Fidus (Hugo Höppener)
 
Fidus (bürgerlich Hugo Reinhold Karl Johann Höppener)
 
* 8. Oktober 1868 in Lübeck

† 23. Februar 1948 in Woltersdorf
 
war ein deutscher Maler, Illustrator und bedeutender Vertreter der Lebensreform.


Zeittafel zu Fidus und Monte Verità
 
1903 Hofmann/Oedenkoven besuchten Klein 1903 in Amden, dort lernten sie auch Fidus kennen (siehe Ida Hofmann: W. o. D.)
Theo Kneubühler in Szeemann: Monte Verità, S.149

Fidus berichtet über die Begegnung mit Gusto Gräser auf dem Grappenhof in Amden 1903.

1907 Foto: Fidus auf dem Monte Verità. Foto von Hering, Sammlung Staub.
In Szeemann: MV, S.92

29. 12. 1908 Oedenkoven an Fidus:
Mein lieber Herr Fidus. Außerordentlich erfreut mich ihre erinnerung.
Ich wollte ihnen kurz nach ihrem scheiden von hier schreiben, aber ich fühlte das nutzlose davon, die unmöglichkeit für mich einzugreifen; und ich musste es lassen. Ich muß es heute auch noch lassen, weil ich ihre lage nicht mehr kenne, nicht weiß wie sie sich verändert hat. Im sommer komme ich wohl nach Bayern und nach Deutschland und hoffe sie zu treffen. Damals peinigte mich ihre geistige gefangenschaft, überhaupt ihre gänzliche gefangen-schaft, fürchterlich.
Eines möchte ich mir erklären: was ist es an ihrer kunst, was mich an einem teil ihrer werke so unwiderstehlich anzieht, und von anderen ebenso unwiderstehlich abstößt? Wie ist es möglich, daß ein geist so widersprechendes hervor bringt? Und ich denke an erwähnte gefangenschaft; ob ihr eigenes nur unter fremdem einfluß einmal gut, einmal schlecht sich äußert? (...)
Sehr gerne hätten wir hier das atelier bauen sehen; da es aber nicht sein konnte, freuen wir uns sehr, daß sie es doch erreichten. Wenn sie sich aber doch trennen können, zeitweilig, wird es meine frau und mich selbst freuen, sie hier zu haben."
In: Szeemann: Monte Verità, S.142

13. 1. 1913 Ida Hofmann an Fidus:
"Erwartet auch von Dr. Steiner keinen Gott, sondern einen bedeutenden Lehrer ... "
... An die Wiedergeburt glaubte Ida Hofmann, die im genannten Brief an Fidus schrieb: Der Gedanke an die Wiedergeburt tröste sie im Hinblick auf einen jungen Künstler, der noch keine Chance hatte, sich zu entwickeln. Möglicherweise bedeutete ihr die Wiedergeburt auch ein Trost beim Anblick unheilbar Kranker ...
Antje Graevenitz in Szeemann: Monte Verità, S. 90

1936? Postkarte von Fidus an Unbekannt mit "Tempel der Weissen Bruderschaft" von 1911.
Dies dürfte "heute" wohl nur mit Vorsicht gezeigt werden? weil "international" und "okkultistisch" anmutend. "Zum Glück" kaufte diesen farbigen Entwurf schon 1932 der jetzige Besitzer des lebensreformerischen Monte Verità über Ascona im Tessin, wo ja "alle Verrückten und Emigranten" sich aufhalten. Ich war dort nur 2 mal Besucher - vor 1933!
Lichtdeutsch und Pg. seit 1. V. 32 Fidus

Fidus: Entwurf zu ‚Tempel der Erde‘.
Fidus wollte den Tempel auf dem Monte Verità errichten,
konnte aber mit Oedenkoven nicht einig werden.

Gusto Gräser und Fidus

Der Maler Hugo Höppener (1868-1948), genannt Fidus, war wie Gräser ein Schüler von Diefenbach gewesen, allerdings zehn Jahre früher. Es lag nahe, dass der Siebenbürger um 1900 diesen Geistesverwandten in Friedrichshagen aufsuchte. Im Jahre 1903 trafen sie sich wieder in der theosophischen Kolonie von Josua Klein über dem Walensee in der Schweiz. Gräser wird ihm sicher vom Monte Verità erzählt haben. Es dürfte also so nicht zum wenigsten der Siebenbürger gewesen sein, der ihn auf die Idee brachte, auf dem Monte Verità seinen langersehnten Tempelbau zu errichten. Nichts lag näher, eine Bruderschaft war von Diefenbach her gegeben, und der Berg bot eine geschlossene lebensreformerische Gemeinde in symbolisch wirksamer Höhenlage. Und dies in der Mitte Europas, in idealer Landschaft.

