Ansiedlungen von Leuten, die sich in ihrer Ablehnung der Gesellschaft einig waren und ein neues Leben beginnen wollten. Einer der ersten Siedlungsversuche Deutscher war der Monte Verità in Ascona (neben der Obstbaugenossenschaft Eden, die um 1900 begann).

Die Ansiedler hatten den Wunsch, ihr Leben radikal zu verändern und mit ihrer Siedlung auch Vorbild und Möglichkeit für andere zu sein. Schon ihr Aussehen erinnert an Landkommunarden von heute (bes. denen in USA): lange Haare, weite Kleidung, die Männer lange Bärte (vgl. Bilder in Landmann, Mühsam, Flach, Rieß usw., außerdem aktuell in 'Kompost'). Auch ihre Idee, ihre Idee, ein ganz neues Leben anzufangen, weil in den bestehenden Machtstrukturen kein freies Leben möglich ist, ebenso der Wunsch, in Harmonie mit der Natur zu leben, lassen Assoziationen zu heute aufkommen.

Zwei Schwerpunkte sollen betrachtet werden:

Genossenschaftliche Selbstorganisation

Genossenschaft wird im allgemeinen definiert als "Zusammenschluß gleichgesinnter Personen (Genossen) zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels durch Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung." (Fischer-Lexikon, S.2142)

Inwieweit die Siedlung im Laufe ihrer Entwicklung von der genossenschaftlichen Selbstorganisation abweicht ist Untersuchungsgegenstand.

Alternatives Verhältnis zur Natur

Um das alternative Verhältnis zur Natur definieren zu können, ist es notwendig, das bestehende zu beschreiben:

Die westliche Zivilisation beansprucht die Herrschaft über die Natur. "Der moderne Mensch erfährt sich nicht als Teil der Natur, sondern als eine von außen kommende Kraft, die dazu bestimmt ist, die Natur zu beherrschen und zu überwinden." (Schuhmacher, S. 12)

Die Natur wird vorrangig als Rohstoffquelle betrachtet und mit ihrer Ausbeutung zerstört. Heute wird dies durch die ökologische Krise in Frage gestellt. Die zunehmende Kritik an der westlichen Zivilisation zeigt sich auch darin, daß viele religiöse und kulturelle Vorstellungen der östlichen Länder ihre Anhänger finden, z.B. Buddhismus, Joga, Vegetarismus, Meditation.

Als angestrebtes Ideal sollen menschliche und nicht-menschliche Natur in herrschaftsfreiem wechselseitigem Verhältnis zueinander stehen, in der Einsicht, daß beide von einander abhängig sind. Inwieweit dies für die Monte Veritaner zutrifft, wäre zu untersuchen.

Allgemeinphilosophische Theorien zum Verhältnis Mensch - Natur - Gesellschaft wären zwar notwendig, doch würden sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

 

Vorgehensweise

Im 1.Kapitel werde ich einen Überblick über Entstehung und Verlauf der Siedlung Monte Verità geben. Ein solcher Überblick existiert bisher nicht, ist aber notwendig, um Einzelprobleme zu verstehen. Deshalb wurde er an den Anfang gestellt. Unvollständige Angaben ergaben sich durch die Art der Primärliteratur (Romane - vgl. S.8 ff.). Der Überblick ist relativ ausführlich, damit die Analyse der informellen Strukturen eine bessere Basis hat. Des weiteren soll dadurch auch die Atmosphäre dort besser veranschaulicht werden.

Im 2.Kapitel wird die genossenschaftliche Selbstorganisation untersucht. Und dem einen Rahmen zu geben, wird die Genossenschaftsbewegung der damaligen Zeit im Verhältnis zu ihren historischen Bedingungen dargestellt. Die Untersuchung der Organisation des Monte Verità erfolgt unter den wirtschaftlichen und sozialen Aspekten ihrer Entwicklung bis 1920 hin.

Im 3.Kapitel geht es um das Verhältnis zur Natur. Wiederum in Bezug zur damaligen Zeit wird auf die Lebensreformbewegung in Ideen und Ausführung eingegangen, sowie auf die Rezeption dieser Bewegung auf dem Monte Verità. Schließlich wird das Verhältnis zu Natur und Technologie anhand zweier kontroverser Vorstellungen auf den Monte Verità betrachtet.

Im 4.Kapitel sollen Gründe für das Scheitern der Siedlung näher erörtert werden, sowie die Reaktionen der Umwelt auf das Projekt. In diesem Zusammenhang soll eine Einschätzung  der hier betrachteten Bewegung gegeben werden.

Im Schlußteil werden die Berührungspunkt des Monte Verità mit der zeitgenössischen Landkommunebewegung dargestellt. Hier soll näher darauf eingegangen werden, ob die Kerngedanken des Monte Verità in der zeitgenössischen Landkommunebewegung mit historisch bedingten Veränderungen wieder auftauchen.

Ein Anhang enthält die von mir zusammengestellten Biographien der Gründer, die zum Verständnis notwendig, aber in der Literatur nicht vorhanden sind. Außerdem die 'Provisorischen Statuten der vegetabilischen Gesellschaft des Monte Verità' und andere Dokumente. Auch diese waren in der Liteartur nicht vollständig vorhanden. Ich habe sie von Harald Szeemann erhalten, der eine Ausstellung über den Monte Verità plant.

 

I   Überblick über Entstehung und Verlauf der Siedlung Monte Verità

"Zuerst kamen die Vegetarier, die Grasfresser, die in weißen Hemden herumgingen und ihren Acker bebauten. Dann kamen die Gottsucher jeder Art. Astrologen, Gesundbeter, Buddhisten, die auch eine Erneuerung der Welt - aber von der Seele her - wollten. Wie die Urmönche der Wüste suchten sie die Einsamkeit von See und Fels, um mit dem Rätsel des Daseins zu ringen. Dann kamen die Verherrlicher des Lebens: die Maler, Bildhauer, Dichter, Architekten - insbesondere solche, die anderswo ihr Leben nicht mehr fristen konnten.

Unter dieser unermüdlichen Sonne trugen sie auch die bittersten Entbehrungen leichter. Zuletzt kamen die Millionäre."

(Wilhelm Schmidtbonn, zit. nach Riess, S.12)

 
Zeichnung von Gusto Gräser

1. Vorbereitendes Treffen in München

Im Oktober 1900 trafen sich in München einige Leute in der Wohnung von Ida Hofmann: sie selbst, Henri Oedenkoven, Karl Gräser, Gustav Gräser, Jenny Hofmann, Lotte Hattemer.

