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Jules Chancel

DIE NATURMENSCHEN VOM MONTE VERITÀ

Französische und deutsche Zeitungen haben vom Bestehen einer Kolonie von Naturmenschen berichtet, in der Umgebung von Locarno, am Ufer des Lago Maggiore, „eine Art religiöse Sekte, deren Mitglieder völlig nackt durch die Berge streifen, in bizarren Aufmachungen auf die Märkte der Gegend kommen, um vegetarische Lebensmittel einzukaufen, die schließlich auf eine so besondere Art leben, dass die Polizei Grund hatte, sich über ihre Umtriebe Gedanken zu machen“.

Ich wollte mir Klarheit verschaffen, was dran ist an diesen Gerüchten, und nachdem ich gegen sieben Uhr morgens von Locarno aus losgezogen war, erreichte ich um neun den Monte Verità. Hier also, inmitten einer wahren Wüste aber in wunderschöner Lage, befinden sich verstreut die verschiedenen Bauten dieser modernen Eremiten.

Beeilen wir uns, die Legende zu zerstören, die im Lande über diese Naturmenschen des Monte Verità im Umlauf ist. Es handelt sich keineswegs um Fanatiker, die mehr oder weniger von den Theorien Tolstois oder Rousseaus inspiriert wären. Nein: das sind Künstler, Industrielle, Schriftsteller, die in dieser Thebais „die Stimme der Stille“ vernehmen wollen, indem sie unter bestimmten hygienischen Bedingungen leben, die wir kurz darlegen werden.

Wie man Naturmensch wird

Der Direktor und Besitzer dieser Sanatoriumskolonie ist ein Holländer: Herr Henri Oedenkoven. Trotz seiner langen Haarlocken, die von einem Band zurückgehalten werden, und trotz seiner weißen Tunika hat dieser Direktor nichts Mystisches oder Feierliches an sich.

Er ist der Sohn eines bedeutenden Industriellen der Niederlande und vierunddreißig Jahre alt. Bis zu seinem zwanzigsten Jahr lebte er das übliche Leben der Stadtmenschen aber unter unguten Bedingungen, denn er war krank und in den Fängen der Ärzte und der Medizinen. Ergebnis: ein völlig ruinierter Organismus. Die Ärzte schickten den Unglücklichen in das vegetarische Sanatorium des Doktor Kuhne in Leipzig. Nach einem Aufenthalt von einigen Monaten war Herr Oedenkoven geheilt, allein durch die Befolgung einer naturgemäßen Lebensweise und durch den Verzicht auf alle Arzneien.

Aber hier hört die Geschichte auf alltäglich zu sein: es scheint, dass jeder, der in die Geheimnisse der naturgemäßen Lebensweise und des Vegetarismus eingeweiht worden ist, eine Entwicklung durchmacht, die seine Lebensanschauungen verändert. Man kommt dahin, so sagt man mir, dass man sich nicht mehr dazu entschließen kann, die Wahnsinnslast aller unserer städtischen Gewohnheiten, deren Falschheit und Schädlichkeit man erkannt hat, wieder auf sich zu nehmen.

Eben so wie wir die Naturisten als Originale betrachten, eben so sehen sie mit tiefem Mitleid diese angeblich zivilisierte Menschheit, die eine lächerliche Kleidung trägt, die eine Nahrung zu sich nimmt, die den Körper vergiftet, die in verpesteter Luft lebt, und die sich endlich all jenen Stimulanzien ausliefert, deren eine die andere fordert und die von der simplen Zigarre bis zum furchtbaren Morphium führen.

Unter dem Einfluss dessen, was er seine Konversion nennt, flüchtete sich Oedenkoven in die Einsamkeit des Monte Verità, in ein Land, das die notwendigen Voraussetzungen bietet für die Umsetzung der Lehre vom naturgemäßen Leben.

Er kaufte diesen einsamen Berg, fern von jeder Stadt, wo diese drei notwendigen aber auch ausreichenden Elemente in Fülle vorhanden sind: Luft, Wasser, Sonne. Er ließ sich ein Holzhaus bauen, eine Art Hütte, ziemlich primitiv, und wartete.