Frühsommer 1907 zog Fidus nach Ascona in der Hoffnung, auf dem Felsboden der „Wahrheit“ seinen „Tempel der Erde“ gründen zu können. Es muss für ihn eine bittere Enttäuschung bedeutet haben, dass Henri Oedenkoven seinen Absichten ablehnend gegenüber stand – vielleicht wegen der theosophischen Anschauungen des Malerarchitekten.

Als dann Gräser 1911 mit Pferdefuhrwerk und seiner großen Familie nach Berlin kam, muss Fidus wiederum Anlaufstelle gewesen sein. Ein „Frau Wilhelmine [Elisabeth] Graeser“ gewidmetes Exlibris hat sich erhalten. Als Gräser 1912 aus Sachsen ausgewiesen wurde, setztes ich Fidus für ihn ein. Er scheint auch dem 1913 gegründeten „Freundeskreis für Gusto Gräser“ angehört zu haben.

Ein weiteres Mal kam Fidus mit dem Monte Verità in Berührung, als er seine zweite Frau, Elsbet Lehmann-Hohenberg, heiratete. Die hatte zwischen 1910 und 1913 mit ihrem ersten Ehemann, dem Maler und Bildhauer Dr. Ernst Wagner, zwei Jahre auf dem Berg verbracht. In einem Brief erzählt sie von ihrer Ankunft in Ascona:
Man stand überwältigt vor dieser Aussicht über Hügel zum blauen Lago Maggiore mit seinen Bergen. Da sollten wir wohnen – es war ein Märchen. Neben uns wohnten in einem Weinberghaus Bock von Wülfingen, mit denen wir bekannt wurden. Auf der anderen Seite der einst ungarische Oberleutnant Karl Gräser mit seiner Frau Jenny, ehemalige Konzertsängerin. Sie gingen in weissen Leinenkitteln, mit langen Haaren, liebe Menschen, die alles selbst erzeugten in ihrem Garten, fast ohne Geld lebend.

Die Gräsers also hatten verwirklicht, was Fidus in seinen Zeichnungen propagierte, was aber auch Ernst Wagner in seinen Entwürfen spirituell-theosophisch überhöhte:

E.Wagner

Als nun Gusto 1920 aus Freiburg und Baden ausgewiesen wurde, war der berühmte Kollege wiederum bereit, sich öffentlich für den Verfolgten einzusetzen. Der kam anschließend nach Berlin, wo es wieder freundschaftliche Kontakte gab, wie der Fidussohn Holger berichtet. Gräser konnte es sich sogar leisten, ein befreundetes Pärchen bei dem Meister in Woltersdorf unter-zubringen. An dem von dem Siebenbürger inspirierten Zug der Neuen Schar um Muck Lamberty nahm kurzzeitig auch die Fidusfreundin Gertrud Prellwitz teil. Ihr ‚Bekenntnis zu Muck–Lamberty‘ von 1921 enthält die entschiedenste und persönlichste Verteidigung dieses Außen-seiters, die es je gegeben hat. „Ich bekenne mich zu Muck-Lamberty als zu einem schaffenden Menschen von Geistesadel“, schreibt sie. Er gehöre „mit seinem ganzen Sein unmittelbar in die neue Welt“ (S.1). „Er ist ein Mensch, der in heiligster Verantwortlichkeit lebt“ (S.2). Fidus war also über den abenteuerlichen Tanzzug um und mit Gusto Gräser bestens informiert. Als der Siebenbürger dann infolge der Hetzereien gegen Muck Lamberty in Naumburg verhaftet und in ein Abschiebelager eingewiesen wurde, entwarf Fidus wiederum ein Protestschreiben, dessen Wortlaut bisher leider nicht veröffentlicht ist.

Dass die, wenn auch lockere, Verbindung zwischen den beiden Diefenbach-Jüngern erhalten blieb, dafür sprechen mehrere Schreiben von Gräser an Fidus um 1927/28 und ein Schreiben seiner Tochter Gertrud an den Maler von 1930.

