Der Monte Verità mit Blick auf die Berge

Bilder von meiner Wanderfahrt (1912)
bei Karl Gräser

Von Ludwig Ankenbrand

Aus Leipzig wurde kürzlich ein Mann ausgewiesen, der durch seine: kräftigen Verse in Reformerkreisen und weit über sie hinaus nicht minder bekannt ist als durch seine Kleidung, sein Eigenkleid und seine eignen Sitten und Gewohnheiten - Gusto Gräser. Er führt draussen keinen leichten Kampf für seine Überzeugung, mit Weib und Kind. Hier oben aber, auf dem Monte Verità , hat sein Bruder, sich niedergelassen, nachdem er den Soldatenrock - er war höherer österreichischer Offizier - ausgezogen, und führt nun ein Leben als Eigenmensch.

Ein regnerischer Tag führte uns zu ihm. Wir fanden ihn grabend in seinem Garten. Als wir uns näherten, blickte er auf, und wir schauten in ein Gesicht voll sonniger Tiefe, von einem schwarzen Bart harmonisch umrahmt. Um Wangen, Ohren und Hals fielen schwarze Locken. Er nahm den Hut ab, den er zum Schutz gegen den Regen getragen, reichte uns die Hand und ging mit uns ins Haus, wo er uns freundlich zum Niedersetzen einlud. Es war ein eigenartiger Raum, in dem wir uns befanden - ebenso eigenartig wie das Äussere des Hauses, der Garten, wie alles, was damit zusammenhing, genauso eigenartig wie der Mensch, der da vor uns stand und uns mit feinen tiefen, aber herzlichen Blicken durchdringend betrachtete.

Und dann sahen wir etwas, was wir vorher noch nie gesehen: Alles in diesem Haus und um dies Haus war von Gräsers Hand selbst gefertigt, ohne jegliche fremde Beihilfe.


Karls Haus, Aufnahme von 1906

Die Möbel des Zimmers, in dem wir uns niedergesetzt hatten, waren aus knorrigen Baumästen gefertigt, die Gräser selbst ausgegraben hatte, selbst zugehauen, geleimt und genagelt. Da waren Tische und Stühle und allerlei anderes Gerät. Im oberen Zimmer waren Bettstellen alle auf die gleiche Art angefertigt. Der Ofen und der Backofen waren selbst gemauert. Der Stoff, aus dem Gräsers Kleider bestehen, war ehedem Samen in seiner Hand. Geschliffene Aprikosenkerne oder Dattelkerne bildeten die Knöpfe.

Über den Garten kommen wir in einen besonderen Raum‚ ein kleines Häuschen, das Schöpfungen von Gusto Gräser enthält: die Türe hat er kunstvoll geschnitzt; ein prächtig Bild ziert die ganze Wand, nackte Menschen‚ Mann, Weib und Kind in farbenfroher Landschaft darstellend. Dies und den zugehörigen geschweiften Rahmen hat Gusto gefertigt.

Ein seltenes Brüderpaar! Sie dichten beide und malen, halten Vorträge und schreiben, pflanzen, säen, graben, schlagen, schnitzen, schmelzen, nähen, bauen, schreinern. Ihr Haus und ihr Garten, ihr Stuhl und ihr Bett, ihre Bilder an der Wand und ihre Verse und Bücher sind aus eigener Hand hervorgegangen. Was sie an sich haben, vom Kopf bis zum Fuss – sie haben es selbst gefertigt. Wörtlich ist es zu nehmen, denn Freund Gräser zeigte uns ein Paar Sandalen, die er an den Füssen trug, und erklärte uns genau den eigentümlichen Mechanismus. Es waren ausgezeichnete Wandersandalen, selbst erfunden und selbst gemacht, wie all das Werkzeug, das er dazu verwendete.

Das Mahl kam. Frau Gräser hatte eine gute Kräutersuppe gekocht; würzige und eigens präparierte Kräuter wurden zwischen Broten aufgetragen; eine gute Masse aus getrockneten Früchten, eine eigenartige Polenta bekamen wir zu kosten – alle Speisen nenne ich nach nächst verwandten Dingen, denn alle waren eigene Erfindung‚ eigene Backwerke‚ eigene Zubereitung. – –

Wir besuchten Gräser noch einigemal, solange wir in Locarno weilten – und immer fanden wir uns herzlich zusammen. Da ist ein Mann und eine Frau, an denen nichts ist, was nicht ganz ihr eigen wäre; nichts Gestohlenes finden wir. Kein Naturmensch ist Carl Gräser, kein Kulturaffe – ein Eigenmensch, edel, groß, frei und abgeklärt, wie man wohl selten einen findet! Herzlich war der Abschied – aber das wissen wir: so oft wir zurückdenken an die schönen Tage am Lago Maggiore – an Carl Gräser werden wir immer denken.

Ludwig Ankenbrand in: Die Lebenskunst, 1. Mai 1913, Nr. 8 und Nr. 9, S. 217-219.

Kommentar: Der Besuch der Gruppe Ankenbrand – drei Männer und drei Frauen - bei Karl Gräser fand im Juni 1912 statt. Bei dem erwähnten „kleinen Häuschen“, das die Gemälde Gusto Gräsers enthielt, handelte es sich um die heutige Casa Bambu. Das Gebäude war ursprünglich die Ruine eines Weinbauernhauses gewesen, die Karl 1902 erwarb und nach und nach ausbaute. Ab 1903 errichtete er mit Hilfe seines Bruders Gusto ein grösseres Wohnhaus, das heute sogenannte „Demianhaus“. Nachdem dieses von Karl und Jenny um 1905 bezogen worden war, konnte Gusto das Ersthaus, das er sein „Ruh-inne“ nannte, bei seinen zeitweiligen Aufenthalten nutzen. Ab 1907 befand sich dort eine Gemäldeausstellung mit Werken von Ernst und Gusto Gräser als öffentlich zugängliche Galerie. In dem langgestreckten Raum im ersten Stock fanden auch die Gespräche mit Hermann und Mia Hesse und anderen Besuchern statt. Nachdem Karl 1915 erkrankt in ein Heim kam und Gustos Familie in das Haupthaus eingezogen war, benutzte der Dichter die “Ruh-inne“ weiterhin als sein Atelier. Hier wurden seine Flugblätter und Gedichte geschrieben, hier entstanden auch Zeichnungen. Wenn im Demian-Roman Frau Eva/Elisabeth Gräser den Besucher Sinclair/Hesse in den Garten und zu einem „Gartenhäuschen“ weist, wo Demian/Gusto sich aufhalte, dann meint sie dieses Nebenhaus, das vom Haupthaus etwa hundert Schritte entfernt liegt.

Ankenbrand spricht zunächst von Leipzig und von Gustos Ausweisung aus dieser Stadt. Dort war der Dichter am 20. Juni 1912 auf dem Naschmarkt verhaftet worden. Die fadenscheinige Begründung war, dass sein Auftreten zu Verkehrsstörungen führe. Bei dem folgenden Prozess wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, über den sogar Berliner Blätter berichteten, stürmten Hunderte empörter Bürger den Justizpalast. Der Neobuddhist Ankenbrand kannte Gräser schon seit etwa einem Jahr. Davon zeugt seine Postkarte an Lisbeth Ankenbrand, die Gusto am 10. Oktober 1911 in Leipzig mitunterschrieben hat.