Bald kamen andere Adepten der natürlichen Lebensweise hinzu und ließen sich bei ihm nieder. Die Holzhütten vervielfachten sich; man musste einen zentralen Pavillon für das Gemeinschaftsleben bauen, dann Baderäume, Duschräume, Glashäuser für die Lichtbäder, schließlich die ganzen zugehörigen Einrichtungen. Das ist summarisch gesprochen, gewiss, zeigt aber doch die Verwirklichung eines vollkommen vernünftigen Plans von Seiten derer, die ihn entwarfen, und sehr verschieden vom Lagerleben einer Schwärmersekte.

Wir finden da Vertreter aller Nationalitäten und aller sozialen Klassen: eine belgische Modistin und eine Pariser Doktorin, Madame Sosnowska; einen Industriellen aus Hamburg, einen Adjudanten des russischen Zaren, den Hauptmann Swetchine, einen amerikanischen Kaufmann; den Berliner Maler Fidus; einen ehemaligen Schauspieler vom bairischen Königshof; Schriftsteller und einen Druckereiarbeiter.

Einige leben hier seit Jahren, andere verbringen hier eine begrenzte Zeit, aber alle sind sie Apostel der Wahrheit, die sich für sie in dieser Formel zusammenfasst: Alles durch die Natur. Nichts gegen die Natur.

Sehen wir uns an, wie dieses einzigartige Gesetz auf dem Monte Verità umgesetzt wird, sehen wir zu, wie die Naturmenschen leben.

Die Siedlung und die Siedler

An allen Punkten des Berges, wo sich gerade eine schöne Aussicht bietet, sind einfache Holzhütten verschiedener Größe gebaut worden. Jede Familie hat ihr eigenes Holzhäuschen. Die anderen Gäste wohnen entweder allein oder in Gruppen, die verwandte Neigungen haben. Jeder lebt da wie er möchte. Kranke und Gesunde folgen hier der selben Behandlung, die sich stützt auf die Luft, das Licht und eine besondere Art der Ernährung, auf die wir gleich zu sprechen kommen werden.

Die Hütten sind komfortabel aber ohne jeden Luxus. Fußböden aus Linoleum, große Schiebefenster, die den Blick auf das großartige Panorama freigeben, eiserne Bettstellen, fließendes Wasser, Möbel aus Weidenholz. Für den Winter Dampfheizung, aber die Luft hat immer freien Zutritt.

Ein Teil des Anwesens ist mit Bretterzäunen umgeben und dort, mitten im Wald, verbringen die Naturisten gewöhnlich den Vormittag, ganz nackt, sei es, indem sie Sonnenbäder nehmen und in fließendem Wasser baden, sei es, indem sie im Garten arbeiten oder in verschiedenen Sportarten ihre Körperkräfte üben.

Die Damen, die sich „jenes lächerliche Gefühl, das man Scham nennt“, bewahrt haben, bleiben bekleidet oder schließen sich in einer besonderen Umzäunung ein.

Mittags um halb eins läutet eine Glocke; man zieht sich an – sehr sparsam – und begibt sich zum Zentralbau. Für die Männer besteht die Kleidung in einer Art sehr kurzer Tunika aus porösem Stoff, kurzer Hose und Sandalen. Die Frauen hüllen sich in wogende Draperien von verschiedener Form, deren Muster den Gemälden von Puvis de Chavannes und von gewissen japanischen Malern übernommen sind.

Selbstverständlich keine Korsetts, keine Röcke; Arme, Beine und Hals bleiben unbedeckt. Die Haare fallen offen auf die Schultern und werden durch ein einfaches Band zurückgehalten.

Nochmal: die Kleidung, wie alles andere, ist frei, und wer unsere übliche Mode beibehalten will, der kann das tun; aber nach einigen Wochen des Aufenthalts kommen alle notwendiger- und logischerweise dahin, sich so wenig wie möglich zu bekleiden. Das Kokettieren verschwindet, die Prüderie löst sich auf angesichts der „reinen Einfachheit der wohltätigen Natur“. Wer dächte daran, zum Beispiel das infernalische Korsett beizubehalten, nachdem er die Galerie der Röntgenaufnahmen gesehen hat, die die Verkrüppelungen zeigen, die jenes kriminelle Instrument verursacht hat?

