Zurück zu Ludwig Ankenbrand auf dem Monte Verità und bei Diefenbach auf Capri
Jörg Albrecht
Mit Hund und Esel auf dem Weg zu Buddha - Ludwig Ankenbrands Pilgerreise
Die kleine Parthestadt Taucha im Nordosten von Leipzig ist zu recht regional wie zum Teil auch überregional bekannt, und sei es auch nicht wegen ihrer malerischen Auen-landschaften oder anderer lokaler Berühmtheiten, sondern lediglich wegen der besonderen Eigenart ihrer Bewohner. Weniger bekannt - und in der offiziellen Stadtgeschichte (noch) nicht erwähnt - ist der Umstand, dass von hier aus 1912 zu einer großen, mit vielen Erwartungen verbundenen Weltreise zu Fuß aufgebrochen wurde.
Der Initiator dieses Unternehmens Ludwig Ankenbrand (1888-1971) ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in den Alternativbewegungen des Wilhelminischen Kaiserreichs kulturelle und religiöse Bereiche überlappen und vielleicht gar nicht voneinander zu trennen sind. In Ernährungsweise oder Spiritualität wie in nahezu allen Sphären des Lebens - daher der Begriff der »Lebensreform« - sollten neue oder andere Wege beschritten, Gedanken formuliert und Ideen verwirklicht werden; und das sowohl auf der gesellschaftlichen als auch auf der persönlichen Ebene. Dies zeigt sich auch in den Vernetzungen der verschiedenen alternativen Gruppen durch Mehrfachmitgliedschaften nicht weniger ihrer Akteure.
Ludwig Ankenbrand wurde 1888 in Nürnberg geboren und wahrscheinlich in einem freireligiösen Umfeld sozialisiert. Schon früh soll er seine Wanderlust entdeckt haben. Es heißt, er habe mit 14 Jahren seine erste große Fußreise angetreten und sei von Nürnberg aus nach Warmbronn (in der Nähe von Stuttgart) gewandert. Dort wohnte der im Umfeld der Lebensreformer sehr bekannte schwäbische Bauerndichter Christian Wagner - zu dessen berühmtesten Verehrern u. a. auch Hermann Hesse zählte - den Ankenbrand unbedingt kennen lernen wollte. Um diese Zeit verließ er auch die Schule, allerdings ohne Abschluss. Er wohnte später wegen verschiedener wechselnder Tätigkeiten in Heidelberg, Berlin und Stuttgart. In den entsprechenden Kreisen der Lebensreformbewegung und Freidenker gelangte er ab 1906 zu einiger Anerkennung als Schriftsteller (und in geringerem Maße auch als Dichter) durch Veröffentlichung einer Anzahl von Büchern. Er engagierte sich intensiv in der Tierschutz- und Vegetarismusbewegung: So trat er 1907 dem Deutschen Vegetarier-Bund bei, arbeitete im Jahr 1909 im Berliner Tierschutzverein als Sekretär und Redakteur, wurde 1910 im frisch gegründeten Verein Naturschutzpark in Stuttgart tätig und wirkte permanent als Autor oder Redakteur an verschiedenen lebensreformerischen, naturheilkundlichen, tierschützerischen und vegetarischen Zeitschriften mit.
Ankenbrand im Sachsenland
Der 23-Jährige kam 1911 zusammen mit seiner Ehefrau nach Leipzig. Lisbeth Ankenbrand, geborene Symanzick, ebenfalls engagierte Lebensreformerin und Schriftstellerin, hatte er in Berlin kennen gelernt und später geheiratet. Jedoch scheint dies nicht Ankenbrands erster Aufenthalt in der Stadt an der Pleiße gewesen zu sein. Er soll bereits im Herbst 1909 in Leipzig zu tun gehabt und sich dabei sogar mit dem Indologen und führenden deutschen Buddhisten Karl Seidenstücker getroffen haben.
Das Ehepaar bezog nach seiner Ankunft eine Wohnung im schönen Taucha, in der Bahnhofstraße 13 (heute Portitzer Straße), in welcher sie »fortschrittlich« im Sinne ihrer Anschauungen mit einem weiteren Reformerpärchen in einer Wohngemeinschaft lebten.
