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Der
tote Bruder |
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In ‚Der
tote Bruder’ berichtet Reinhard Goering von seiner Begegnung mit Gusto Gräser.
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In
einer gewissen Gegend des Lago Maggiore gibt es eine Oede, welche zu
den
erstaunlichsten Dingen zählen mag [1].
Es liegt dort ein Dorf, das fast ausgestorben ist, in dem der Fremde im Sommer durch die Straßen gehen kann, ohne einen einzigen Menschen zu sehen, sei es denn ein blödes Weib, oder ein uralter Mann. Während es vorkommen mag, daß eine Kuh oder eine Ziege allein zwischen den Häusern steht, als sei sie vergessen worden, oder wüßte auch nicht mehr, was los sei [2]. In jener Einöde hauste bis vor Jahren ein junger Mensch, von dessen Herkunft und Abstammung man nur soviel wußte, daß er ein Deutscher war [3]. Seit zwei Jahren befand er sich im Land [4], und zuerst war er zusammen mit noch einem jungen Mann und einer Frau aufgetaucht, welche beide nach einem Sommer fortgereist waren [5]. Zur Zeit, als der Maler Schwarz und sein Freund dort im Lande streiften und auch einmal ganze vier Wochen in dem ausgestorbenen Dorfe hausten, gelang es ihnen einmal, jenen Menschen zu Gesicht zu bekommen, und, nachdem sie ihm eine Weile felsauf gefolgt waren, auf einer Felsplatte, bei einem großen Ginsterbusch, zu stellen. Sie trafen ihn am Boden sitzend und unbewegt gerade nach vorn schauend, ob irgendein Gebilde der Landschaft oder geistige Gestalten – das vermochten sie nicht zu sagen. In der Hoffnung, ihn zum Sprechen zu bewegen, blieben sie dicht bei ihm stehen und taten so, als interessiere sie der Blick, den man von hier in das große Tal und seitwärts zum See hin hatte [6]. Dabei sparten sie nicht Ausrufe ihres Entzückens, und Schwarz hielt es für gut, um den Widerspruch des Mannes zu wecken, ein paar ganz verrückte Sachen zu behaupten, ohne daß der Deutsche darauf geantwortet hätte. Er mochte höchstens 31 Jahre zählen [7], war ernst und bleich. Die beiden jungen Künstler wollten bereits weggehen, da sie den Mann nicht weiter stören wollten, als sie ihn sprechen hörten und erstaunt sahen, daß er die Lippen groß und sorgfältig bewegte, und hörten, wie er gewisse, ihnen nicht bekannte vokalreiche Worte aussprach. „Ein Wahnsinniger,“ flüsterte Schwarz dem Freunde zu. – „Komm, gehen wir.“ Und dessen Arm ergreifend, zog er ihn weg. Sie waren kaum einige Minuten gegangen, als der Freund in sehr ernster Weise Schwarz Vorwürfe machte, weil der den Mann wahnsinnig genannt hatte. „Dieser Mensch“, sagte er, „ist durchaus nicht wahnsinnig, sonst könnte er nicht so schön sein. Ich bin begierig, von ihm zu lernen und werde ihn morgen direkt suchen und bitten, mir etwas von seinem Wissen zu sagen.“ „Ist mir durchaus angenehm,“ sagte Schwarz nicht ohne ein skeptisches Lächeln für den entbrannten Eifer des Freundes. „Laß uns beim Runtergehen jedenfalls sehen, ob wir die Wohnung des Einsiedlers entdecken und ihm einen Zettel hinlegen können, der unsere Ankunft anzeigt.“ Die eben erwähnte Oede liegt in halber Höhe über dem See, und die Felsen bilden ein Rondell von so großem Umkreis, daß ein Dorf dort stehen könnte. So aber umronden sie eine große, große flache Wiese, auf der einige Felsblöcke liegen und Ziegenherden streifen [8]. Bei einem solchen schräg gelagerten Block entdeckten die Freunde nach einigem Suchen die Wohnung des Deutschen und legten, da die Türe offen war, den geschriebenen Zettel einfach dort hinein auf den Tisch. Dann gingen sie zurück in ihr Dorf. Sie hatten sich für 8 Uhr den anderen Morgen angemeldet. Rechtzeitig früh kletterten sie den nächsten Morgen über den Felswall [9], der die Einöde nach Richtung zum Dorf hin abschloß, und näherten sich der Behausung des Deutschen. Von ferne sahen sie ihn zusammen mit einer älteren Frau vor dem Felsen in der Sonne sitzen. Beide nebeneinander und geradeaus in derselben Richtung schauend. Als sie näher kamen, sahen sie, daß die Lippen des Deutschen sich bewegten. Während Schwarz sein stets zweiflerisches Gesicht aufsetzte, war sein Freund so von diesem Bild gerührt, daß er Scheu hatte, weiter zu gehen. Schließlich traten beide hinter dem Felsen hervor und zu den anderen in die Sonne hin. Da sie deren Aufmerksamkeit nicht auf sich zogen, setzten sie sich lauschend in einiger Entfernung ins Gras. Der Deutsche sprach ohne sich stören zu lassen, mit etwas einwärts gekehrten Augen, ruhig, und gleichsam gar nicht dabei: „Es gibt da ein Dilemma, mußt du wissen. Wenn nämlich einer das Wesen der Welt erkennt, verliert er die Freude an der Welt. … [Um Missverständnisse zu vermeiden, wird die hier folgende Rede ausgelassen, da sie eindeutig nicht die Gedanken von Gräser sondern die des Verfassers wiedergibt [10]. In ihr wird in philosophischer Form die selbe pessimistische Ansicht vorgetragen, auf die auch der Schluss der Erzählung hinausläuft: Wer sich einem meditativen Leben hingibt, verliert die Freude am Leben und muss am Ende verhungern.] … Also entweder in der Welt wirken und nicht wissen, oder wissen und die gewöhnliche Freude an der Welt verlieren. Eine andere Wahl gibt es nicht. …“ Als der Deutsche dies gesagt hatte, stand er vom Boden auf. Einen Augenblick sah er die beiden Freunde aus einem unbewegten interesselosen Gesicht an, dann schien ihn etwas anderes zu beschäftigen, und er wandte sich ab. Die Frau hatte sich gleichfalls erhoben und schritt ihm zur Seite. In ein paar Augenblicken waren sie hinter Felsen verschwunden. Die Freunde saßen noch eine Weile etwas betroffen und sprangen dann auf. „Unerhört, unerhört“, rief der eine, „was für Leute!“ „Ich gebe zu, erstaunlich“, sagte Schwarz ruhiger. Er wollte mehr reden, sein Freund verwies es ihm. Erst nach geraumer Weile wagte Schwarz zu sagen: „Ich möchte wissen, wovon sie leben!“ „Wir wollen uns im Dorf am See erkundigen“, antwortete sein Freund. Dann sprachen sie nicht weiter über den Mann. Am Abend hatten sie Gelegenheit, zu fragen und sie erfuhren folgendes: Es war vor einem Jahr noch ein Deutscher dort in der Einöde gewesen, wie man sagte, ein Bruder dessen, der heute noch lebte. Dieser Bruder war in eben der Behausung neben seinem Bruder verhungert und von diesem beerdigt worden [11]. Demzufolge würde wohl auch dieser jetzt noch lebende eines Tages verhungern., es sei denn, er würde sich noch rechtzeitig in den Schooß d den er alleinseligmachenden Kirche begeben, welche stets verzeiht und nicht verhungern läßt. Die Freunde glaubten, bezweifeln zu dürfen, daß das von seiten des Deutschen je geschehen könnte! „Also verhungern!“ sagte Schwarz. *** Zu diesem Text gibt Frank U. Pommer, der von der Identität dieses „Deutschen“ nichts weiß, folgenden Kommentar: Die 1925 erschienene Erzählung „Der tote Bruder“ charakterisiert einen Menschen, der sich ganz von der Gesellschaft und Zivilisation abgeschieden hat und in der selbstgewählten Isolation und Ei nsamkeit in einem Dorf am Lago Maggiore lebt. Ohne diese Isolation wie im Roman auf eine Vertreibung aus der Gesellschaft zurückzuführen, verdeutlicht Goering doch deren unerbittliche Reaktion auf einen Einzelnen, der sich nicht nur den Gesetzen der Gemeinschaft verweigert, sondern auch in seiner Einsamkeit zu Einsichten in die vergeblichen Anstrengungen der Menschen gekommen ist, ein wirkendes Eingreifen in der Welt mit einem wissenden Verständnis für diese zu erbinden: „Denn die Welt will wissen, ohne die Freude zu verlieren, und will in der Welt wirken, ohne dumm bleiben zu müssen. Das ist eine einfache Sache. Nur eine unmögliche. So unmöglich wie zu gleicher Zeit nach rechts und nach links sehen.