Die Ernährung

Auf der Rückseite des gewaltigen Saales aus gestrichenem Holz, der als Gemeinschaftsraum dient, befindet sich eine Wand, die aus einer Reihe nummerierter Schubladen besteht. Jeder Naturist hat seine eigene Schublade. Er kommt herein, studiert das Menu, von dem wir später ein Beispiel mit den sehr annehmbaren Preisen geben, und schreibt die Gerichte, die er sich wünscht, auf ein Blatt Papier. Dieses Blatt wird in eine Schachtel gelegt, und einige Minuten später kann man seine Schublade öffnen.

Auf einem Tablett befinden sich das Besteck und die verschiedenen kleinen Teller aus Aluminium mit dem Kochkäse, dem Vollkornbrot und den Früchten, die die vegetarische Ernährung ausmachen. Ach, wahrhaftig! Ich werde Ihnen nicht versichern, dass diese Nahrung den Gaumen ungeheuer verwöhnt, aber die Eingeweihten werden Ihnen zunächst einmal sagen, dass man den Appetit nicht anreizen soll, weil man dadurch verführt wird, zuviel zu essen, und dann, dass sie jedenfalls einen großen Genuss darin finden, diese Gerichte zu kosten, die den Uneingeweihten so wenig verlockend scheinen.

Im übrigen muss man nicht glauben, dass die vegetarische Kost leicht herzurichten sei. Man muss sie in Spezialtöpfen bereiten, die die Eigenschaft haben, all die Nährsalze der Früchte und Gemüse zu erhalten, die wir in unserer üblichen Küche entweder verdampfen lassen oder im Wasser ersäufen. Die vegetarischen Köche verwenden niemals Wasser. Zum Kochen nutzen sie einzig und allein den Flüssigkeitsgehalt von Obst und Gemüse.

Jetzt ist dass Essen zu Ende. Es dauert nicht lange. Die Naturisten, die den Bestand ihrer Tabletts zu sich genommen haben, wo immer es ihnen gefiel, tragen sie nun selbst zu einem Bassin mit fließendem Wasser, wo das Geschirr sich leicht reinigen lässt. Und mit diesem kleinen Detail kommen wir von der Gesundheitslehre zur Philosophie.


Die Philosophie der Naturisten

Es gibt keine oder fast keine Bedienten auf Monte Verità. Jeder bedient sich selbst, denn Arbeit ist eine gesundheitliche Notwendigkeit. Die Frauen putzen ihre Zimmer, die Männer arbeiten im Garten, und Herr Swetchine, der Adjudant des Zaren, macht sein Bett und reinigt seine Wohnung.

Es stimmt: die häusliche Ordnung ist so konzipiert, dass sie diese Arbeit sehr leicht macht, selbst für diejenigen, die derlei nicht gewohnt sind. Die Räume haben warmes und kaltes Wasser und automatische Mülleimer. Über das System der Schubladen für die Mahlzeiten haben wir bereits gesprochen. Alles ist in die einfachste Form gebracht, und diese Art zu leben schafft unter den Bewohnern eine Atmosphäre der Gleichheit, die uns in die Nähe der Lehren Tolstois bringt.

Außerdem sind die Aufenthaltskosten für diejenigen, die auf dem Monte Verità leben wollen, sehr niedrig. Das Unternehmen ist in keiner Weise kommerziell, und sein Leiter hat nichts anderes im Auge, als die Zahl der Lufthütten zu vermehren.

Ein Kurgast zahlt, je nachdem, welche Freilufthütte er bewohnt, zwischen 5 und 9 Franken pro Tag, alles inbegriffen.

5 % Rabatt nach drei Monaten, 10 % nach sechs Monaten, und so weitergehend. Sonderpreise für Familien.

Trinkgeld ist streng verboten.

Warum man Vegetarier werden muss

Wenn wir den Naturisten glauben wollen, dann sind wir alle, die wir das Leben der Zivilisation leben, unsere eigenen Mörder.

Es braucht keine Krankheit zu geben, wenn wir nach der Wahrheit leben.

Die Menschheit hat versucht, mit Hilfe der Medizin die Krankheiten zu bekämpfen.