Ankenbrands erster öffentlicher Auftritt in Leipzig fand am 24. Mai im Saal des Rosentalkasinos statt: Er hielt einen Vortrag mit dem Titel Der Zug zur Natur. Der Vortrag - medial mit den neuesten Mitteln gestaltet - beinhaltete eine Vorführung von Lichtbildern, auf denen »Luftbäder« (FKK-Gelände), Reformersiedlungen, Vegetarierkinder, Reformkleidung und ähnliches abgebildet waren.
Ankenbrand arbeitete in Leipzig für mehrere Verlage: Hauptsächlich war er für das Verlagsimperium des Theosophen Hugo Vollrath tätig, daneben für den Verlag des Vegetariers Karl Lentze, welcher in Leipzig die lebensreformerische Zeitschrift Die Lebenskunst herausgab. Auch soll er zeitgleich bei einem Konkurrenten Vollraths auf dem Markt für theosophische und buddhistische Literatur - dem Verleger Hans Fändrich - beschäftigt gewesen sein. Ankenbrands Hauptaufgabe bei Vollrath war die Redaktion der Zeitschrift Gesundes Leben. Diese Zeitschrift war von Wilhelm Hotz, einem ebenfalls verlegerisch tätigen vegetarischen Arzt und Sanatoriumsbetreiber in Thüringen, gegründet worden. Hotz war zudem Vorsitzender des gemeinsam mit Ankenbrand ins Dasein gerufenen Bundes für Gesundes Leben. Ankenbrand wechselte zusammen mit der Zeitschrift ab dem Mai 1911 vom Sanatorium Finkenmühle in Mellenbach im Thüringer Wald zu Vollraths Verlag in die Großstadt Leipzig über.
Über Tierschutz und Vegetarismus zum Buddhismus
Ankenbrand hatte seine schriftstellerische Laufbahn mit der Veröffentlichung von Büchern begonnen, in welchen er seine Auffassungen zum Tierschutz mit der so genannten »modernen Weltanschauung« der Freidenker und Freireligiösen, zu denen er sich selbst zählte, in Übereinstimmung zu bringen suchte. Beiden gemeinsam war eine Kritik am etablierten kirchlichen Christentum, welches in diesen Kreisen als rückständig und vor allem als widersprüchlich empfunden wurde: Für Ankenbrand galt dies insbesondere im Hinblick auf das grundlegende Tötungsverbot in den zehn Geboten, welches nach seiner Ansicht auch auf das Tierreich Anwendung finden müsse. Aus der heftigen Kritik am Christentum, aus dem freidenkerischen Atheismus und dem Bekenntnis zu Darwins Evolutionstheorie folgte jedoch keine Ablehnung von Religion an
sich, wie man vielleicht meinen könnte: Ankenbrand blieb ein religiös Suchender und fand schließlich im Buddhismus »seinen« Glauben. Auch hier war es ihm ein Anliegen, die Vereinbarkeit desselben mit der »modernen Weltanschauung« der Freidenker und verschiedenen lebensreformerischen Ansichten darzulegen und einzufordern. In einem Aufsatz mit dem Titel Der Buddhismus und die modernen Reformbestrebungen schrieb er:
»Der Buddhismus ist keine Religion im Sinne der uns bekannten semitischen Offenbarungs-Religionen, er kennt keinen Gott, braucht also auch keine Priester als Vermittler. Somit ist der Buddhismus nie als Staatskirche zur Knechtung des Volkes zu gebrauchen; -das Aussprechen der Zufluchts-Formel und das öffentliche Bekenntnis, Anhänger der Lehre zu sein, fordert konsequenterweise den Austritt aus der Landeskirche. Hiermit fasst der Buddhismus die moderne Freidenkerbewegung, die sich im Monistenbund, den Freidenkervereinen, den deutschkatholischen und freireligiösen Gemeinden bei uns äussert. Sind diese Freidenker Atheisten und fordern sie den Kirchenaustritt, und lehren sie auf Grund der Entwicklungslehre die Verwandtschaft aller Wesen, das All-Eins, den Monismus, so geht der Buddhismus hier noch einen Schritt weiter er - leitet dazu an, ihn zu leben. Jeder denkende Mensch muss sich sagen, dass es damit nicht getan ist, dass man nur lehrt, man sei Bruder aller Wesen - vielmehr erfordert die Logik nunmehr auch, kein Wesen mehr zu quälen, noch zu töten, sei es Mensch oder Tier. Damit ist der Buddhismus von vornherein gegen Krieg und Hinrichtung ebenso wohl, wie gegen Vivisektion, Schächten, Jagd, Fallenstellerei usw., fasst also gleichzeitig Friedens-, Tierschutz-, Antivivisektionsbewegung in sich.«1
Mit dieser Auffassung stand Ankenbrand bei Weitem nicht allein da. Der Hallenser Arzt Wolfgang Bohn, ebenfalls Buddhist und Vegetarier sowie ein sehr guter Freund Ankenbrands, hatte unter dem buddhistischen Namen Vasettho Schriften veröffentlicht, die sich mit dem »Buddhismus als Reformgedanke für unsere Zeit« beschäftigten.