Es "... beseelte mehr oder weniger fast alle ein gleiches Verlangen nach Verlassen der veralteten gesellschaftlichen Ordnung, besser Unordnung, zum Zwecke persönlicheren Lebens und persönlicherer Lebensführung - nach Freiheit." (Hofmann, S.7)

Oedenkoven hatte bereits einen Plan entworfen: Er wollte eine Naturheilanstalt gründen, "für solche Menschen, die in Befolgung einfacher und natürlicher Lebensweise entweder vorübergehend Erholung oder durch dauernden Aufenthalt Genesung finden und sich in Wort und Tat seinen Ideen, seinem Wirken anschließen wollen." (Hofmann, S.6)

Gleichgesinnte können sich anschließen und finanziell beeiligen, so daß bei allgemeinem Bodenbesitz jede(r) persönliches Eigentumsrecht hatte und sich seine Gebrauchsartikel selbst herstellte.

Für später waren Mühlen, Webereien, Fabriken vorgesehen, wo Produkte zur Befriedigung der Bedürfnisse hergestellt werden sollten, aber keine Luxusgegenstände. Diese sollten auch nicht zur Kapitalanhäufung da sein. Auch waren Schulen geplant (vgl. Hofmann, S.7).

Die Gruppenmitglieder besprachen die Verwirklichungsmöglichkeiten eines solchen Plans und diskutierten, ob die einzelnen dafür geeignet seien, in praktischer wie moralischer Hinsicht, wobei Oedenkoven und Hofmann nicht hinterfragt wurden. Dabei wurde Gustav Gräser nicht gewünscht; er schloß sich trotzdem an.

Kommentar: Die Verfasserin übernimmt hier unkritisch die Darstellung von Ida Hofmann in eigener Sache. Aus dieser Quelle stammt die allgemein akzeptierte Legende, Oedenkoven sei der allein maßgebliche Erfinder und Betreiber des Monte Verità-Projekts gewesen. Leider liegt eine Darstellung von anderen Beteiligen nicht vor. Doch ergibt sich eine alternative Sicht allein schon aus der Tatsache, daß Gusto Gräser bereits einer Art von Landkommune angehört hatte, nämlich der Kolonie 'Humanitas' des Malers und Sozialreformers Diefenbach auf dem Himmelhof bei Wien. Er war also der einzige unter den Beteiligten, der schon Erfahrung in alternativer und kommunitärer Lebensweise gesammelt hatte. Daß er seine eigenen Vorstellungen von einer Liebeskommune im urchristlichen und zugleich lebensreformerischen Sinne mitbrachte und auf seinen Bruder übertrug, liegt auf der Hand, sollte sich auch im Verlauf des Unternehmens deutlich genug erweisen. Tatsache ist also, daß sich zwei verschiedene Konzeptionen alternativer Gemeinschaft von Anfang an gegenüber standen: die der Gräsers und die Oedenkovens. Aus eben diesem Grund und nicht nur aus persönlicher Abneigung versuchte Oedenkoven seinen Antipoden Gusto Gräser von Anfang an auszuschließen. Dies gelang ihm nicht, weil er auf die Mitarbeit und Beteiligung von Karl Gräser angewiesen war. Er allein mit der einzigen Anhängerin und Gesinnungsgenossin Ida Hofmann hätte eben keine Siedlung schaffen können. Das Unternehmen stand also von Beginn an auf einem oberflächlichen Kompromiß: jede der beiden Parteien war auf die andere angewiesen und jede hoffte, am Ende ihre eigene Konzeption durchsetzen zu können.


Zeichnung von Gusto Gräser

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2. Auf der Suche nach dem geeigneten Ort

                                                               

Bezüglich des Ortes  für solch ein Projekt war man sich einig, daß es im Süden sein müßte, wo es warm war, schön war und viele Früchte gab. So trennte man sich und machte sich allein oder zu zweit, in Reformkleidern, nur mit Sandalen barfuß auf den Weg, um am Ufer eines oberitalienischen Sees ein Grundstück zu finden. Überall fielen sie wegen ihres Aussehens auf. Besonders Lotte Hattemer und Ida Hofmann, zwei Frauen allein, ohne Korsett, Hut und Handschuhe, mußten sich einige Belästigungen gefallen lassen. Je weiter sie nach Süden kamen, desto offener und aufgeschlossener wurden die Leute.

In Ascona, einem Fischerdorf am Lago Maggiore, fanden sie den geeigneten Ort.

"Dieser Teil des Tessins war vorbereiteter Boden für die Ödenkovenschen Ideen ... Überall gab es Abseitslebende. Künstler, Philosophen, Theosophen, Vegetarier, politische Flüchtlinge. Nicht in großen Mengen, im Gegenteil, nur ganz vereinzelt, verstreut, aber doch genug, um einen Hauch des Besonderen, des Bereiten, des Empfänglichen über die Gegend zu legen." (Landmann, S.26)

Sie kauften am Monte Monescia, der später in "Monte Verità" umbenannt wurde, dreieinhalb Hektar steiniges, verwildertes Weidegelände.            

Kommentar: Es waren die Gebrüder Gräser, die das Gelände für den zukünftigen Monte Verità entdeckten. Zunächst hatte man gemeinsam in der Gegend des Comer Sees gesucht - ohne überzeugenden Erfolg. Dann trennte man sich; die Gräserbrüder wanderten zum Nordufer des Lago Maggiore, warfen Anker in Monti della Trinità über Locarno.

"Von Karl Gräser kam eine begeisterte Nachricht: 'Hier findet man wirkliche Menschen, auch langhaarige - und vegetarische Pensionen...' Da gab es kein Halten mehr!" (Landmann, S.21)

Das Trio Henri, Ida und Lotte schloß sich den Gräserbrüdern an, die in der vegetarischen Pension des Ehepaars Engelmann bereits wie zu Hause waren. In dem slowakischen Arzt Dr. Albert Skarvan, einem Anhänger Tolstois, der wegen seiner Überzeugung aus der Armee ausgestoßen worden war, hatten sie einen Gesinnungsgenossen  und Freund gefunden. Auf Streifzügen in der Umgegend hatten sie den Monte Monescia über Ascona entdeckt, für tauglich befunden und sogleich den Ankauf in die Wege geleitet. Der Asconese Luigi Antognini, der in den 50er Jahren noch aus inzwischen verschollenen Quellen schöpfen konnte, berichtet: 

"Die Gebrüder Gräser hatten Oedenkoven inzwischen mitgeteilt, daß sie auf der Collina von Ascona ein wunderschönes Terrain entdeckt hätten, das für die Anlage der Siedlung geeignet sei. Einige Tage später verließen alle drei [Henri, Ida und Lotte] die Pension in Monti della Trinità und begaben sich nach Ascona, wo sie von den Gräsers erwartet wurden. Sie hatten bereits sowohl für den Ankauf der Grundstücke die Wege geebnet wie auch für die Anmietung eines benachbarten Hauses, in dem sie sich provisorisch schon hatten einrichten können.

