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Unsre
Zeit ist eine Zeit des Ueberganges; die alten Tafeln sind teils zerbrochen,
teils scheint uns ihr Inhalt unverständlich … Und doch ist in vielen der
heutigen Menschen der Wunsch nach neuen Wirkungsmöglichkeiten und damit nach
neuen Wirklichkeiten lebendig. … Ein berechtiger Wunsch ohne Zweifel. … Uns
dünkt, es sei das, was sich in den Prophetien Nietzsches vom Uebermenschen –
sein wirr-ekstatisches Stammeln recht verstanden – unserm Verstehen enthüllt:
Die Vereinigung von Natur und Kultur. … Erfreulich
ist es, wenn wir sehen, daß etwas, was bislang der öffentlichen Meinung, zum
großen Teil wenigstens, geradezu als Zerrbild menschlicher Lebenshaltung
präsentiert wurde, sich als Bild harmonischer Menschlichkeit erweist und zu den
schönsten Zukunftshoffnungen berechtigt. So
erging es uns mit Monte Verità. Die berühmte Naturmenschenkolonie am Lago
Maggiore, als welche sie vom Unverstande oder dem Mißverstehen vieler
hingestellt wurde, ist nicht nur äußerlich, sondern auch sinnbildlich der Gipfel
aller Gründungen, die im Tessin im Laufe der Jahre um die Ortschaften Locarno
und Ascona sich gruppiert haben. Monte Verità machte den Anfang. … Je
mehr die Arbeit fortschritt, das Land urbar gemacht wurde, die aufgestellten
Häuschen Wohnlichkeit ermöglichten und Heimatgefühl erweckten, um so mehr kam
auch das Gründerpaar von den allzuweit gehenden Extremen ab. Nicht so die übrigen
Mitgründer. Sie wollten von dem, was sie einfach nannten und was doch in
Wahrheit einerseits nur eigensinniges Beschränken, anderseits rücksichtslose
Losgebundenheit war, nicht ablassen. Sie schmähten in Oedenkoven und seiner
Gattin die Kapitalisten und machten ihre kommunistischen Ansprüche geltend. Es
kam zur Trennung. Von den Mitarbeitern haust heute nur noch einer, ein früherer
österreichischer Offizier [Karl Gräser], mit seiner Gattin [Jenny Hofmann],
einer Schwester Ida Hofmanns, auf einem umfänglichen Grundstücke unterhalb des
Monte Verità. Der
„Erdenbürger von Ascona“, wie sich der Mann vor Zeiten zu nennen liebte, ist
von dem, was er einst mit Eifer gegen die Kapitalisten verfocht, ebenfalls etwas
zurückgekommen. Er fühlt sich wohl in seinem Eigentum. Aber er vertritt noch
heute die Ansicht, daß wir alles, was wir zu des Leibes Nahrung und Notdurft
bedürfen, mit eignen Händen herstellen müssen. Bedauernd erklärt er, daß sein
Haus von „Menschen“ – Maurern – gebaut sei, und es ist ihm Schmerz, daß er die
Wasser-leitung von fremden Arbeitern anlegen lassen mußte. Es läßt sich denken,
daß ihnen zur Pflege geistiger Interessen wenig Zeit bleibt. Aber das hält der
„Erdenbürger“ auch nicht für nötig. „Schreiben und Reden ist nichts“, sagt er,
„wer dem Geiste des Lebens gehorcht, nach seinem Willen lebt, der tut, was er
einzig soll und kann. Wenn wir an der Erde arbeiten, kommen uns Gedanken, die
gehen auch ohne Zutun in die Welt und wirken dort, und auch unser Leben selbst
wirkt; das ist alles, was wir tun dürfen.“ … Monte
Verità ist auf dem besten Wege, eine Sammelstätte von Persönlichkeiten zu
werden, die einem neuen Lebensideal nachstreben und es, soweit als ihnen
möglich, verwirklichen. Die Kunst hat auf Monte Verità eine Heimstätte
gefunden. … Der individuellen Kleidung entspricht die individuelle Tanzkunst,
die man auf Monte Verità pflegt. Die rhythmische Gymnastik des Genfer Konservatoristen
Jacques Dalcroze wird dort eifrig propagiert. … Man
verliert also, wie wir sehen, auf Monte Verità weder den Zusammenhang mit der
Kultur, noch verneint man sie: man hat sich nur von ihrem Zwange befreit und
will über sie hinaus; man will Natur und Kultur zu einem Gesamtkunstwerk
verbinden, das recht eigentlich den Namen Leben verdient. Aus Freimark, Hans:
Von Suchern und Strebern In: Arena. Illustrierte Montatshefte für ein modernes Leben. Herausgeber Rudolf Presber. Jahrgang 1909/10, Heft 2, S.185-193 Mit sieben Fotos
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