Leipzig war vor dem Ersten Weltkrieg unbestritten das Zentrum des Buddhismus in Deutschland. Nicht zufällig wagte daher Ankenbrand hier den endgültigen Schritt und trat zum Buddhismus über. Sein Bekenntnis machte er außer durch den Eintritt in die Leipziger Mahabodhi-Gesellschaft durch eine Mahabodhi-Festnummer in seiner Zeitschrift Gesundes Leben öffentlich. Dort bezeichnet sich Ankenbrand als auf »buddhistischem Standpunkt« stehend, seine Leser wolle er jedoch nicht »missionieren«, sondern nur »informieren«.
Ankenbrand sah sich selbst als einen Mann der Tat. Praktisches Engagement war ihm deshalb nicht fremd. Dem entsprach auch seine Vorstellung von der buddhistischen Religion. So schrieb er: »Der Buddhismus ist die Religion der Tat, während das Christentum die des Glaubens ist.«2 Möglicherweise empfand er die Religionsausübung vieler deutscher Buddhisten als zu textlastig und zu lebensfremd. Seine Aussage, von »Religionszugehörigkeit und Lebensweise« her Buddhist zu sein, mag dies 1 2 zum Ausdruck bringen wollen. Seine Involvierung in die Gründung eines Bundes für buddhistisches Leben - durch seinen Freund Wolfgang Bohn, was letztlich zur Spaltung der Gemeinde der Leipziger Buddhisten führte - scheint vor diesem Hintergrund verständlich zu werden.
Das Wandern ist des Reformers Lust
Ankenbrands Sinn fürs Praktische führte nun zur Verwirklichung eines Projektes, welches in und außerhalb der alternativen Bewegungen über Leipzig hinaus großes Aufsehen erregte und mit wachem Interesse verfolgt wurde. Ab August 1911 kündigte er in verschiedenen lebensreformerischen, religiösen und lokalen Zeitschriften eine mehrjährige Fußreise oder »Wanderfahrt um die Welt« an. Dieses als »Forschungsreise« präsentierte Unternehmen sollte
»[...] dem Studium der Reformvereine, Vegetarierorganisationen, Guttemplerlogen, des Tierschutzwesens, der Lebensweise der größtenteils vegetarisch lebenden Völker und Religionen, besonders Asiens (Buddhismus, Parsentum, Jainismus usw.) [,..]«3 dienen. Außerdem hatte es den lebensreformerischen Zweck,
»[...] darzutun, daß man an jedem Fleck der Erde leben könne, ohne Fleisch und Alkohol zu genießen und dabei doch den größten Strapazen gewachsen sein kann.«3 4
In den diversen Ankündigungen der Weltreise finden sich zum Teil bemerkenswerte Unterschiede, durch die - wie es scheint - Ankenbrand die jeweilige Leserschaft erfolgreicher für das Unternehmen zu begeistern hoffte. So wurde beispielsweise angekündigt, verschiedene vegetarische Diäten auf der Reise ausprobieren zu wollen. Dass dabei auch Ernährungsvorschriften der mazdaznanischen Religion befolgt werden sollten, erfuhren nur die Leser von Mazdaznan, der Zeitschrift der Deutschen Mazdaz-nan-Zentrale in Leipzig. Ebenso wurden in den Ankündigungen in buddhistischen Zeitschriften geplante theosophische Reiseziele wie Adyar in Indien oder Point Loma in Kalifornien vermutlich aufgrund der Streitigkeiten der beiden Gruppen untereinander nicht erwähnt.