Ohne zu zögern gaben Henri und seine Begleiterinnen ihre Zustimmung zur Wahl dieses Platzes und zum Erwerb der Grundstücke. Sie lagen auf dem Gipfel des Weinbergs von Ascona, mit einem großartigen Ausblick über die ganze Gegend:  auf das Becken des Sees, bis hin nach Italien, auf Locarno und das Magadino bis hin nach Bellinzona, auf einen großen Teil des Valle Maggia." (In Rezzonico, S.26)

Geistig vorbereitet für die Ansiedler war diese Landschaft und speziell der Hügel von Ascona durch die Theosophen von Locarno einerseits, die dort ein theosophisches Kloster hatten errichten wollen, durch Michael Bakunin und andere Anarchisten andererseits, die im Tessin eine Zuflucht und Sympathien unter der Bevölkerung gefunden hatten. Der Hügel von Ascona bot also nicht nur berückende Aussicht, er lag zugleich am Schnittpunkt von rauher Bergnatur und mondäner städtischer Zivilisation (in Locarno): Einsiedlerwildnis mit Kulturanschluß. Für geistige und politische Freiheit waren hier schon Brückenköpfe geschlagen.

 

Zeichnung von Gusto Gräser

3. Erste Phase: Beginn und Freilagerzeit

Schon zu Beginn - kaum hatte man mit der Urbarmachung des Landes angefangen - gab es Auseinandersetzungen mit Gustav Gräser, der von Anfang an nicht erwünscht gewesen war. Er mußte trotz des Einspruchs von Karl Gräser gehen.

Die ersten Arbeiten waren: roden, Wege bauen und Material zum Häuserbauen vorbereiten. Männer und Frauen arbeiteten dasselbe, bis zu 12 Stunden am Tag. Im Laufe des Winters kam ein sechster Gesellschafter hinzu: Fritz Röhl. Er war von Beruf Tischler und Glaser gewesen, "hatte die verschiedensten Berufsphasen durchgemacht, seine Gesundheit dabei eingebüßt und sie durch Vegetarismus wiedergewonnen." (Hofmann, S.22)

Er hatte sich als Autodidakt eine gute Allgemeinbildung angeeignet und wollte sein Streben nach Freiheit und Brüderlichkeit in einem genossenschaftlichen Unternehmen verwirklichen (vgl. Landmann, S.38). Er als Praktiker brachte die unbeholfenen Amateure ein gutes Stück weiter. Trotzdem kam man ohne Hilfskräfte nicht aus: es wurden Arbeiter, Schreiner und Gärtner eingestellt.

Im  Sommer entstand ein reges Leben auf dem Berg: Viele Neugierige besichtigten gegen Eintrittsgeld die Siedlung. Außerdem kamen aus allen Schichten Menschen, die selbst ein anderes Leben führen wollten. "So bevölkerte sich Ascona und sein Berg mit allerlei Volk, das sich zum großen Teil aus überspannten und verschrobenen Sonderlingen zusammensetzte. Es kamen aber auch tüchtige, ernsthafte, selbständig denkende Leute." (Landmann, S.42)

Es bildete sich eine Art Freilager, der "Eindruck einer kommunistischen Kommune" (Landmann, S.43 f.) entstand, Fritz Röhl hielt in seiner halbfertigen Hütte Vorträge über Weltanschauungsfragen. Viele arbeiteten für ein bescheidenes Essen und Nachtlager. Für Ida Hofmann und Henri Oedenkoven war dies vor allem ein großes Durcheinander.

"Die Vereinigung so vieler verschiedener Elemente verursachte eine heillose Unordnung auf unserem Berge. Die meisten tun nicht das Notwendige zur Förderung des Zweckes, sondern ungefähr genau das, was ihnen beliebt" (Hofmann, S.32). Dagegen entsprach diese Art von Zusammenleben viel eher den Ideen von Fritz Röhl und Karl Gräser.

Oedenkoven und Hofmann gingen auf Reisen (zu Fuß) und schauten sich kulturelle Veranstaltungen an, sowie andere Naturheilanstalten.

Nach ihrer Rückkehr brachen die Meinungsverschiedenheiten zwischen Karl Gräser und ihnen (Fritz Röhl war schon vorher gegangen) vollends auf. Karl Gräser und Jenny Hofmann, die inzwischen sich, wie Henri Oedenkoven und Ida Hofmann auch, in freier Ehe (ohne kirchliche oder staatliche Bestätigung) zusammengeschlossen hatten, zogen nach größeren Streitigkeiten aus und siedelten sich auf einem benachbarten Grundstück an.

Lotte Hattemer war in immer mehr Weltfremdheit und eine Art religiösen Wahnsinns verfallen und kam kaum noch in Betracht (vgl. Landmann, S.53). So konnten Ida Hofmann und Henri Oedenkoven nun ungehindert ihre eigenen Vorstellungen verwirklichen.

Kommentar: Mit Beginn der praktischen Umsetzung konnte es keine Vernebelung der unterschiedlichen Positionen mehr geben, nun mußte die Entscheidung fallen: Liebesgemeinschaft oder Wirtschaftsunternehmen. Gusto Gräser, der keine Geldmittel hatte einbringen können, mußte dem notariell eingetragenen Besitzer des Ganzen weichen. Oedenkoven machte von seinem Hausrecht auch gegen den Widerstand von Karl Gräser Gebrauch. Damit war die Gemeinschaft im Prinzip schon aufgekündigt, der ursprüngliche Sinn des Projekts aufgegeben. Was blieb war ein Privatunternehmen des Ehepaars Hofmann-Oedenkoven.

Zugleich wird die Unvereinbarkeit der beiderseitigen Vorstellungen in aller Deutlichkeit sichtbar.

 Nachdem sich mit dem Handwerker Fritz Röhl ein weiterer Gesellschafter angeschlossen hat, der sich jedoch auf die Seite von Karl Gräser schlägt, bildet sich "ein wahres Freilager" von Suchenden, Bewunderern und Durchziehenden auf dem Berg. Ida Hofmann sieht mit Grausen eine "kommunistische Kolonie" sich entwickeln: "Allen, im Lebenstrubel zu Schaden gekommenen, unter der kapitalistischen Ausbeutung leidenden Existenzen soll zufolge Karl's communistisch-colonistischen Prinzipien und Fritzen's genossenschaftlichen Bestrebungen zur Lösung der sozialen Frage, bei uns geholfen werden." Ida antwortet darauf mit schneidender Kälte: "Henri und ich betrachten die meisten dieser Ankömmlinge als Kräfte, die freiwillig willkommene Arbeitsleistung gegen Kost und Quartier eintauschen" -  das heißt, als billige, unbezahlte Arbeitskräfte (Hofmann 26 f.).

Die Vorstellung der Gräsers wird sichtbar: Die Siedlung sollte eine Zuflucht werden für die Enterbten und Verdammten dieser Erde, "ein Zufluchtsort ... für entlassene oder entwichene Strafgefangene, für verfolgte Heimatlose, für alle diejenigen, die als Opfer der bestehenden Zustände gehetzt, gemartert, steuerlos treiben, und die doch die Sehnsucht nicht eingebüsst haben, unter Menschen, die sie als Mitmenschen achten, menschenwürdig zu leben" (Mühsam, S.58 f.).