Begegnung auf dem Grappenhof in Amden 1903

Aus den Erinnerungen von Fidus

Nun wartete ich, um nicht meinerseits die Treue zum Grappengeiste zu brechen, nur noch einen Grund und Anlass ab, auch meinerseits die Werksachen zu packen und nach Zürich zu Elsa zu gehen. Der Anlass sollte bald kommen: …

Als wir zum ersten gemeinsamen Mittagsmahle wollten, kam wieder ein Besucher „zu mir“. Es war der Naturdichter, Maler und Wanderer Gusto Gräser, der in der Reformer-Siedlung des Belgiers Oedenkofen bei Ascona am Lago maggiore sesshafte Brüder hatte, dessen jüngerer, auch Maler, ehemals östr. Offizier, aber bald starb. Karl Gräser hatte sich ein Naturhaus gebaut, in welchem alle Möbel aus Naturästen und –knorren bestanden. Gusto aber wanderte durch die Lande und „besuchte“ „Gesinnungsgenossen“ solange, bis sie ihn weiterwiesen. Denn er verachtete das Geld und hatte keines. Er ließ also andere, die es redlich brauchten, für sich sorgen! Er ging dabei malerisch in estischer Zigeunertracht, schön aber unzivilisiert mit umwickelten Beinen und „Opanken“ an den Füßen. Er sang seine Lieder mit schöner Baritonstimme, und verkaufte wohl auch von seinen eigenen Bildkarten, das Geld nur benutzend, um sie weiter drucken zu lassen. So war er auch schon in Friedrichshagen zu uns gekommen.

Nun kam er zum Grappenhofe und wurde, wiederum trotz meiner Warnung von Josua zu tisch geladen. Man wußte, daß er Vegetarier war, aber Josua, der alle Gesetze selbst bestimmen wollte, fragte ihn, ob er um der Gemeinschaft willen auch alles mitessen würde. Gusto wich aus und sagte, er wisse nie vorher, was er in jedem Lebensfalle tun würde, er handle dann nach seiner inneren Stimme. Die (S.189) läßt Josua ja bei Andern! nicht gelten: er sagt „das Leben spricht“, wenn er seinen Einfall walten lassen will. So fragte er ihn, ob er z. B. mit ihnen alsobald Wurst u. Schinken essen würde, um des Bleibens in der Gemeinschaft würdig zu sein.

Das Gemälde ‚Sonnenwanderer‘ von Fidus auf dem Grappenhof und im Monte Verità-Museum Casa Anatta

Und rief den Jungen zu, diese Leckereien herbei zu holen. Dann sagte er feierlich „Nun wollen wir in einem heiligen Gemeinschaftsmahl auch diese Speisen heiligen und unsern Bund mit diesen besiegeln!“ –

Da hatte ich genug, der Anlaß war da! Ich stand auf, sprach einen Abschieds-segen dafür und reichte nur Josua die Hand, der sie mir verstummt nicht verweigerte (227). Dann ging ich hinauf und packte meine Restsachen!

Gusto aber, statt sich mir anzuschließen blieb und aß mit. Mir war es ja nicht um das bischen Wurst u. Schinken, zum Ekel, sondern um des lästerlichen Getues willen! –

Am Nachmittag wurde mir gesagt, daß besonders Mutter Lindtner diese Tierspeisen mit der größten Andacht und deren Bekenntnis genossen habe. Ich mied weitere Gemeinsamkeiten, selbst mit Gusto Gräser, um ihm (nach Nietzsche) Scham zu ersparen. Ich nahm von Josua Abschied und dankte ihm für all seine Schenkungen …

Fidus, Kleine Lebenserinnerungen (unveröffentlicht), S. 188f.


Fidus protestiert gegen Gräsers Ausweisung aus Baden

Wolt.[ersdorf] 28. II. 1920

Das gebildete Deutschland darf nicht ruhig zusehen, dass ein Mann wie Gusto Gräser in der Betätigung seines Schönheitsgewissens gehindert werde, und eine deutsche Polizei hat auch kein gesetzliches Recht, einen so redlichen und hochgebildeten Menschen wegen seiner Kleidung auszuweisen.

Wenn deutsche Obrigkeiten im Mittelalter mit Strafen gegen die lächerlichen Auswüchse von Eitelkeit und Verschwendung zu Felde zogen, so taten sie damit etwas Sittliches, dem Gemeinwohle Dienliches. Wenn sie aber heute, im Zeitalter persönlicher Freiheit, einen Menschen hindern, seine von führenden Geistern als gesund, schön und edel anerkannte einfache Lebens- und Bekleidungsart zu führen, so tut sie damit etwas Unsittliches, umsomehr als sie die schamlose Dirnen- und Hochstaplermode, gegen die die Art eines Karl Wilhelm Diefenbach, eines Professor Jäger, eines Gusto Gräser und anderer sich kühn  m i t  d e r  T a t  wendet, duldet und mit jener Verfolgung in Schutz nimmt.