Das ist ein Irrweg: denn die Schulmedizin hat noch nie geheilt; sie trägt, ganz im Gegenteil, durch ihre Gifte zur Schädigung unserer Körper bei.

Eine der Hauptursachen für unseren üblichen Krankheitszustand ist unsere Ernährung, die nichts anderes bewirkt als eine langsame Vergiftung. Wir essen zu viel, weil wir unseren Appetit mit Saucen und Gewürzen anreizen; unser Organismus ist dann gezwungen, 60 Prozent der Nährstoffe, die wir in uns hineinschlingen, wieder auszuscheiden. Durch seine natürliche Abwehrkraft schafft er hinaus soviel er kann; eines schönen Tages aber ist er es müde, er kann nicht mehr: die Krankheit ist da, der Tod.

Übrigens läuft alles auf den Beweis hinaus, dass wir nicht zum Fleischessen geschaffen sind: unsere Reißzähne sind zu kurz, unsere Därme zu lang… Warum denn sich auf eine Nahrung versteifen, die, wenn sie uns nicht tatsächlich krank macht, uns auf die Dauer zwangsläufig und mit Sicherheit jenen Rattenschwanz kleiner Leiden einbringt, die wir schließlich als naturgegeben hinnehmen: den Rheumatismus, die Migräne, die Atemnot, die Fettsucht, die Arteriosklerose, das vorzeitige Altern?

Schluss

Ich habe gewissenhaft berichtet, was ich gesehen habe und was mir während meines Besuchs auf Monte Verità gesagt worden ist.

Es bleibt mir noch, die Geistesart der Naturisten zu schildern, mit denen zu sprechen ich Gelegenheit hatte.

Diese Menschen sind offensichtlich verschieden von jenen, denen wir sonst im Alltag begegnen. Von ihnen geht etwas wie jene Sanftheit und jener mystische Glaube aus, die man in Klöstern findet. Und doch, ich wiederhole mich, gibt es keinerlei Art von Religion oder Sektiererei in ihrer Gemeinschaft. Es handelt sich schlicht und einfach um Gesundheitsbeflissene, die sich sogar dagegen wehren, Philosophen genannt zu werden.

Und doch leben sie nicht nur für den Körper. Man pflegt die Künste in der Kolonie. Im Hauptbau gibt es eine Gemäldeausstellung und im Musiksaal studiert man die neuesten Partituren, die der Briefträger am Nachmittag auf seinem Esel hergebracht hat.

In der Gesellschaft dieser sanften, wohlwollenden Menschen mit ihrer nordischen Seele, die so verschieden ist von unserer lateinischen Art, war der Tag schnell vergangen.

In dem Augenblick, als ich mich von Herrn Oedenkoven verabschiedete, ihm die Hand gab, um wieder einzutauchen in unsere schändliche Zivilisation, zeigte er auf ein Baby von fünf oder sechs Monaten, das sich seit dem Morgen, lachend und glücklich, auf dem Rasen vergnügte, auf dem es ganz nackt herumrollte.

Schauen Sie sich dieses Kind an, sagte der Direktor zu mir, seine Mutter hatte es in den Schatten dieses Tulpenbaums gelegt, weil um ein Uhr die Sonne brannte, aber die Seebrise ist gekommen, es wird kühl, und nun sehen Sie, wie das Kind ganz von allein auf Händen und Füßen sich in die Sonne zieht, um sich zu wärmen… Es ist ein halbes Jahr alt, die Natur leitet es, immer die Natur!

Nach diesen Worten stieg ich bergabwärts, bewunderte dabei die biblische Silhouette des Naturisten, der sich versonnen zu dem nackten Kind beugte, das der Sonne entgegenlachte.

JULES CHANCEL.

Jules Chancel: LES NATURISTES DU MONTE-VERITA. In : L’Illustration, Nr. 3361, Paris, 27. Juli 1907, S. 58-59.