Und ausschließlich die buddhistischen Leser wurden von der tiefen religiösen Motivation des Unternehmens in Kenntnis gesetzt. In der Buddhistischen Welt wurde die Reise als eine »buddhistische Wallfahrt um die Welt« angekündigt und erwartet, dass das geplante Werk, welches Ankenbrand darüber zu verfassen beabsichtigte, »den Buddhismus auf deutsche[m] Boden um ein gutes Stück vorwärts bringen dürfte.«5
In einer extra zu Werbe- und Informationszwecken verfassten Broschüre, deren einziges erhaltenes Exemplar sich übrigens in der Bibliothek des Völkerkundemuseums in Leipzig befindet, stellt Ankenbrand in einem volkstümlich humoristischen Sprachstil die zukünftigen Reisegefährten vor:
»Was unsere Lebensweise anbelangt, so sind wir alle strenge Vegetarier und Abstinenten -nur einer, weil nun mal keine Regel ohne Ausnahme ist, nimmts mit dem Vegetarismus nicht so genau, ist überhaupt ein sonderlicher Kerl. Trotzdem er erst ein viertel Jahr alt ist, hat er sich uns angeschlossen und läuft tatsächlich schon, wie ein Alter. Doch, ich will die Leser nicht auf die Folter spannen. Nachstehend denn zuerst eine kurze Charakteristik der Reisegenossen:
1) Ludwig Ankenbrand, fast 24 Jahre alt, von Religionsbekenntnis und Lebensweise Buddhist, Verfasser einer Anzahl Bücher und einer Unmasse von Aufsätzen auf naturwissenschaftlichem und lebensreformistischem Gebiet, seither Redakteur der Monatsschrift >Gesundes Leben<, führt die Karawane und regiert während dieser Zeit absolut. Versteht sonst nichts von Politik. Geboren in Nürnberg an der Pegnitz.Tatsächlich wurde denn auch ein langohriges störrisches Tier namens »Hans« von einem Unterstützer des Reiseprojektes gestiftet.
2) Lisbeth Ankenbrand, 26 Jahre alt, aus der Kirche ausgetreten, glaubt an Geister -doch harmlos. Seit etwa eineinhalb Jahren mit Nr. 1) verheiratet. Im Uebrigen geboren in Königsberg i. Pr.
3) Eugen Beckmann, 28 Jahre alt, doch im übrigen klein und schmächtig, war Redakteur des >Atheist< und ist stark sozialistisch angehaucht. Haar friesischblond. Geburtsort: Leer im Nordwesten von Deutschland.
4) Anna Beckmann, geb. Pittner, 23 Jahre alt. Sieht unschuldig aus, noch kleiner als ihr Gemahl. Stammt aus Böhmen.
5) Georg Graser, 27 Jahre alt; ist Photograph von Gesichtern, Landschaften und allerlei Getier. Lebte zuletzt in Nürnberg, stammt aber eigentlich aus Niederbayern. Er ist der längste von uns.
6) Minna Symanzick, 21 Jahre alt, Schwester der Frau Ankenbrand, gebürtig aus Elbing, lebte zuletzt in Berlin. Will auf der Reise alte Jungfer werden.
7) Freund; ist der absonderliche Kerl<. Er ist ein Vierfüßler aus dem Stamme der Kriegshunde, ein Geschenk unseres Freundes, des Dr. med. Wolfgang Bohn. Geboren wurde Freund am 25. August von Maya. Sein Vater heißt Manas. Beide Eltern leben in Halle a. Saale. Freund hat unseren Schutz übernommen.