Eine Obrigkeit, die sich damit auf die Seite des rückständigen Filisteriums stellt, giebt sich vor einer gebildeten Gemeinde eine traurige Blösse. Denn alle Gebildeten wissen, dass seit Jahrzehnten die edelsten Geister an einer Reform der Lebens- und Kleidungsart arbeiten, weil die von der Genusssucht und Mode diktierte, ihrer niedrigen Herkunft entsprechend nicht nur hässlich, sondern auch unmoralisch und ungesund ist. Wo kämen wir hin, wenn die Polizei alles verbieten dürfte, woran der Pöbel etwa "Ärgernis" nehmen könnte. Eine deutsche Obrigkeit hat eher die ... [Pflicht, einen Mann wie Gräser?] zu schützen.

Hugo Höppener-Fidus

Fidus-Nachlass im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein


Noch 1921 entwarf Fidus ein öffentliches Rundschreiben als Protest gegen die Ausweisung Gräsers aus Deutschland. – Ob und inwieweit es verbreitet worden ist, konnte bisher nicht festgestellt werden.

Ute Wermer in Wolfgang de Bruyn: Fidus. Künstler alles Lichtbaren, S.49. 


Die Prapanzin

Gusto Gräser brachte einmal ein junges Wiener Künstlerpaar mit, ob Geschwister-, Ehe- oder Liebespaar blieb offen, vermutlich aber das letztere. Erst bei sehr spätem Aufbruch gestand Gräser, dass diese „lieben jungen Freunde“ kein Dach über dem Kopf hätten. Also blieben sie bei uns hängen. Wir hatten aber nur ein winziges Dachkämmerchen mit einem Feldbett, den „Starenkasten“, frei. Zur Bedingung machten wir, dass der Mann am nächsten Tage nach Berlin heimfahren solle, um sich nach Arbeit und Unterkunft umzusehen. Doch hatten wir die Rechnung ohne die – übrigens sehr schöne – Partnerin gemacht, die bei jedem Versuch von ihm, aufzubrechen, schrie: „Du verlässt mich nicht!“ und sich zur Begleitung ihr Kleid zerriss. Aus letzterem Grunde konnte sie nicht mehr zum Tisch erscheinen, und so ließ sie vornehm unterm Dach servieren. Sie blieben eine Woche. Fidus zeichnete sie mehrmals, weil sie so schön war, und da er oft solchen Gesichtsstudien recht phantasievolle Namen zulegte, nannte er sie „Prapanzin“. Wir aber nannten sie schlicht und einfach „Mimosa hysterica“. Nach einigen Tagen gelang es dem Mann endlich, nach Berlin zu fahren. Vorher nahmen sie Abschied. Dazu erschienen sie zur gemeinsamen Tafel mit königlichen Gesten und mit Sicherheitsnadeln im Gewand.

Holger Fidus: Fidus und seine ‚Heiligen’. In: KK 294/ 17

Gräser-Karikaturen von Karl Arnold, Unbekannt und Friedrich Wobst
 


 

Der Holzschuhsammler

Wenn auch Gusto Gräser zum Freundeskreis unseres Hauses zählte, war er doch nicht allzu oft bei uns, und da ich damals zuerst noch ein Kind war, später wiederum außer Haus, habe ich nur noch ganz schwache Erinnerungen an Gräser.

Jenen Tag, den ich in der KK schilderte, als er uns das arbeitslose Wiener Pärchen mit dem hysterischen weiblichen Teil ins Haus brachte, habe ich z. B. auch nicht miterlebt, nur das Pärchen selbst. Ganz deutlich vor Augen stehen mir heute nur noch zwei Treffen mit G. G.

Ich bog in Berlin vom Kurfürstendamm her in die Tauentzienstraße ein, als ich Gusto Gräser traf, natürlich mit einem kleinen Schwarm spöttisch Neugieriger dahinter, denn er trug außer seiner un-großstädtischen Kleidung noch ein Netz umgehängt, in dem er viele Mohrrüben hatte. Als er mich erblickte, begrüßte er mich sehr herzlich und schenkte mir eine schöne große Mohrrübe, die ich sofort, in der Unterhaltung mit ihm, verspeiste, was natürlich den Zuschauerkreis um uns anwachsen ließ.