“ Dieser „Wissende“ – in der Erzählung wird er der Deutsche genannt – hat in der Isolation und Vereinsamung eine Existenz jenseits der Gesellschaft gefunden, die ihn mit der Einsicht in die Bedingtheit en der menschlichen Existenz ausstattet: Entweder der Mensch beugt sich den Gesetzen der Gemeinschaft, um als tatkräftig „Wirkender“ sein Dasein zu gestalten, dabei aber um das Wissen von der Beschaffenheit der Welt betrogen wird, oder aber er entzieht sich dem Zugriff seiner Mitmenschen, um als einzelner eine der vita activa entgegengesetzte vita contemplativa zu führen. Als Betrachtender und Erkennender ist er aber auch ein Vereinzelter und als solcher - darin liegt die Einsicht Goerings in die Unmöglichkeit einer solchen Existenz – ein Zugrundegehender. Frank U. Pommer: Variationen über das Scheitern des Menschen. Reinhard Goerings Werk und Leben. Peter Lang, Frankfurt am Main 1996, S. 67 Selbstverständlich entspricht diese Auffassung von Goering in keiner Weise der von Gusto Gräser. Dessen Wollen und Leisten besteht ja gerade darin zu zeigen, dass meditative Besinnlichkeit mit einem aktiven Handeln in der Gesellschaft sehr wohl vereinbar ist – wenn man den Mut hat, die daraus entspringenden Lasten und Leiden auf sich zu nehmen. Goering hatte diese Kraft nicht, und seine Erzählung hat offenkundig den Sinn, sein Versagen vor dieser Aufgabe im Nachhinein zu entschuldigen. Goering, der 1918 mit seinem Freund, dem Komponisten Frank Wohlfahrt, in dem Dorf Arcegno wohnte, begegnete Gräser in den Felsen um die Pagangrott. Jedenfalls stellt er ihn uns in dieser Umgebung vor. Er fragt dann in Ascona nach dem ihm Unbekannten und erfährt, dass dieser Deutsche vor zwei Jahren ins Dorf gekommen sei, zusammen mit einem jungen Paar. Diese Darstellung entspricht der Wirklichkeit: Gräser war 1916 aus siebenbürgischer Gefangenschaft auf den Berg zurückgekommen. Bei dem deutsche Paar, mit dem er öfter gesehen wurde, kann es sich nur um Hermann und Mia Hesse gehandelt haben, die im Herbst 16 einige Wochen in Monti über Locarno wohnten und Gräser von dort aus besuchten. Mit dem „toten Bruder“ ist Karl Gräser gemeint, der um 1915 seelisch erkrankt war und in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wurde. Den Kindern von Gräser und der Außenwelt wurde sein Verschwinden so erklärt, dass Karl gestorben sei. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass es bei dieser einzigen - und stummen - Begegnung zwischen Goering und Gräser geblieben ist. Goering erzählt nämlich an anderer Stelle, dass er sich damals auf eine Weise ernährt habe, die eine Eigenart der Gräsers war, nämlich mit einer rohen Mischung aus Mehl und Öl, dem von Karl so genannten „Möhli“. Auch deutet er an, damals in den Felsen nackt „mitgetanzt“ zu haben. Mehr noch aber spricht seine künftige Lehre vom „Geschehenlassen“ und sein Aufbruch zu angeblich „buddhistischen“ Wanderungen für den Einfluss Gusto Gräsers. Wollen
nützt euch nichts. (Goering: Die Retter) Das ist auch die Lehre Gusto Gräsers. Gewaltsam
handeln (Goering: Die Seeschlacht) Das
ist Gusto Gräser pur. Und erst recht spricht der hier redende fünfte
Matrose in
‚Die
Seeschlacht’ aus dem
Geist des Verweigerers Gräser, wenn er hinsteht und sagt: „Wenn es zur
Schlacht
kommt, gut, wirst du gehorchen, ich aber nicht.“