8) Graurock; ist ein Esel. Wir haben ihn noch nicht. Vielmehr soll er erst angeschafft werden - vielleicht schenkt ihn uns irgend ein Tierschutzverein oder ein Tierfreund. Er soll unser Gepäck tragen und im übrigen vollständig mit zur Familie zählen.«6
Die Reise sollte über Süddeutschland und die Schweiz nach Italien führen. Von dort aus wollte man mit dem Schiff nach Griechenland übersetzen und Kleinasien sowie Palästina bis nach Ägypten durchwandern. Mit der Option, zunächst einen Abstecher nach Abessinien (Äthiopien) und auf die Arabische Halbinsel zu machen, beabsichtigte man, sich dann nach Ceylon (Sri Lanka) einzuschiffen. Dort plante Ankenbrand einen längeren Studienaufenthalt in einem buddhistischen Kloster. Weiter sollte die Reise durch Indien, Siam (Thailand) und Burma (Myanmar), Tibet, China, Korea und Japan führen. Dann sollte ganz Nordamerika durchquert werden, wobei man hoffte, bereits eine rege Vortragstätigkeit über die »Erfolge« der Reise entfalten zu können. Schließlich wollte man nach der Durchwanderung von ganz Westeuropa -nach geschätzten vier bis sechs Jahren Dauer ab Aufbruch - nach Deutschland zurückkehren.
Unser Wanderweg. Die Pfeilrichtung bezeichnet die Wegrichtung. Stärkere Punkte neben der Wegbezeichnung bedeuten längeren Aufenthalt zwecks besonderer Studien. Sternchen bedeuten mögliche Nebenwege oder mögliche Aenderuugen des Weges.
Die geplante Reiseroute der Ankenbrandschen Weltreise.
Ankenbrands innovatives Reform-Marketing
Wichtigster Hintergrund der Ankündigungen war natürlich die Suche nach Unterstützung. Denn das Hauptproblem dieser Unternehmung bestand wie so häufig in der Finanzierung. Die Teilnehmer verfügten nach eigener Aussage über keinerlei Besitz. Ankenbrand stellte sich die Lösung des Problems folgendermaßen vor:
»Schließlich darf ein Punkt bei dem ganzen Unternehmen nicht außer acht gelassen werden: Es ist mit großen Kosten verknüpft! Wir gestatten uns daher, hierdurch alle Gesinnungsfreunde um möglichste Unterstützung zu bitten, sei es finanzielle Unterstützung, die Geschäftshäuser um Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände [...], Lodenstoff und Zeltleinen, die Verleger um Kartenmaterial und Führer; sei es durch Zusendenlassen von Ansichtskarten von der Reise, von Marken, Andenken, Statuen, Götzenbildern etc. oder durch Verbreitung unserer Schrift. Die Schiffahrtsgesellschaften bitten wir um Sonderpreise für die von uns befahrenen Strecken. Alle Vergünstigungen sollen in Aufsätzen, in weitverbreiteten Blättern, wie in Ankenbrands großem Reisewerk späterhin entsprechend gewürdigt werden.«7
Ankenbrand demonstrierte einen bemerkenswerten Geschäftssinn, wenn es darum ging, mit den unmöglichsten Dienstleistungen zu Geld zu kommen. Manche der Angebote dürften einen dabei zum Schmunzeln bringen, was wohl auch beabsichtigt war. So konnten z. B. Ansichtskarten von den auf der Reise besuchten Orten mit Bildern der Reisegruppe bestellt werden - mit den Autogrammen aller Teilnehmer. Ergänzt wurde dies allerdings durch die Einschränkung: »Hund und Esel können nicht schreiben!«8 9
Für die Postkarten und Werbebroschüren posierten die Reiseteilnehmer in einer exquisiten, kleidungsreformgerechten Reisegarderobe:
»Daß wir im unbequemen und unschönen, künstlerisch geschmacklosen, mitteleuropäischen Anzug die Wanderung nicht machen würden, war uns von vornherein klar. Ankenbrand hat deswegen bequeme Leinengewänder entworfen und zur Verzierung einige Stickereien dazu gezeichnet. Wo es uns nicht möglich ist, allen Kulturschwindel von uns zu werfen, d. h. vollständig nackt zu wandern, da tragen wir sechs - die beiden Vierfüßler gehen nur unter der Bedingung mit, daß sie immer nackt laufen dürfen, selbst ohne das kleinste Feigenblatt - diese Gewänder, die auch besser zu unseren langen Haaren passen, als Joppe, Weste und Hose. Vielleicht bietet uns dann nicht mehr, wie bisher, mitleidsvoll jeder Vorübergehende einen Groschen zum Haarschneiden an.«9
Die Reisegruppe in Reformkleidung: Eugen Beckmann, Anna Beckmann, Ludwig Ankenbrand, Lisbeth Ankenbrand (unten), Minna Symanzick, Georg Graser (oben).