Zur nächsten Begegnung mit Gräser muss ich ein bisschen weiter ausholen: Auf der Durchreise von meinem Vaterhaus bei Berlin in die Odenwaldschule am Ferienende wollte ich in Naumburg/Saale gute Freunde besuchen, den Stadtbaumeister von Naumburg, Fritz Hossfeld mit Frau Ina, einer begabten Glasfenstermalerin und ihren damals wohl etwa 6 Kindern. Doch Frau und Kinder sollten erst am nächsten Tage vom Ferienaufenthalt an und auf einem bayrischen See zurückkehren. Wie es dazu kam, dass ich nicht im Hossfeld-hause auf sie wartete sondern im Nachbarhause, weiß ich nicht mehr. Dieses gehörte, soviel ich mich erinnere, einem Zeise-Gött, Schauspieler oder sonstigem Künstler, mit dem ich aber kein persönliches Zusammentreffen hatte. Dieser hatte dem damals von der Leuchtenburg vertriebenen Drechsler und Jugendführer Muck-Lamberty seinen Keller und Dachgeschoss zur Verfügung gestellt zum Wohnen und Drechseln. Ich suchte diesen auf und half ihm, seine eben gedrehten Leuchter lackieren, und er schenkte mir einen, wobei er mir anbot, in seinem Bett zu übernachten, denn er schliefe draußen auf der Wiese des Hossfeldsgrundstücks mit seiner Hannele und ihrem dort geborenen Säugling, der sowieso (es war Sommer) nicht im Häuschen leben mochte, dem Gärtnerhaus, das Hossfeld der jungen Frau zur Verfügung gestellt hatte.

Als Muck mir sein Zimmer im Dachgeschoss zeigte, machte er mich darauf aufmerksam, dass im Nebenzimmer Gräser hauste. Natürlich besuchte ich ihn sofort und erinnere mich noch, dass eine ganze Ecke seines Zimmers mit einem riesigen Haufen von Holzschuhen angefüllt war, wie die Holländer sie tragen. Er sagte, er habe sie aufgekauft, weil sie als Brennholz angeboten waren, was ihm zu schade dünkte. Er hatte schon einige davon gewissermaßen als Köcher an die Wand gehängt, teils für Pinsel und ähnliches, teils für trockene Blumen, was sich sehr nett machte.

Dieses war mein letztes Zusammentreffen mit Gusto Gräser.

Aus einem Brief von Holger Fidus an das Siebenbürgische Künstlerarchiv in Heilbronn vom 8. April 1978


Holzschuh im Nachlass Gusto Gräsers

Gertrud Gräser schreibt an Fidus

15. 5. 30

Lieber Meister Fidus!

Wir haben die Absicht, Postkarten in derselben Art, wie sie von deinen Zeichnungen hergestellt sind, machen zu lassen.
Wir bitten dich darum, uns baldigst doch die Anschrift von der Firma, die deine Postkarten hergestellt hat, mitzuteilen.
Wir hoffen, dass du gerne unserer Bitte nachkommen wirst.

Mit Herzlich Heil
Trudel Gräser
*
Abs. G. Gräser
Oppershausen 38 / Thür.
bei Mühlhausen.

Möglicherweise eine der Karten, die Trudel drucken liess.
Ihr Stil entspricht nicht dem von Gusto.

 

Sendung an Fidus vom 25. Februar 1927

Gräser und Fidus 1927-1930

Versuch einer Rekonstruktion

 
Anfangs des Jahres 1927 kommt Gräser von München nach Berlin. Es lag nahe, dass er als erstes einen alten Bekannten und Gesinnungsfreund aufsuchte – den inzwischen berühmt gewordenen Maler und ehemaligen Diefenbachschüler Fidus in Woltersdorf. Der war von seiner Ankunft offenbar wenig begeistert, scheint ihn recht unfreundlich aufgenommen zu haben, eher abgewiesen.


Gräser lässt sich durch diese Abfuhr nicht entmutigen. Er schickt dem Gesinnungsfreund am 25. Februar seine Flugblätter ins Haus. Darin stellt er sich den Berlinern vor als ein Siebenbürger, der von der bayrischen Regierung aus ganz Deutschland ausgewiesen worden ist und appelliert damit an die Solidarität der (damals noch) weniger reaktionären Hauptstadtbewohner. Er unterstreicht seinen Appell mit den Zeugnissen bekannter Autoren wie Thomas Mann, Michael Georg Conrad, Johannes Schlaf und anderen, in denen er mit Sokrates und den Propheten verglichen wird und von „jubelnder Begeisterung“ seiner Zuhörer die Rede ist.