[1] Die Felsengegend, von der hier die Rede sein wird, ist in der Tat auffällig und überrascht durch ihre abgerundeten Formen. Geschichtlicher Hintergrund dieser Gestaltung dürfte ein Gletscher gewesen sein, der auf dem Weg zu dem heutigen Seegrund eine Bergkante platt- und glattgeschliffen hat. Als „Öde“ konnte diese Landschaft, die heute stark bewaldet ist, zu der vom Verfasser erlebten Zeit zwischen 1915 und 1919 benannt werden, weil sie damals nur von niederem Gesträuch besiedelt war. Eine Beschreibung aus dem Jahre 1903 spricht von einer „vegetationsarmen, rauhen Gegend … Ein paar dicke, alte, verwitterte Edelkastanien mit ausgehöhlten Stämmen, nichts Lebendes als höchstens gelegentlich eine Ziege, die das spärliche Gras absucht“ (Grohmann 31). Hermann Hesse nannte die selbe Gegend um die Felshöhle Pagangrott seine „thebaische Wüste“. [2] Gemeint ist das Dorf Arcegno, das nach Berichten zu Anfang des 20. Jahrhunderts kaum noch bewohnt war. In die leerstehenden Häuser nisteten sich gelegentlich Künstler ein, so um 1911 die Maler Anton Faistauer und Gustav Schütt aus Wien, die der „Neukunst“-Gruppe um Kokoschka und Schiele angehörten. [3] Wie weitere Angaben im Text zeigen werden, handelt es sich um Gustav Arthur Gräser (1879-1958), der zwar der damaligen Nationalität nach aus Österreich-Ungarn stammte, für die Einwohner des Tessins aber nur als Deutschsprachiger zu erkennen war. [4] Gräser war im Herbst 1916 aus Siebenbürgen zurück nach Ascona gekommen. Es darf deshalb angenommen werden, dass der Text des Verfassers sich auf Erlebnisse des Jahres 1918 bezieht. Goerings Aufenthalt in Ascona ist für diese Zeit belegt. An Pfingsten 1918 beginnt er seine sogenannte „buddhistische Wanderung“. [5] Fast auf den Tag gleichzeitig mit Gräser war im September des Jahres der Dichter Hermann Hesse mit seiner Frau nach Locarno und Ascona gekommen, nach einem Aufenthalt von einigen Wochen aber wieder abgereist. Da sie öfter zusammen gesehen wurden, hat die Bevölkerung sie als zusammengehörig wahrgenommen. [6] Von den Felsen hat man auf der einen Seite den Blick in das breite Tal des Ticino und in das engere des Maggia-Flusses, auf der anderen Seite auf den Lago Maggiore. [7] Gräser war damals, 1918, neununddreißig Jahre alt, dürfte aber jünger ausgesehen haben. [8] Gemeint ist die ovale Wiese unterhalb von Gräsers Höhle, die auf beiden Seiten halbkreisförmig von sich aufstaffelnden Felsen umgeben ist. Gräser bekam dieses Grundstück von der Gemeinde Losone geschenkt. Als Ort seiner Tänze und des Tanzfestspiels von Laban im August 1917 wird sie auch „Tanzwiese“ genannt. [9] Heute führt durch diese Gegend eine Fahrstraße, die aber erst während des Zweiten Weltkrieges von polnischen Internierten in den Fels gesprengt wurde. Vorher war dieser steinerne Tempelbezirk nur schwer zugänglich. Entweder durch einen schmalen Pfad am Rande des sogenannten „Hesseweihers“, der aber zeitweise überflutet gewesen sein wird. Sonst musste in der Tat ein Felswall überstiegen werden, um in diesen weitgehend abgeschlossenen Bereich zu gelangen. [10]
Die
Rede beginnt: „Es gibt
da ein Dilemma, mußt du wissen. Wenn nämlich einer das Wesen der Welt
erkennt,
verliert er die Freude an der Welt. Wenn er die Freude an ihr nicht verliert, hat er das Wesen
der Welt nicht
erkannt.“ Dieser Gedanke, ein Leitthema des Denkens von Goering, wird
in
verschiedenen Variationen wiederholt und ausgebreitet. [11] Gräsers Bruder Karl (1875-1919) lebte seit 1900
auf dem Monte
Verità. 1915 oder 16 verfiel er in Depressionen und Wahnvorstellungen
und
musste in eine Nervenheilanstalt verbracht werden. Den Kindern von
Gusto Gräser
wurde gesagt, der
Onkel Karl sei gestorben, und
offensichtlich wurde auch den Dorfbewohnern gegenüber das Verschwinden
von Karl
auf diese Weise erklärt. |
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