Die »Verzierungen« bestanden unter anderem aus gut sichtbaren Hakenkreuzen, einem zu jener Zeit politisch noch relativ unbelasteten Symbol. Neben den Buddhisten und Anhängern anderer östlich inspirierter neuer Religionen verwendeten es aber bereits auch verschiedene völkische und rassistische Bewegungen, aus deren Ideenwelten sich die Nazis später versatzstückweise bedienen sollten und aus diesem Umfeld auch viele Anhänger rekrutieren konnten. Aufgrund der zunehmenden politischen Instrumentalisierung durch nationalsozialistische und andere Kreise trennten sich die deutschen Buddhisten bereits im Jahr 1920 schweren Herzens von diesem Symbol.
Die Bekanntgabe der Weltreiseabsichten führte zu einem erstaunlichen Feedback in der Öffentlichkeit. Auf die Ankündigungen der Reise, so schrieb Ankenbrand in seinem ersten Reisebericht, »[...] meldeten sich sofort etwa fünfzig Gesinnungsfreunde, die sich uns anschließen wollten.«10 Jedoch wurden die Angebote zurückgewiesen. Resigniert und auffällig darum bemüht, Professionalität zu demonstrieren, beschwerte sich Ankenbrand:
»Ich hätte nicht geglaubt, daß in unseren Reihen so viele Schwärmer und Phantasten leben, die allen festen Boden unter den Füßen verloren zu haben scheinen. Die meisten haben sich unsere Weltreise wohl als eine Naturmenschenfahrt um die Welt vorgestellt. Nichts aber ist unberechtigter als diese Annahme. Die Reise erfordert nicht nur umfassende Kenntnisse und Vorstudien, sondern auch eine außerordentliche Ausdauer, immerwährende körperliche und geistige Leistungsfähigkeit und Elastizität. Durch Vertretungen, die wir für die verschiedensten Firmen angenommen haben, durch unsere Mitarbeit an allen möglichen Blättern und Unternehmungen, wie durch unsere zahlreich angeknüpften Beziehungen im In- und Auslande, sind wir gezwungen, fortwährend einen großen Briefwechsel zu erledigen, Vorträge zu halten, zu photographieren, kaufmännisch zu arbeiten, Buchverleger, Zeitungen und Zeitschriften zu bedienen.«11
Umso erfolgreicher waren die »Sponsoring«-Aufrufe. Ankenbrand bedankte sich in verschiedenen Zeitschriftenartikeln bei einer langen Reihe von zum Teil namhaften Firmen und Personen, welche das Reiseunternehmen mit Zuwendungen verschiedenster Art unterstützten. Unter anderem wurden die Reiseteilnehmer mit jeder Menge vegetarischer Fertigkost, zahlreichen Reise- und Sprachführern, einer Fotoausrüstung sowie mit extra angefertigtem Reformschuhwerk und einer homöopathischen Reiseapotheke ausgestattet.
Ich bin dann mal weg...