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Er hatte aber auch, zum erstenmal in seinem Leben, ein größeres mehrfarbiges Bild- und Spruchwerk anzubieten, das sogenannte ‚Notwendwerk‘, das 1925 in Dresden entstanden war, und wird dadurch einige Einnahmen gewonnen und Anerkennung gefunden haben. Er wendet sich nun mit dem Aufruf ‚Die Welt braucht Sonne‘ an „die Leiter guter Schulen“ und erhält tatsächlich Einladungen, so vom Direktor des Gymnasiums „zum grauen Kloster“, der ihm dazuhin ein warm anerkennendes Zeugnis ausstellt.

 
Schon am 31. Januar 1927, wenige Wochen nach seiner Ankunft, äussert sich Dr. E. Reimann so zu Gräsers Auftritt vor seinen Schülern:


„Die Darbietung fand bei der romantischen Anlage der Jugend sehr großen Anklang, sie wurde von dem priesterhaft Prophetischen durchaus angezogen, und die wirklich lachende Weisheit des Wanderers aus Siebenbürgen machte Eindruck. … Will man einen Philosophen der Antike leibhaftig vor Augen bringen, so lasse man Herrn Arthur Siebenbürger reden.“

Das Königstädtische Gymnasium stellt ihm seine Aula fünf Monate lang als Tribüne zur Verfügung. Im Antikriegsmuseum von Ernst Friedrich kann er seine Plakate drucken. Gräser stellt sich vor als der Mann, der Sonne und Licht bringt, der einen Gemeinschaftsbaum pflanzen kann. Es scheint zunächst, als könne er Berlin im Sturm erobern.

So beflügelt hält er, wohl im Frühjahr schon, im Schubertsaal in der Bülowstraße drei öffentliche „Notwendabende“ ab, die in einem Zeitungs-artikel seines Bruders Ernst ausführlich besprochen werden. Der sieht ihn als „Oberhaupt“ einer Gemeinde von Langhaarigen, die in togaähnlicher Gewandung die Strassen durchstreifen.

Möglicherweise belehrt durch die unerwartete Resonanz des Siebenbürgers, nicht zuletzt in Wandervogelkreisen, hat sich Fidus anscheinend eines Besseren besonnen und eine Versöhnung mit dem Geistesbruder angebahnt, der ihm zunehmend zur Konkurrenz wurde. Er scheint Gusto gefragt zu haben, warum er ihn nicht besuche. Daraufhin schickt ihm Gräser am 9. Oktober 1927 ein Kärtchen, das ein Verzeihen ausspricht. Irren sei menschlich, und auch er könne sich noch irren.

Berlin 9 Laubrost 1927


Hast mich ja recht freundlich begrüsst, bester Fidus – Da hatt ich freilich wenig Lust zu Dir zu schaun. Aber auf Dauer verdrossen und verschlossen bin ich Dir darum nicht – Wir können ja irren – wie – ja – vielleicht auch ich noch irre - aber ich tu’s im redlichen Ringen um menschwürdig Leben.

Also Strich drunter und auf Wiedersehn.

Anbei Druckblätter.

Arthur Siebenbürger, Berlin, Parochialstr. 14

Karte vom 9. 10. 1927

Seiner Karte legt er die oben erwähnten Flugblätter bei. Auf dem zweiten von diesen kündigt er allwöchentliche „VolksGespräche“ mit Lichtbildern an, die dann ab November 1927 in der Aula des Königstädtischen Gymnasiums, Elisabethstraße 57, beim Alexanderplatz, tatsächlich stattfanden. Seine Sprache ist selbstbewusst und siegesgewiss: „Ein Wandrer steht vor deinem Tor – Deutschland – dies ist sein Pochen“.