 So hat Erich Mühsam, als Schüler von Karl Gräser, dessen Vision aufgenommen und weitergetragen, hat sie auch umgesetzt in den Gruppen des 'Sozialistischen Bundes', in seiner publizistischen und politischen Tätigkeit. Karl Gräser selbst, nachdem auch er von Oedenkoven aus dem Gemeinschafts-unternehmen gedrängt worden war, hat auf der schmalen Basis seines gartengroßen Grundstücks all denen Raum gewährt, "denen sich gegen Knechtschaft und Vergewaltigung in echtem Grimme der Mensch aufbäumte" (Mühsam, S.59). Oskar Maria Graf, der geprügelte Bäckerlehrling und spätere Schriftsteller, einer seiner Schützlinge, schreibt noch 50 Jahre später: "Carlo Gräser ...war in der dortigen Gegend sehr populär und hatte Anhänger und Verehrer in der ganzen Welt, denn jeder poltisch Verfolgte und Anarchist, der den Militärdienst verweigerte, fand bei ihm Unterkunft" (Graf, S.305). Ein anderes Mitglied der Guppe um Graf, Mühsam und Otto Groß, die in Ascona ihr eigentliches Zentrum hatte, der Schriftsteller Franz Jung , erinnert sich: "Wir hatten in München in der Gruppe TAT Leute, die an uns verwiesen wurden und die einem Einberufungsbefehl zum Militärdienst nicht folgen wollten, nach der Schweiz verfrachtet, für gewöhnlich zu den Gebrüdern Gräser in Ascona" (Jung 95).

 Karl Gräser als Jesus, gezeichnet von seinem Bruder Ernst

Erst recht wurde im Ersten Weltkrieg die Gräser-Enklave auf dem Berg zum Treffpunkt von Kriegs- und Systemgegnern wie Hermann Hesse, Ernst Bloch, Hugo Ball, Pierre Jean Jouve und anderen. Trotz der Ausschließung durch den "öden Käufer" Oedenkoven (Gusto Gräser) erhielt sich also der Ursinn der Kolonie, wie er von den Gebrüdern Gräser gemeint war: als eine Zelle und Zitadelle der Gegenkultur für ganz Europa.

 

Zusammenfassung:

Nach kurzandauerndem gemeinsamem Beginn mußte Gustav Gräser gehen.
Fritz Röhl kam als 6.Gesellschafter hinzu.
Entgegen Oedenkoven/Hofmanns Wunsch entstand eine Art Freilager: viele Outdrops aller Schichten ließen sich auf dem Monte Verità nieder.
Nach Auseinandersetzungen gingen Karl Gräser und Jenny Hofmann, ebenso Lotte Hattemer.
Oedenkoven und Hofmann blieben als alleinige Besitzer und bestimmten im weiteren den Verlauf.

Kommentar:  Die Initiatoren der Liebeskommune Monte Verità, Gusto und Karl Gräser, wurden von dem Kapitalbesitzer Oedenkoven aus der gemeinsamen Unternehmung verdrängt. Nach Ablauf des ersten Jahres gab es 2 Monte Veritàs: die Oedenkovensche Naturheilanstalt als Privatunternehmen bürgerlicher Lebensreform und das Obstbau- und Gartenanwesen der Gräsers als Freistatt für Empörer gegen das herrschende politische und kulturelle System.

       
Henri Oedenkoven und Ida Hofmann
mit dem Mitarbeiter Robert Jentschura 1903

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4. Zweite Phase: Oedenkoven/Hofmann verfestigen ihre Position

Henri Oedenkoven und Ida Hofmann stellten einen Unternehmer an, der drei Hütten baute. So gab es nun insgesamt fünf Wohnhütten und ein Lesezimmer. Es kamen neue Mitarbeiter, die meisten eher praktisch veranlagt. Im Frühjahr 1902 wurde der erste Prospekt herausgegeben und der Berg 'Monte Verità', 'Berg der Wahrheitsuchenden' genannt. Darin wurde eine Naturheilanstalt auf genossenschaftlicher Grundlage angekündigt. (Vgl. Landmann, S.65)

Die Reaktion waren Anfragen von Zeitschriften und Ärzten, Besuche von Professoren. Auch viele andere trafen ein, so z.B. Europamüde suchten dort Gleichgesinnte zum Auswandern in die Tropen, besonders nach Samoa, einer deutschen Kolonie in Polynesien, wo auch eine vegetarische Kolonie gegründet wurde.

In dieser Periode entstand neben der praktischen Arbeit auch ein reges geistiges Leben.

Oedenkoven und Hofmann betrieben eine rigide Personalpolitik. "Anfang Oktober vollzieht sich abermals der Auszug von einigen Mitarbeitern, deren Art und Weise sich nicht für die Ziele des 'Monte Verità' eignet. Der Vergleich mit einem Sieb, durch das noch viele fallen müssen, bis eine gesichtete Körperschaft den sittlich hohen Anforderungen des Unternehmens entspricht, ist so naheliegend, daß wir ihn zum darstellenden Motto wählen möchten." (Hofmann, S.73)

Neue Bewerber mußten eine Probezeit durchlaufen, um dann bei Bestehen von den beiden Gründern als freie Mitarbeiter eingesetzt zu werden. Ein Konsul Salomon lehnte alle tierischen Produkte, alle Gewürze und Salz ab. Oedenkoven stimmte dem zu, und so wurde dies nun zur Regel auf dem Monte Verità.

Dies schien aber sehr schwer einzuhalten zu sein, denn nach einiger Zeit gingen die Bewohner heimlich nachts in die umliegenden Dörfer und aßen dort auch Fleisch, Wurst und tranken Wein. gewisser Nahrungsmittel (Fleisch, Wein, Tee, Kaffee usw.) hemmend und so mancher läßt sich durch Ausschluß von Milch, Butter und Käse in unserer Diät grundlos abschrecken." (Hofmann, S.79)

Zu dieser Zeit werden Brot (ohne Hefe im Reformkocher hergestellt), Reform-kleidungsartikel und Obst (im eigenen Saft sterilisiert nach Weck's Verfahren) verkauft.  (Vgl. Hofmann, S.79 f.)

Ende 1904 wird der Mitarbeiterkreis wieder enger: er besteht nur noch aus Klara Linke, einem ehemaligen Kurgast und jetzt Mitarbeiterin, Henri Oedenkoven und Ida Hofmann. Die Aufnahmebedingungen werden strenger und die Organisation erfolgt nach dem Prinzip von Schüler- und Meisterschaft. Neuankömmlinge wurden als Schüler eingelernt.