»So begannen wir denn, wohl vorbereitet, mit allem ausgerüstet, mit Papieren und Pässen gespickt, am 11. Februar unsere Reise von Taucha aus. Als wir auf dem Eilenburger Bahnhof in Leipzig einfuhren, erwartete uns der erste Photograph.«10 11 12
Auf dem Weg nach Süddeutschland - ab Nürnberg sollte die eigentliche Fußreise beginnen - machte man unzählige Aufenthalte und Abschiedsfeiern: In Leipzig war bei
der Verabschiedung am Berliner Bahnhof neben Ankenbrands Arbeitgeber, dem Verleger Karl Lentze, eine stattliche Anzahl von lebensreformerischen »Gesinnungsfreunden« anwesend, vor allem Mitglieder des Leipziger Vegetariervereins und des alkoholabstinenten Guttemplerordens, aber auch Anhänger der Nacktkultur. Beim Zwischenstopp in Halle besuchte man beispielsweise den schon erwähnten Wolfgang Bohn, der ja auch »Freund, den Kriegshund« zur Reisegesellschaft beigesteuert hatte:
»In Halle erwartete uns Dr. Bohn am Bahnhofe und führte uns in die Döhlauer Heide, wo er eine kleine Einsiedelei im Schutze eines Buddhastandbildes hat. Dort erwartete uns die Guttemplerloge und Dr. Bohn spielte ergreifende buddhistische Abschiedslieder auf seinem Harmonium. Eine schöne photographische Aufnahme erhält uns diese Stunden in dauernder Erinnerung.«13
In Jena besuchte man den »greisen« Ernst Haeckel, jenen berühmten Zoologen, der Darwin in Deutschland bekannt gemacht hatte - und daher auch von den Zeitgenossen der »Darwin des kleinen Mannes« genannt wurde - und Gründer des Deutschen Monistenbundes war. In Thüringen verabschiedete man sich von Wilhelm Hotz in seinem Sanatorium in Mellenbach. Schließlich gelangte man über einige weitere Stationen (Wanderung durch den Thüringer Wald, Franken etc.) in Ankenbrands Geburtsstadt Nürnberg.
Beim dortigen Vegetarierverein wurde eine große Informations- und Abschiedsveranstaltung abgehalten. Ankenbrands Vortrag über die geplante Weltreise war dermaßen überlaufen, dass er wiederholt werden musste, da nicht alle Zuhörer im vegetarischen Speisehaus Thalysia Platz fanden. Ein Mitglied der dortigen Gesellschaft für Vegetarismus und allseitigen Fortschritt schrieb in der Vegetarischen Warte:
»Eine solche Fülle von Menschen hatte die Thalysia noch nie gesehen. Ludwig Ankenbrand sprach begeistert und begeisternd, indem er die wesentlichen Beweggründe seiner Weltdurchwanderung zu Fuß unter vegetarischen und abstinenten Lebensbedingungen hervorhob.«14
Die Veranstaltung hinterließ anscheinend einen tiefen Eindruck beim Publikum und löste offensichtlich bei Ankenbrands Angehörigen solch eine epidemische Begeisterung für die Lebensweise ihres »berühmten« Verwandten aus, dass seine Familie sofort geschlossen dem örtlichen Vegetarierverein beitrat.
Von Nürnberg aus ging es weiter Richtung Süden, unterbrochen durch zusätzliche Aufenthalte. Schließlich gelangte man nach München. Doch blieben die Harmonie und der Erfolg der Reise seitdem nicht mehr ungetrübt, wodurch bereits ein Schatten auf noch kommende Ereignisse der Wanderfahrt voraus geworfen wurde. Bereits hier zeigte ein erster Reisegenosse Ausfallerscheinungen:
»So waren wir denn mit unserem schwerbeladenen Eselein (er trug im ganzen etwa ein Gewicht von hundert Pfund) nach München gekommen, wo uns so viele Stunden in Gesellschaft lieber Gesinnungsfreunde beschieden sein sollten. >Komm, Hansel, komm!< Aber
Hansel stand wie angewurzelt und ließ sich von den umstehenden Neugierigen bedauern: >Ach, der arme Esel muß aber viel tragen!<«15
Als die Reiseroute bergiger wurde und man noch mit winterlichen Wettererscheinungen zu kämpfen hatte, fällte man (sicherlich auch aus tierethischen Motiven) eine schmerzliche Entscheidung:
»Unser Esel, der sich schon ohnehin nicht auf Eilzugsgeschwindigkeit einließ, versagte hier vollständig, und wir hatten Mühe, ihn täglich 10 bis 11 Kilometer fortzubringen. Und wie in Linderhof noch Neuschnee fiel, und später ein Bindfadenregen einsetzte, blieb uns nichts anderes übrig, als unseren achten Reisegenossen von einer weiteren Beteiligung an der Weltreise zu entbinden und ihm in Schloß Linderhof zu einer guten Stelle zu verhelfen. Er wird dort in Zukunft mit den Kindern spielen, wenn das Wetter sonnig ist, und in trüben Tagen sich seinen Erinnerungen hingeben.«16
Wir wollen die Weltreisenden hier verlassen und bei anderer Gelegenheit die weitere Reise - die zwar nicht um die ganze Welt, doch immerhin (wenn auch unfreiwillig) bis nach Australien führte - schildern.