Nachdem diese Gesprächsreihen schon zur Hälfte gelaufen sind, die sich dann bis Ende März 1928 hinziehen sollten, wendet sich Gräser Mitte Januar 1928 wiederum an Fidus, lädt ihn zu einem seiner Auftritte ein und hofft, dass er die “Seinen“ mitbringen werde. Allerdings nicht zu den „Öffentlichen Gesprächen“, die in der Aula des Königstädtischen Gymnasiums beim Alexanderplatz stattfinden, sondern in das Gasthaus „zum alten Askanier“, wo er zu einem Kreis der Freideutschen Jugend sprechen will. Er hat wohl die Erfahrung gemacht, dass Fidus seine “Öffentlichen Gespräche“ meidet, wo vorzugsweise Kriegsgegner sich einfanden, und nimmt an, dass der Malerkollege sich eher von den Wandervögeln verlocken lasse, die sein bevorzugtes Pubklikum sind. Aus seinen Mitteilungen geht ausserdem hervor, dass er ausser im Gymnasium auch in anderen Lokalen – Speisehaus Heimdall und “Gasthof zum alten Askanier“ - aufgetreten ist, wahrscheinlich als Gast von Bündischen. Ob nun Fidus diesen Einladungen gefolgt ist, kann den Kärtchen nicht entnommen werden. Immerhin hat er sie nicht im Papierkorb verschwinden lassen.

Mondtag *

Heil Fidus!

Mittwoch Abend um 8 Uhr sprech ich wieder im Speisehaus Heimdall (Chossestr. 123) im Kreise Freideutscher Jugend, Wandervögel, vom Beruf des Jünglings. – Vielleicht gelingt es dir, diesmal zu kommen.

Am 31. Januar 1928 spricht Gräser in Kreuzberg im Gasthof zum alten Askanier

Ein Brief von Gräsers Tochter Gertrud an Fidus vom 15. Mai 1930 zeigt, dass die Verbindung Gräser-Fidus mindestens bis zu diesem Zeitpunkt Bestand gehabt hat. Sie wurde auch dann fortgeführt, wenn Gräser nicht in Berlin sondern andernorts sich aufhielt.

 

Es sieht nicht danach aus, dass Fidus je in den Versammlungen von Gräser aufgetaucht wäre. Dessen Einladungen blieben anscheinend ohne Echo. In der Mitarbeiterliste der Zeitschrift ‚Der Dom‘, die anlässlich der „Religiösen Woche“ von Pfingsten 1930 erschien und das damalige Umfeld von Gräser versammelt, taucht der Name von Fidus nicht auf. Man könnte daraus schliessen, dass eine Distanzierung eingetreten war, vermutlich weil Fidus die pazifistische Aus-richtung des Kreises um Gräser nicht mittragen wollte. In einem Brief von 1936 bezeichnet er den Monte Verità als eine Ansammlung von „Verrückten und Emigranten“. Am 1. Mai 1932 war er Mitglied der NSDAP geworden.

Originale im Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein

 
Auf die Rückseite eines der Flugblätter von Gräser, auf dem er sich als „Arthur Siebenbürger“ ankündigt, schrieb Fidus den folgenden Kommentar:

Das ist Gusto Gräser, der sich schon einmal „Gras“ nannte, als er noch einsam war, ohne Familie. Die Namensänderung war Spielerei, diese jetzige aber eine Flucht vor seiner Vergangenheit, also Spiegelfechterei.

Fidus

Fidus unterstellt ihm also, er habe mit seiner Namensänderung seine anarchisch-individualistische, anational-pazifistische Vergangenheit vertuschen wollen. Darin könnte zwar ein Tröpfchen Wahrheit liegen. Aber zunächst einmal ist seine Behauptung, wenn man sie wörtlich nimmt, paradox, da Gräser mit diesem Namen sich gerade an seine Vergangenheit bindet: seine siebenbürgische Herkunft. Der eigentliche Grund für diese Änderung war jedoch ein sehr konkreter und wird von Fidus völlig verkannt: Nach seinem rechtlichen Status galt Gräser in Deutschland als Ausländer. Deshalb konnte er 1915 als “lästiger Ausländer“ nach Österreich abgeschoben werden, deshalb wurde er 1921 in Abschiebehaft genommen und wiederum ausgewiesen, deshalb sollte er 1926 als der „staatsgefährliche Rumäne“ Gusto Gräser aus dem ganzen Deutschen Reich ausgestossen werden. Und eben deshalb pochte Gräser seit 1915 vehement auf sein Deutschsein und Siebenbürgersein. Er hatte keinerlei rechtliche Mittel in der Hand, sich gegen die ständig drohende Ausweisung zu wehren. Alles was er tun konnte war: sein Deutschersein mit seinem Namen plakativ vor sich herzutragen.