Es kamen wieder neue Mitarbeiter. Berühmte Persönlichkeiten wie August Bebel widmeten dem Monte Verità einen Besuch; Erich Mühsam schrieb eine Broschüre. (Siehe zur Literatur S.9)

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Zusammenfassung bis 1905

Bis 1905 berichtet Ida Hofmann in ihren Memoiren von ungefähr 70 Leuten, die mitarbeiteten, wenn auch nur für ganz kurze Zeit.

Nach der Phase des Feilagerlebens wurden die Leute eher nach praktischen Gesichtspunkten ausgesucht, vor allem, ob sie tüchtig waren und die Arbeit weiterbrachten. Als der Monte Verità bekannter wurde, kamen auch Künstler, Ärzte, Professoren und politisch Engagierte. Nach der ersten gescheiterten Revolution 1905 in Rußland kamen viele Flüchtlinge, vor allem Studenten.

Die Arbeit allein mit den geistig zu arbeiten Gewohnten ging zuerst sehr langsam vorwärts; auch die vielen Leute, die in der Freilagerzeit da waren, brachten wenig zustande, da sie vor allem erst einmal das faule Leben genossen, d.h. nur dann arbeiteten, wenn sie Lust dazu hatten. Erst durch Mithilfe von Angestellten, bzw. Unternehmern machte die Urbarmachung Fortschritte. Die ersten größeren Investitionen wurden ungefähr 1904/1905 getätigt: Wasser- und  Elektrizitätsleitung. So konnten Maschinen eingesetzt werden; andererseits mußte mehr verdient werden, damit sich die Investitionen rentierten.

Schließlich wurde es auch den Gründern zu schwierig, und die strenge Diät wurde wieder aufgelockert.

Im Laufe des Sommers 1903 kamen einige Journalisten, um über "das vermeintliche 'Utopia' des 'Monte Verità'" (Hofmann, S.62) zu schreiben ("flüchtig verfaßte Artikel" nach Ida Hofmann, S.62).

Es kamen einige Gäste, die manchmal mehrere Monate dablieben.

Im Frühjahr 1904 hatte sich das Bild auf dem Monte Verità sehr verändert. "Grüne Wiesen und gepflegte Wege umgeben unser Gesellschaftshaus; von der ehemaligen Wildnis bleibt keine Spur." (Hofmann, S.79)

Allerdings wurde dies alles nicht ohne Tagelöhner und Handwerker bewerkstelligt. Der Besuch von Kranken war nicht so groß wie erwünscht, und Ida Hofmann führte das darauf zurück, daß so unterschiedlich von dem Berieb berichtet worden ist. "Auch wirkt das Vorurteil bezüglich gewisser Nahrungsmittel (Fleisch, Wein, Tee, Kaffee usw.) hemmend und so mancher läßt sich durch Ausschluß von Milch, Butter und Käse in unserer Diät grundlos abschrecken." (Hofmann, S.79)

Zu dieser Zeit werden Brot (ohne Hefe im Reformkocher hergestellt), Reform-kleidungsartikel und Obst (im eigenen Saft sterilisiert nach Weck's Verfahren) verkauft.  (Vgl. Hofmann, S.79 f.)

Ende 1904 wird der Mitarbeiterkreis wieder enger: er besteht nur noch aus Klara Linke, einem ehemaligen Kurgast und jetzt Mitarbeiterin, Henri Oedenkoven und Ida Hofmann. Die Aufnahmebedingungen werden strenger und die Organisation erfolgt nach dem Prinzip von Schüler- und Meisterschaft. Neuankömmlinge wurden als Schüler eingelernt.

Es kamen wieder neue Mitarbeiter. Berühmte Persönlichkeiten wie August Bebel widmeten dem Monte Verità einen Besuch; Erich Mühsam schrieb eine Broschüre. (Siehe zur Literatur S.9)

Kommentar: Nachdem das Gelände auf dem Weinberg von Ascona angekauft war, ließ sich Oedenkoven notariell als einziger Besitzer eintragen. Und dies, obwohl alle 5 Siedlungsgenossen ihre Mittel in die Gemeinschaft eingebracht hatten und als gleichberechtigte Partner galten oder doch gelten sollten. Weil aber Gusto seinen Besitz ganz, Karl den seinen weitgehend verschenkt hatte, Lotte Hattemer ebenfalls wenig bemittelt war, hatte Oedenkoven (der von seinen millionenschweren Eltern unterstützt wurde) von vornherein eine extreme finanzielle Übermacht, die er keineswegs, wie die Zukunft erweisen sollte, in brüderlicher Gemeinschaft zu teilen gedachte. Oedenkoven hatte sich dazuhin das juristische Fundament gesichert und zögerte nicht, davon Gebrauch zu machen.

Als erstes mußte der mißliebige Gusto verschwinden. Karl mochte sich für ihn einsetzen wie er wollte, Genosse Oedenkoven, der angeblich Gleiche unter Gleichen, machte von seinem Hausrecht Gebrauch.

Dabei blieb es nicht. Die Oedenkovens dachten keineswegs daran, sich pausenlos beim Aufbau der Hütten und Pflanzungen abzurackern. Schon nach wenigen Wochen leistet sich das Liebespaar einen Erholungsurlaub im bequemeren Milieu des Monte Trinità. Im Frühjahr verlassen sie die mitten im Aufbau befindliche Siedlung, um es sich in Genua und "an dem lieblichen Ortasee" (H 25) in erstklassigen Hotels wohl sein zu lassen. Später folgen ausgedehnte Reisen nach München, zum Tellspiel nach Altdorf, zu den Festspielen in Bayreuth, nach Paris. Cabaret, Oper, Theater, elegante Welt, feine Gesellschaft, wie gehabt. Für Ida Hofmann, ehemals abhängige Angestellte in balkanischen Mädchenpensionaten, muß es ein schwindelerregender Aufstieg in soziale Höhen gewesen sein.

Kurz: Von gleichen Rechten und Pflichten der Teilhaber keine Spur. Die weniger Begüterten, die ihren letzten Groschen in das Unternehmen gesteckt hatten, mochten sich inzwischen auf der Scholle abrackern. Kaum von der Genueser Vergnügungsreise zurückgekehrt, wirft man Karl Gräser Faulheit vor: angeblich ist in der Zwischenzeitzu wenig geschafft worden. Ein hinzugekommener sechster Gesellschafter, Fritz Röhl, hat sich an Karl angeschlossen und spricht zuviel von Freiheit, Brüderlichkeit und genossenschaftlichem Zusammenschließen; Lotte schwebt zu sehr in höheren Sphären. Alle drei haben "utopische Gelüste und fantasien" (G 20). Die Herrschaft ist unzufrieden.

Zum Glück strömen immer neue Idealisten hinzu, die freiwillig und kostenlos Arbeit leisten. "Unsere mitarbeiter", schreibt Ida, "erhalten keine bezahlung ihrer arbeit, den di arbeit eines menschen, der sich in idealem streben einer edlen sache widmet, ist unbezahlbar" (G 12 f.). Ein wahrhaft unbezahlbarer, von echtem Edelsinn erfüllter Satz!