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Ludwig Ankenbrand in einem australischen Internierungslager, 1915.
Zum Weiterlesen
Grundlegend für die Ausführungen im Artikel ist die unveröffentlichte religionswissenschaftliche Magisterarbeit des Autors (Ludwig Ankenbrand - ein »multipler Devianter«. Eine Falluntersuchung zur »multiplen Devianz« im Kontext der Alternativbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg), welche bislang die einzige systematische Forschung zur Biographie Ankenbrands darstellt. Kürzere Darstellungen zu Ludwig Ankenbrand, die auch den weiteren Verlauf der Weltreise berühren, finden sich in folgenden Publikationen:
Albrecht, Jörg: »Ludwig Ankenbrand (1888-1971)«, in: Humanistische Rundschau 2008, Nr. 1, S. 8-9.
(online: http://www.dhuw.de/cms/files/rundschau_1q2008.pdf).
Hecker, Hellmuth: Lebensbilder deutscher Buddhisten. Ein bio-bibliographisches Handbuch, Band II: Die Nachfolger. Konstanz: Universität Konstanz, Forschungsprojekt »Buddhistischer Modernismus« 1997, S. 1-4.Freidenker:Atheistisches Vereinswesen, Feuerbestattung Tierschützer
Tierschutz:
naturheilkundlich:
Karl Seidenstücker:
Hugo Vollrath:
Buddhismus:
mazdaznanisch:
theosophisch:
völkisch:
alkoholabstinent: Deutscher Monistenbund:
Naturheilkunde, Carl Huter, Tierschützer Buddhisten
Okkultes Leipzig, Theosophen, Buddhisten
Buddhisten, Theosophen
Mazdaznan
Theosophen, Okkultes Leipzig, Buddhisten
Völkische Bewegung, Theodor Fritsch, Völkerschlachtdenkmal
Abstinenzbewegung
Atheistisches Vereinswesen, Daniel Paul Schreber, Volksbildung
1
Ludwig Ankenbrand: »Der Buddhismus und die modernen Reformbestrebungen«, in: Buddhistische Warte 3 (1911), Nr. 1-2, S. 58 f.
2
Ludwig Ankenbrand: »Etwas über den Buddhismus«, in: Der Atheist 6 (1910), Nr. 47, S. 373.
3
Ohne Verf. [Ludwig Ankenbrand]: »Zu Fuß um die Welt«, in: Die Lebenskunst. Zeitschrift für persönliche Kultur, Rundschau auf dem Gebiete moderner Reformarbeit 1911, Nr. 16, S. 401.
4
Ohne Verf.: »Acht Weltreisende«. In: Leipziger Neueste Nachrichten 1911, Nr. 262, 3. Beilage.
5
Ludwig Ankenbrand: »Eine buddhistische Wallfahrt rund um die Welt«, in: Die Buddhistische Welt. Deutsche Monatsschrift für Buddhismus 5 (1911/12), Heft 7-8, S. 248.
6
Ohne Verf. [Ludwig Ankenbrand]: Eine Fußreise um die Welt. o. O. [Leipzig], o. J. [1911] S. 6 f.
7
Ebd., S. 16.
8
Ebd., unpaginierter Inseratanhang.
9
Ebd., S. 10.
10
Ludwig Ankenbrand: »Weltreise-Vorspiel«, in: Vegetarische Warte 1912, Heft 7, S. 63 f.
11
Ebd., S. 63.
12
Ebd., S. 64.
13
Ebd.
14
Vegetarische Warte 1912, Heft 6, S. 58.
15
Eugen Beckmann: »Weiteres über unsere Weltreise«, in: Vegetarische Warte 1912, Heft 11, S. 107.
16
Ebd.
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