In Deutschland bleiben zu können, war für ihn eine geistige Überlebensfrage, denn nur hier, im deutschsprachigen und protestantischen Gebiet, konnte er seine Mission erfüllen. In katholischen Ländern fand er kein Publikum, nicht in Bayern, nicht in Österreich, nicht in Italien, nicht im Tessin. Sein Denken war eine Antwort auf die durch die Reformation geschaffene kulturelle Lage. Marianisch geprägte Volkschaften hatten keinen Bedarf nach einer „neuen Mütterlichkeit“. Ihm aber ging es darum, das im Protestantismus verloren gegangene weiblich-mütterliche Element durch eine neue dichterische Symbolik wiederzugewinnen. Darum: Deutschland, das protestantische Deutschland war sein Feld, und er musste alles tun und versuchen, um sich im Lande halten zu können. Von daher diente ihm sein neuer Name als Schutzschild und Appell: „Seht her, ich bin Siebenbürger, also Deutscher. Weist mich nicht aus!“

Die missgünstige Deutung von Fidus verrät seine heimliche Feindseligkeit. Die hatte nicht zuletzt auch politische Gründe.

Am 14. Juli 1919 hatte Henri Oedenkoven aus Ascona an Fidus geschriebenrr:

„Es tut mir sehr leid Dir erklären zu müssen, dass ich das Gefühl habe, nicht mehr in den St. Georgs Bund zu passen. Ich hatte den Bund so aufgefasst, dass er über die ganze Welt, die Nationalitäten verkennend, alle Zukunftsmenschen vereinen sollte. Aber die wiederholte Verherrlichung der deutschen Nation, des Vaterlandes, die Verehrung des Kaisers, besonders von Seiten Gertrud Prellwitz, stört mich sehr. Ich hasse die „deutsche Nation“, gerade wie ich irgendeine der „Nationen“ der Entente oder der Neutralen hasse. Nationalität ist eine egoistische Beschränkung, Zerstückelung des Menschtums.“

Das sind klare Worte. Oedenkoven steht zu der „anationalen“ Tradition des Monte Verità. Fidus war aber zu einem Propagandisten des deutschen Nationalismus geworden. Oedenkovens Brief aus Ascona von 1919 macht deutlich, dass Berg und Fidus schon damals nicht zusammenpassten – und Gräser zu Fidus noch weniger. Das Verhältnis der beiden Diefenbachschüler war von Anfang an ein gespanntes. Dass es bis etwa 1930 einigermassen erhalten blieb, hatte vorwiegend praktische Gründe. Die gegenseitige Abneigung ist unverkennbar. Trotz aller lebensreformerischen Gemeinsam-keiten – ihre politischen Anschauungen mussten sie trennen.

In den Schriften Gräsers bis 1912 kommen die Wörter „deutsch“ und „Volk“ nicht vor. Erst die Übermacht der Deutschtuumsideologie im Reich und dann die polizeiliche Verfolgung hat ihn sozusagen zum „Deutschen“ veredelt, wenigstens zum „volksdeutschen“ Siebenbürger. Seine monteveritanische Vergangenheit und seine Kriegsdienstverweigerungen hat er, soviel wir wissen, nicht laut vor sich hergetragen. In Deutschland hätten ihn solche Bekenntnisse höchst unbeliebt gemacht, gerade in den durchschnittlichen lebens-reformerischen und jugendbewegten Kreisen. Insofern hat Fidus mit seiner Unterstellung vielleicht nicht ganz unrecht. In seinen Schriften und Reden aber hat Gräser aus seiner antimilitaristischen und antiautoritären Gesinnung keinerlei Hehl gemacht. An seinen Worten und Taten sollte man ihn erkennen, nicht an der zwielichtigen Aura des Monte Verità, die er nicht zu verantworten hatte. Der Name Monte Verità kommt in seinen Schriften nicht vor.

Der tiefere Grund für Fidus‘ scharfe - überscharfe! – Analyse ist eine Projektion. Er selbst hatte ja in seinen frühen Jahren anarcho-sozialistischen Ideen angehangen, dann aber durch zunehmende Verbürgerlichung zurückgedrängt. In Gräser trat ihm seine eigene Jugend entgegen, seine uneingelösten Ideale. Er befand sich in einer unangenehmen Lage. Nicht nur, dass der Siebenbürger durch seinen Austritt aus der Gesellschaft ihn moralisch überholt hatte, er belastete ihn auch materiell und sozial durch sein blosses Dasein. Und doch konnte er ihm als einem Gesinnungsverwandten die Solidarität nicht völlig verweigern. Es sieht freilich so aus, dass er die Einladungen Gräsers nie angenommen hat. Er hielt auf Distanz und wandte sich in andere Richtung.