Das Logis übrigens, das den Mitarbeitern gewährt wird, besteht aus einer Bettstelle ohne Federung oder Matratze, aber immerhin mit Strohsack und Decke (vgl. R 102).

Karl, der sich inzwischen mit ihrer Schwester Jenny verbunden hat, macht Ida den Vorschlag, sie möge doch auch ihr Vermögen in das Unternehmen einbringen. Ida ist mämlich lediglich mit den Zinsen ihres Vermögens beteiligt. Als sich auch noch Lotte mit dem (nicht ganz unbegründeten) Vorwurf einer "allzu üppigen Lebensweise" hervorwagt, die in krassem Gegensatz zum einfachen und harten Dasein der anderen stehe, ist das Maß für die Oedenkovens voll. Alle drei, auch die Schwester von Ida,  werden aus dem Paradies vertrieben. Karl wird ausbezahlt und kann damit einen Teil des ehemals gemeinsamen Grundbesitzes erwerben, Lotte findet Unterschlupf in einer leerstehenden Ruine. Nach einjährigem Bestehen hat die mit so viel Hoffnungen begonnene Lebens-, Wirtschafts- und Besitzgemeinschaft aufgehört zu existieren. Die Idealisten und Utopisten sind ausgebootet; Oedenkoven, der "öde Käufer", wie ihn die Gräsers nennen, kann triumphieren.

Von nun an ist Feindschaft gesetzt zwischen den "Kulturmenschen im Sinne der Zuchtwahl", wie Ida sich sieht und ausdrückt, und den "Naturmenschen" da draußen und unten (H 47). Streng nach Darwin: survival of the fittest. Bitte "keine Verwechslung von uns (vom Sanatorium Monte Verità) mit den Naturmenschen machen", sagt Oedenkoven zu Besuchern. "Das Verhältnis ist so: In der Mitte ist die grosse Menge der Mittelmenschen. Am einen Ende sind die Naturmenschen, am andern wir" (G 20). Wo wir sind, heißt das, ist oben.

Oedenkoven hat endlich freie Hand. Die Entscheidungen fallen Schlag auf Schlag. Der genossenschaftliche Schlendrian, in dem jeder sich nach Neigung und Ermessen freiwillig in die gemeinsame Arbeit einreihen konnte, muß beendet werden. "Die zu leistende Arbeit wird von der Leitung je nach Fähigkeit der Mitarbeiter angeordnet (H 43). Wer nicht pariert, der fliegt. In der Tugendsprache der Ida Hofmann liest sich das so: "Dank der Wahrheitsliebe, welche uns beseelt, findet jedoch ein für Jeden nützliches Feilen statt" (H 43).

Und es fliegen viele, denn  der Anspruch bewegt sich in biblischen Höhen: "Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt".

Es fliegt Willy Bradtke, "erklärter Sozialdemokrat" (H 37), es fliegen die beiden ersten Mitarbeiterinnen Henny und Marie Biber schon im Herbst 1902. Auch ihr Vater Rudolf Biber muß nach wenigen Monaten gehen (H 48).

Der sechste Gesellschafter, Fritz Röhl, in seinen libertären Bestrebungen nicht allzugern gesehen, kehrt der Kolonie den Rücken; er stirbt wenig später an den in italienischen Gefängnissen erlittenen Entbehrungen. Sein Freund Huster, ebenfalls Mitarbeiter, aber "von sozialdemokratischen Idealen erfasst" (H 26), sucht sein Heil lieber in Indien, zusammen mit Ferdinand Brune, der ebenfalls abgeht (H 30). Die Mitarbeiter Stelters, Germer und Vester wandern nach Samoa aus. Exkonsul Salomonson, wie sie selbst "ein glühender Verehrer Wagnerscher Musik" (H 50), der zu Idas Klavierspiel aus 'Parsifal' vorträgt, befindet sich bald "unter den unfreiwillig Scheidenden" (H 73). Pianist Lützow, ehemals Hofkapellmeister in Berlin, der ihre Konzerte virtuos auf der Geige begleitet, arbeitet zu wenig. "Wir geben ihm den Laufpass" (H 61). Luise Hecht, die unter sozialistischen Anwandlungen leidet, ist trotz Arbeitswilligkeit "kein geeignetes Element für den 'Monte Verità'" (H 73). "Der Vergleich mit einem Sieb, durch das noch Viele fallen müssen", schreibt Ida, sei so naheliegend, daß sie ihn zum Motto ihrer Darstellung wählen möchte (H 73). So wird auch die Trennung von Anita Dehn und Robert Jentschura zur Notwendigkeit. Robert wird von Henri "buchstäblich vor die Türe" geworfen (H 86). Auch über den dichterisch begabten Bruno Hauks muß, so schreibt sie mit Wagnerpathos, "die Scheide des schon so oft geschwungenen Trennungsschwertes" sich senken (H 48).

Der Ton ist nicht übermäßig menschenfreundlich. Von "Menschenmaterial" ist die Rede (H 73) und: "Es erfolgt die Entfernung schädlicher Elemente aus unserer Mitte, besonders der Faulenzer en gros" (H 60).

Am Ende finden sich die drei leitenden Direktoren Henri Oedenkoven, Ida Hofmann und Klara Linke allein auf der Schlachtstätte. Es ist ihnen gelungen, innerhalb dreier Jahre sämtliche Mitarbeiter und Gesellschafter zu vertreiben oder zu vergraulen. In ihrer Einsamkeit fühlen sie sich edel und auserwählt wie die "Essäer zur Zeit Christi und des Pythagoras" (H 87). Auch diese hatten die "bei uns nun eingeführte Organisation der Schüler- und Meisterschaft". Nur leider wollen sich keine Schüler einstellen. Darum: "Die Kategorie der Angestellten wird ... unvermeidlich und ich konstatiere eine bewusste Wiederaufnahme gesellschaftlicher Einrichtungen" (H 88).

Mit seiner selbsterdachten Ernährungslehre hatte Oedenkoven in der Praxis Schiffbruch erlitten. Sie erwies sich als krankmachend, auch für ihre Erfinder. Scharenweise stahlen sich die Anstaltsbewohner in die umliegenden Felder und Dörfer, um sich die entbehrten Nährstoffe zuzuführen, nach denen ihr Körper unabweisbar verlangte.  Der  schwedische Ernährungsforscher  und -reformer Are Waerland, in seiner ausführlichen Analyse der Sanatoriums-Diät, konstatiert  den "vollständigen Bankrott der Fruchternährung auf dem Monte Verità" (W 1).