Nachwort

Der Artikel von Chancel öffnet ein überraschendes Zeitfenster in das Jahr 1907. Kein anderer Bericht über das Sanatorium von Oedenkoven ist so genau, kompakt, detailreich und zugleich so legendär. Eingangs wird Oedenkoven als ein Robinson gezeichnet, der allein in der Wüste sich ansiedelte und einsam ausharrte, bis andere nachzogen. Im Schlussbild erscheint er im milden Licht eines biblischen guten Hirten. Das sind fast schon mythische Stilisierungen, wie denn Chancel überhaupt die Oedenkovensche Perspektive kritiklos übernimmt. In der Schilderung des Faktischen dagegen befleißigt sich der Verfasser nüchterner Genauigkeit.

Wer ist dieser Verfasser? Jules Chancel (1867-1944) war nicht Irgendeiner sondern ein bekannter Dramatiker und Journalist. Eines seiner Theaterstücke wurde von Lubitch unter dem inzwischen zum Begriff gewordenen Titel ‚The Love Parade’ verfilmt.

Wie aber war die Kunde vom Wahrheitsberg nach Paris gedrungen? Als erste Beweger in der sich ausbreitenden Informationswelle gewahren wir die Gebrüder Gräser. Genauer gesagt, den ehemaligen österreichischen Erzherzog Leopold von Toscana, der inzwischen zum bürgerlichen Leopold Wölfling geworden war und Ostern 1905 die Gräsers auf dem Monte Verità besuchte. Der Erzherzog, ein Großneffe des Kaisers Franz Joseph, hatte sich in eine Kellnerin von zweifelhaftem Ruf verliebt und ihr zuliebe auf seinen Rang verzichtet. Für diesen Entschluss dürfte auch der Einfluss Karl Gräsers mitbestimmend gewesen sein, mit dem zusammen, seinem untergebenen Leutnant, er schon in seiner Garnison in Przemysl eine Gemeinschaft namens ‚Ohne Zwang’ gegründet hatte, in der alle Standesunterschiede aufgehoben waren. Ostern 1905 also besuchte der nunmehrige Wölfling mit Gattin seinen Freund Karl Gräser in Ascona, versuchte sich auch in dessen Lebensweise. Weil aber seine Frau Wilma sich noch weit mehr als er für das Gräsersche Naturleben begeisterte, kam es zum Streit zwischen den Eheleuten und schließlich zum Bruch der Ehe.

Eine solche Geschichte: der Erzherzog, der sich in eine Prostituierte verguckt, dem Hofleben Adieu sagt, dann sich den wilden „Naturmenschen“ von Ascona anschließt mit daraus folgendem Ehekrach – eine solche Geschichte war genau aus dem Stoff gemacht, nach dem die Boulevardpresse lechzt. Nun stürmten die Reporter nach Ascona, und wie üblich: was man nicht wusste, wurde erfunden, was man wusste, verzeichnet und übertrieben.

Diese Berichte wiederum waren Wasser auf die Mühle des Sanatoriumsgründers vom Monte Verità. Denn „Oedenkoven suchte nach Möglichkeit gute Verbindungen zur Presse herzustellen und tat, was er konnte, um sein Wirken weiten Kreisen bekannt zu machen. Sein Sekretär, der Maler de Beauclair, musste Reklameaufsätze verfassen und in geeigneten Blättern Anzeigen aufgeben. … Oedenkoven verfolgte aufmerksam alle Veröffentlichungen, die den Monte Verità betrafen, und paßte genau auf, ob irgendwo unrichtige Schilderungen auftauchten. De Beauclair hatte den Auftrag, keine falschen Darstellungen unwidersprochen zu lassen und jede Gelegenheit zu benutzen, vorteilhafte Berichte über das Unternehmen zu veranlassen“ (Landmann, S.90f.).

Diese Gelegenheit war nun gegeben. Durch Einsprüche, Leserbriefe und Prozessdrohungen brachte es Oedenkoven dahin, dass im Frühjahr 1907 mehrere Artikel über das Sanatorium in den Zeitschriften ‚Woche’, ‚Mensch’, im ‚Berliner Lokalanzeiger’ und im ‚Tag’ erschienen. Stein des Anstoßes waren Berichte über die Gebrüder Gräser, die als „unsittliche Höhlenbewohner“ geschildert wurden und eben als eine Art religiöse Sekte, deren Mitglieder völlig nackt durch die Berge streifen“. Dem entgegen musste de Beauclair betonen, dass Oedenkoven „aber gar nichts mit denen zu tun habe, die der Devise leben: zurück zur Natur! Er haßt, wie wir alle auf dem Monte Verità, die wir unter Oedenkoven mit Freude arbeiten, jene Naturmenschen und Primitiven“ (de Beauclair in Landmann 92).

