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Weihnachtsbaum und Wahrheitsberg

Von allen Bewohnern des Monte Verità hat sich den Asconesen Karl Gräser als derjenige eingeprägt, der den Christbaum ins Tessin gebracht hat. Der Ortschronist Giorgio Vaccchini weiß zu berichten:

Dank Vincenzo Bacchi (1891) erfuhr ich eine interessante Geschichte, nämlich wie und wann im Kanton Tessin die nordische Tradition des Weihnachtsbaumes eingeführt wurde. …

Die Sache mit dem Weihnachtsbaum war so: Es war im Jahre 1901. Sie waren vier Knaben im Alter von etwa 10 Jahren. Gräser hatte sie eingeladen, den Weihnachtsbaum anschauen zu kommen. Diese nordischen Leute wollen immer Tannen um sich haben, und hier bei uns haben sie welche in ihre Gärten gepflanzt neben die Häuser. Diese Art von Pflanzen macht sich bei uns nur im Gebirge gut. Sie aber hatten sie „im Blut, weil sie vom Norden kamen“.

Was kann das bloß sein?“ fragten sie sich. Sie wurden herzlich empfangen. „Kommt nur herein.“ Sie durchquerten den Garten und erblickten jenseits der Wiese „sül mött“, auf dem Hügel, einen Tannenbaum mit allen Herrlichkeiten an den Zweigen: Äpfel, Orangen, Schokolade, Bäckereien, bunte Papier-sterne… Die Buben schauten sich an, wie wenn sie sagen wollten: „Halten die uns zum Narren?“ Alle vier hatten den gleichen Gedanken, nämlich dass man ihnen weismachen wolle, alle diese Dinge seien auf dem Baum gewachsen und paff! brachen alle zusammen in schallendes Gelächter aus. Sie hielten sich den Bauch und kniffen die Augen zusammen, um sich gegenseitig nicht anschauen zu müssen. Sie schienen toll geworden zu sein.

Gräser und seine Freunde waren begeistert von dem Erfolg und füllten voll Rührung Hände und Taschen der Knaben mit den Süßigkeiten vom Baum. Sie bestanden darauf, die Kinder möchten soviel essen wie sie wollten Vincenzo Bacchi und seine Freunde ließen sie gewähren, denn es lohnte sich ja, aber sie lächelten immer noch und blinzelten sich zu. „War es möglich, dass diese Leute wirklich meinten, sie glaubten an den Zauber?“ Alle vier hörten auch auf dem Heimweg nicht auf, sich über die Naivität und Dummheit jener „Züchitt“ lustig zu machen, jener Kürbisse ohne Verstand. Sie waren zum Platzen satt.

Vincenzo beendete seine originelle Erzählung mit der fast entschuldigenden Bemerkung: „Natürlich können die heutigen Kinder nicht verstehen, was uns passiert ist, aber wie konnten wir etwas anderes denken, da wir noch nie einen Christbaum gesehen hatten, noch jemals davon gehört hatten? Sicher war jener der erste Weihnachtsbaum im ganzen Kanton Tessin!’“

(Giorgio Vacchini: Monte Verità. In: Harald Szeemann, Monte Verità. Berg der Wahrheit. Mailand 1978, S. 84)


Der Weihnachtsbaum von Karl Gräser inspirierte ein ehemaliges Zimmermädchen des Sanatoriums zu einem hochpoetischen Bild. Auch darüber hat uns Vacchini berichtet. Er hat von Teresin Bacchetta das folgende Urteil über die Wirkungen des Monte Verità gehört:

Das Dorf hat mit vollen Händen aus dem Brunnen Monte Verità geschöpft, es hat sich erhoben gegen die Traditionen. Es unterschied sich schon bald von den benachbarten Dörfern. Ascona erlebte ein wirtschaftliches, gesellschaftliches, ethisches, ästhetisches, künstlerisches, gewerbliches, architektonisches Wunder. Eine Revolution voller Zauber, die den Weihnachtsbaum von KARL GRÄSER in einen zweiten verwandelt hat: in den königlichen Berg, geschmückt mit niegesehenen Lichtern und niegehörten Stimmen, mit neuen Tänzen und Melodien, mit unbekannten Geschenken von WAHRHEIT, mit einer frischen MORGENDÄMMERUNG neuer IDEEN.“

(In Giorgio Vacchini: Ascona, Nr. 1501)


Ascona erlebte durch die Siedler eine Revolution, die den Berg in der Erinnerung seiner Bewohner wie einen Weihnachtsbaum erstrahlen ließ. Der Kampf gegen Angst und Vorurteil hatte allerdings zwanzig Jahre gedauert. Im größeren Dorf „Europa“ ist dieser Kampf nach hundert Jahren noch immer im Gange. Noch immer versperren Angst und Vorurteil den Blick auf das Licht, das über Ascona aufgegangen ist. Es wird noch einmal hundert Jahre dauern, bis auch die Nichtasconesen den Berg mit den Augen von Teresin Bacchetta sehen können: im Bild des reichbehängten, reichgeschmückten Weihnachtsbaums von Karl Gräser.