Daß Kurgäste in hinreichender Anzahl ausblieben, muß auch auf den Charakter der Anstaltsleiter zurückgeführt werden. Ida Hofmann und Henri Oedenkoven gewannen sich - außer bei den Dorfbewohnern, auf die der Oedenkovensche Geldregen wie himmlisches Manna wirkte - wenig Sympathien. Weder Mühsam noch Grohmann noch irgendein anderer Zeuge kann sich für sie begeistern. Die Äußerungen sind durchweg kritisch, und die Journalisten, die 1903 gleich mehrfach den Berg besuchen, liefern ein nicht nur ironisches - was bei dem Thema durchaus zu erwarten war - sondern teilweise ein geradezu sarkastisch gezeichnetes Bild. Oedenkoven wird als kalt, herrisch und aufdringlich geschildert, Ida Hofmann zwar als ausgezeichnete Pianistin gepriesen, im übrigen aber als säuerliche "alte Jungfer" empfunden.

Die "berühmten Persönlichkeiten", die den Berg besuchen, wie August Bebel, Frederik van Eeden, Gabriele Reuter oder Hermann Hesse, kommen nicht wegen der Oedenkovens, sie kommen zu den Gräsers oder dem Anarchisten Raphael Friedeberg.

Die angeblich "flüchtig verfaßten" Artikel entpuppen sich als literarisch ausgefeilte Milieustudien begabter Journalisten, stimmungsvoll und oft mit Witz erzählt, allerdings mit leicht satirischem Einschlag. Henri Oedenkoven wird so vorgestellt:

"Das also ist der Herr 'oedenkoven-hofmann'. Ich weiß nicht, warum er die Großbuchstaben und die Akzente haßt. Er ist groß, mit nazarenischem Bart und Haar, eine elegante und würdige Erscheinung mit schlankem und kräftigem Körper. Er trägt eine kastanienbraune Tunika mit weiten und bequemen Ärmeln. Er ist der Direktor, er ist der Patron, er ist der Chef. Aber sein kalter und metallischer Blick gefällt mir nicht; seine Rede ist höflich aber streng. Er möchte, daß ich ein Sonnenbad nehme."

Obwohl der Journalist nur gekommen ist, um einen Bericht zu schreiben, wird er von Oedenkoven während des Essens zu einer Behandlung gedrängt:

  • "Wissen Sie, daß Sie sehr krank sind?"
  • "Ich?"
  • "Ja, Sie - fährt der liebenwürdige Herr Direktor fort - wir sind auf dem Berg der Wahrheit und ich sage es Ihnen frank und frei: binnen kurzem wird Sie eine äußerst schwere Krankheit befallen, mit verhängnisvollen Folgen. Sie sind schon völlig in einem Gärungszustand, Ihr Organismus..."
    (Ich bin drauf und dran zu sagen: ' verrecke, Astrologe', aber ein anerzogenes altes Vorurteil vom Typ 'unzivilisiertes Benehmen' hält mich zurück. Ich verspüre jedoch ein wahnsinniges Bedürfnis, ihm die nußbuttergeschmälzten Erbsen auf die Schnauze zu hauen).
  • "...Ihr Organismus ist in einem Gärungszustand..."
  • "Oh, da schau her! Und ich habe nichts davon gemerkt..."
  • "Sie nehmen alles auf die leichte Schulter."
  • "Aber hier ist doch alles so leicht, die Kleidung und das Essen..."
  • "Sie werden nicht mehr lange leben, alles in Ihnen befindet sich in Auflösung..."
  • "Hören Sie, ich will mich lieber auf der Stelle auflösen, als mich Ihnen anzuvertrauen, und sei es auch nur für 24 Stunden."

 

Von links: Ida Homann, Lotte Hattemer, Henri Oedenkoven mit Mitarbeitern
um 1903

5. Dritte Phase: Stetige Entwicklung zum kapitalistischen Unternehmen hin

1905 erschien ein von Henri O. und Ida H. ausgearbeiteter Prospekt, der die Gründung der 'Vegetabilischen Gesellschaft des Monte Verità' verkündete.

Er hatte 45 Paragraphen und legte unter anderem Zweck und Mittel, die Gruppierungen (ständige Mitglieder, aktive und passive), die Rechte und Pflichten der Mitglieder, Schüler, Mitarbeiter  und Angestellten sowie die Finanzen fest (hierauf wird später im Punkt Soziale Organisation ausführlicher eingegangen). (Nach Riess, S.33)

"Die praktisch-lebensreformerischen Seiten des Sanatoriums wurden in sachlicher Weise hervorgehoben, im Gegensatz zu früher, wo der Ton noch stark auf Weltanschauung und Gesellschaftsreform gestimmt war." (Landmann, S.99)

Durch Hervorhebung eher des Charakters eines Sanatoriums als eines Siedlungs-experimentes (Oedenkoven erlaubte sogar, nicht-vegetarisch zu essen), durch den Einsatz von Angestellten wurde der Besuch von Heilungsuchenden, Pensionsgästen und Besuchern stabiler, die Arbeit ging zügig voran.

Es wurde viel Reklame gemacht und die Zeitungen beschäftigten sich eingehend mit dem Experiment. In der nächsten Zeit kamen viele Berühmtheiten wie Hermann Hesse (er machte eine Alkoholentziehungskur), Fritz Brupbacher, Arzt und Schweizer Anarchist, Dr. Raphael Friedeberg (zuerst sozialdemokratischer Abgeordneter des Reichstages, dann Gründer der syndikalistischen Bewegung in Deutschland), Else Lasker-Schüler, eine Dichterin und Malerin, die zu der Bohème Berlins gehörte, um nur einige zu nennen.

Dr. Otto Groß, Schüler von Freud, kam mit einigen Freunden nach Ascona. Er vertrat "das Prinzip des Sichauslebens und wollte die Bergbewohner, die von sich und anderen strengste Selbstdisziplin forderten, ad absurdum führen." (Landmann, S. 123 f.)

Es wurden angeblich Orgien gefeiert (Landmann, Riess) und Rauschgift genommen, und der Kreis derer, die mitmachten, soll sich stetig erweitert haben. Doch dauerte dies nicht lange an. Spirismus und Okkultismus wurden von einigen Leuten betrieben.

Auch sogenannte "Edeldichtkunst" (Landmann, S.126) entstand um den Monte Verità (ein charakteristisches Produkt: 'Monte Verità' von Heinrich Kropp, ein Schauspiel mit hochtrabenden, pathetischen Worten). Ein Ungar, Szittya, schrieb das Kuriositätenkabinett, auf das im Literaturteil (Eineitung) eingegangen wird.

Zusammenfassung: Das Siedlungsexperiment entwickelt sich immer mehr zum Sanatorium und gleichzeitig zu einem Zentrum des geistigen Lebens aller möglichen Richtungen.