De Beauclair musste sogar leugnen, dass es sich auf dem Berg um eine Kolonie handelte. „Diese Ansiedlung des Monte Verità ist keineswegs eine Kolonie! Wer mag den Irrtum nur aus der Luft gegriffen haben?“ (ebd.).

Genau diese polemische Abwehr finden wir nun in dem Artikel von Chancel wieder, wenn er meint, eine „légende accreditée dans le pays“ zerstören zu müssen. Es seien die Bewohner des Monte Veria nämlich „aucunement des énergumènes plus ou moins inspirés des théories der Tolstoi ou de Rousseau » (58). Die Gegebenheiten auf dem Berg seien « bien différent de ce que serait le campement d’une tribu d’illuminés » (59). Es existiere dort « aucune idée de religion ou de secte … dans leur réunion » (59).

Mit den Wahnsinnigen, Verrückten, Besessenen, Rasenden („énergumènes“), mit den religiösen Sektierern vom Stamme der Erleuchteten („illuminés“) sind natürlich die Gräsers und ihre Freunde gemeint.

Oedenkovens Abwehrkampf ist verständlich und von seiner Position her sogar berechtigt. Er fürchtete, der Ruf, der von den „Naturmenschen“ ausging, könnte mögliche Gäste seines Sanatoriums abschrecken. Daher zieht sich die heiße Spur der Polemik, dieser Bruderstreit zwischen einer kommerziellen und einer religiösen Konzeption des Monte Verità, von den ersten Jahren der Gründung bis zum heutigen Tag. Wirtschaftlich rentierendes Hygiene-Unternehmen oder kommunitäre Utopie? Fitnessbetrieb oder Brüdergemeinde? Realgeschichte oder Traumgeschichte?

Faktum ist, dass der Monte Verità seinen außergewöhnlichen Ruf, seine Attraktivität, seinen „Mythos“ den Gebrüdern Gräser verdankt. Ohne ihr Dasein wäre das wenig erfolgreiche Unternehmen Sanatorium heute so vergessen wie hundert andere Naturheilanstalten auch. Das Gerücht von den „Narren“, die möglicherweise „Erleuchtete“ waren, drang durch, überschwebte die nüchterne Realität von Duschen und Badewannen wie eine leuchtende Wolke.

Zunächst möchte man noch zweifeln, ob das Dasein der „Naturmenschen“ dem Sanatorium mehr geschadet oder mehr genützt hat. Eine genauere Betrachtung (die hier nicht ausgebreitet werden soll) zeigt jedoch, dass die kommerzielle Einrichtung von dem attraktiven Fluidum, das die Erscheinung der Gräserbrüder erzeugte, geradezu abhängig war. Um 1907 gab es eine Hochflut von Veröffentlichungen, dann wieder ab 1916, nachdem Gusto auf den Berg zurückgekehrt war und im selbstgebauten Einbaum über den See fuhr. Das Bild ging durch die Illustriertenpresse und zog die Friedensfreunde und Künstler nach Ascona. Mit dem Friedensschluss von 1918, als sowohl die Emigranten wie die Gräsers wegzogen, brach das Unternehmen Sanatorium zusammen.

Dem Journalisten Chancel des Jahres 1907 blieben diese Hintergründe verborgen. Er machte sich zum willigen Werkzeug der Oedenkovenschen Propaganda, hat uns aber dort, wo er den Ort realistisch beschreibt, ein Bild von sonst unerreichter Genauigkeit und Anschaulichkeit geliefert. In seiner Detailtreue liegt der große Wert dieses Dokuments, dessen Entdeckung wir dem Lyriker Frank Milautzcki verdanken. Ihm sei deshalb dieses Nachwort gewidmet.

Hermann Müller

Robert Landmann wird zitiert nach: Monte Verità Ascona. Die Geschichte eines Berges. Pancaldi Verlag Ascona, dritte Auflage, 1934

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