Kommentar: Daß Oedenkoven, nachdem er die ursprüngliche (informelle) Genossenschaft gründlich zerstört hat, sich im Jahre 1905 plötzlich als Genossenschaftsgründer betätigt - er entwirft in 45 Paragraphen eine 'Vegetabilische Gesellschaft des Monte Verità' - , hat einen einfachen Grund: die 'Vegetabilische Gesellschaft' dient vor allem der Kapitalbeschaffung. Jedes ständige Mitglied zahlt einen Eintrittsbetrag von 3000 Franken, der auch bei Austritt nicht wieder erstattet wird. Dafür gewinnt er das Recht, an den Arbeiten der Gesellschaft sich zu beteiligen und eine Beteiligung am Reingewinn. Da ein solcher nie zu erwarten stand und auch nie erzielt wurde, war nur die Arbeitsbeteiligung real, die Gewinnbeteiligung rein fiktiv. Die vorgebliche Genossenschaft erwies sich als idealistisch maskierte Ausbeutung.


Oedenkoven mit Mitarbeitern auf der Wiese vor dem Zentralhaus 1907

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6. Vierte Phase: Die letzten Versuche zur Rettung des Unternehmens

Seit 1905 waren trotz der vielen Besucher die Einnahmen stetig zurückgegangen und das Unternehmen konne sich nur mit Hilfe von Zuschüssen von Oedenkovens Mutter über Wasser halten (vgl. Riess, S.59).

Schließlich wurde das Verkaufshaus verpachtet und saniert, indem das Lager mit den Dingen erweitert wurde, die besonders guten Gewinn abwarfen. Doch im Lauf der Zeit kamen immer weniger Ausflügler und Oedenkoven gab den Laden wegen mangelnder Einnahmen wieder auf.

Aus strategischen Gründen wurde ein Hotel auf einem benachbarten Grundstück aufgekauft. "Eine Konzession zog die andere nach sich, wodurch dem Unternehmen ein Teil seiner einstigen Originalität geraubt wurde. Die Praxis siegte über die allzu hohen Ideale und fegte alle unfruchtbaren Theorien hinweg". (Landmann, S.144)

Dadurch wurden immer weniger Menschen angezogen, es gab nur noch einige Passanten, "die die berüchtigten Naturmenschen suchten" (Landmann, S.155), und die Einnahmen wurden immer weniger. Oedenkoven versuchte alles, den Berg zu retten, lud einen Fastenkünstler ein, der zur Attraktion werden sollte (und es kurzfristig auch wurde), schrieb Prospekt auf Prospekt.

Dies war ungefähr 1913, wo noch einmal viele Berühmtheiten kamen: Peter Kropotkin (russischer Anarchist, auf der Flucht), Isadora Duncan und Mary Wigman, berühmte Tänzerinnen, Laban, der eine Tanzschule in Ascona aufmachte, Emil Ludwig, Dichter, Marianne von Werefkin, Malerin, Hugo Ball, Dichter, Dadaist. Diese hielten sich aber meistens in Ascona auf, "auf dem Monte Verità wurde es stller und stiller." (Landmann, S.163)

1914 lernte Oedenkoven eine Engländerin kennen und lieben, die aber gegen die freie Ehe war. So schloß er eine bürgerliche, standesamtlich sanktionierte Ehe mit ihr (vgl. Landmann, S.160 f.).

1914 und1915 hielt die schlechte Entwicklung an und nur durch die finanzielle Bezuschussung durch Oedenkovens Mutter konnte der Betrieb überhaupt noch aufrecht erhalten werden. 1916 ging es wieder aufwärts und 1917 gab es eine Renaissance.

Hatte der erste Weltkrieg viele in die Heimat nach Deutschland gezogen, so wurde man nun kriegsmüde und hoffte, daß der Krieg bald zu Ende sein würde. Es sammelte sich eine pazifistische Bewegung um den Baron Wrangel, der auch schon vor dem Krieg pazifistische Broschüren herausgegeben hatte.

Doch trotz Aufschwung resignierte Oedenkoven, denn der Etat stimmte trotzdem nicht. "Das Grundstück war zu groß, die Unterhaltungskosten zu hoch." (Landmann, S.165)

Noch einmal kam ein Mann, namens Reuss, ein Spiritist, der alles zu retten versprach: Er gründete auf dem Monte Verità den Ordenstempel des Ostens (OTO). Zweck und Ziel wurden nach der vorhandenen Literatur nie richtig bekannt. Eine ältere Baronin wurde Großmeisterin zur Repräsentanz für Geldleute. Und tatsächlich flossen die Gelder, der Betrieb wurde sogar noch weiter ausgebaut. Es wurden große Feste gefeiert, Fackeltänze, dunkle Zeremonien, Weihehandlungen. Durch Hierarchisierung (nur wer in höhere Grade kam, wurde etwas mehr eingeweiht) blieb das Ganze interessant, aber nicht durchschaubar.

"Der Ruf des Monte Verità hatte durch die Affäre Reuß erheblich gelitten" (Landmann, S.170). Oedenkoven zog sich nun zurück an den Schreibtisch und arbeitete Pläne aus. Seine Frau, Ida Hofmann und die Wirtschafterin Klara Linke leiteten den Betrieb weiter. Klara Linke versuchte durch Gründung eines Kinderheims die Einnahmen zu vergrößern; zuerst lief es auch ganz gut, doch dann kamen Beschwerden und Warnungen.

Im Dezember 1919 wurde der Monte Verità an einen Herrn Scheuermann verpachtet.

Im Januar 1920 verließen Oedenkoven, seine Frau und Ida Hofmann Ascona, gingen nach Spanien, wo sie zuerst eine neue Siedlung ins Leben rufen wollten, verkauften dann aber ihr Grundstück dort günstig und siedelten nach Brasilien über. Dort gründeten sie eine vegetarische Versuchsstation "mit wenigen, aber aufgeweckten Mitarbeitern". (Landmann, S.177)

Zusammenfassung: Rettungsversuche durch Verpachtungen und Gründung eines exotischen Ordens scheiterten. Ida Hofmann und Oedenkoven mit Frau verpachteten das Unternehmen und gingen nach Brasilien.

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Quellen zum Kommentar:

Oskar Maria Graf
Gelächter von außen.
Aus meinem Leben 1918-1933.
Wien/München/Basel 1966
A. Grohmann 
Die Vegetarier-Ansiedelung
in Ascona
und die sogenannten
Naturmenschen im Tessin.
Halle a.S. 1904. (= G)
Ida Hofmann-Oedenkoven
Monte Verità.
Wahrheit ohne Dichtung.
Lorch 1906 (= H)
Robert Landmann      
Monte Verità Ascona.
Die Geschichte eines Berges.
Ascona 1934. (= L)
Erich Mühsam
Ascona. Eine Broschüre.
Locarno 1905/6. (= M)
Giò Rezzonico (Hg.)
Antologia di Cronaca
del Monte Verità.
Locarno 1992 (= R)
Are Waerland
Der vollständige Bankrott
der Fruchternährung
auf dem Monte Verità.
In: Waerlands Monatsmagazin,
 Mannheim 1952, Heft 11/12,
 S.1-7 (= W)

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