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Ein Bayer im Tessin
für nicht wenige aus dem
Milieu Asconas,
die mit einem
gräserisch-tolstoianischen Anarchopazifismus begannen, unter dem Druck von Krieg und Revolution sich dem marxistisch geprägten Sozialismus anschlossen und am Ende ihres Lebens, von den sozialistischen Realitäten bitter enttäuscht, zu ihren Wurzeln zurückgekehrt sind. Als einziger unter seinen Kameraden aus der 'Tat'-Gruppe unternahm Graf jedoch den Versuch, im Sinne Gräsers und Tolstois sich mitten im Getümmel der Revolution gegen den Terror zu stemmen und einen 'Bund freier Menschen' zu gründen. Nachdem dieses Unternehmen spektakulär gescheitert war und ihm den Spitznamen eines "sanften Heinrich" eingetragen hatte, rächte er sich an Gräser, indem er dessen gleichgerichtete Versammlung durch hämische Zwischenrufe sprengte. Am Ende, nach der Niederschlagung der Revolution, befanden sich beide, Gräser wie Graf, ihrer Erschießung gewärtig, in den Gefängnissen der Sieger. *
Man
kennt das Abziehbild vom bairischen Urviech: rauflustig, sauflustig,
lebenslustig. Ein prahlerischer Kraftlakel, herzhaft derb bis zur
Ruppigkeit
und doch sensibel, kunstbegabt, musikalisch. Barocker Genießer, von
reizbarem
Stolz und gemütlicher Umgänglichkeit, naiv und bauernschlau, katholisch
konventionsfromm und heidnisch sündengeil.
So
einer war der Dichter und Schriftsteller Oskar Maria Graf. Zumindest
schien er
so auf den ersten Blick.
Der
scheut sich nicht, noch als Siebzigjähriger in der kniefreien
Krachledernen
sich aufs Podium im feinen Cuvillétheater zu setzen, der hält auch dem
Kolchosbauern in der russischen Steppe oder dem business man in der New
Yorker
U-Bahn echt bairische Lebensart vor die Nase.
Man
kennt das Foto aus dem fernen Amerika. Da sitzt der Graf in einem New
Yorker
Restaurant, groß und breitbrüstig wie ein gemästeter Ochse neben dem
kleinen,
schmächtigen, klapperdürren Brecht, schwenkt zuprostend einen
gewaltigen Bierhumpen
in die Höh, als sitze er in einer Ehrenloge auf dem Münchner
Oktoberfest. Mit
einem wagenbreit dröhnenden Lachen bleckt er seine vorstehenden Zähne
wie ein
wieherndes Nilpferd. Man kommt auf den Gedanken, der fröhliche Riese
könnte das
zwergige Kasperl neben sich aus Versehen verschlucken wie einen
gedörrten
Steckerlfisch.
Und
dann schreibt dieser Mann einen Roman von fast neunhundert Seiten, der
ausschließlich dem notvollen Leben seiner Mutter gewidmet ist, einer
schlichten
Bäckersfrau aus Berg am Starnberger See. Und er schreibt von einer
verborgenen
Brüderschaft der Stillen und Sanften. Sie werden nach einem Atomkrieg
die
"Erben des Untergangs" sein. Ihr wisst ja, sie leben nach dem Grundsatz, der den Sinn aller Religionen ausmacht: Widerstrebe nicht dem Übel - - - ... Die Stillen kannten keine Kirche und Andacht, sie lebten, wie sie manchmal dunkel erklärten, "in sich", doch sie waren weit verbreitet und zahlreicher, als selbst die besten Schätzungen anzugeben vermochten. ... - Die Sanften trotzten mit beharrlicher Geduld. (Z. n. Recknagel 322)
Gehörte
etwa Graf zu den Stillen und Sanften im Lande? Woran hat er gedacht,
als er
seinem letzten Buch das Motto voranstellte: "Wie oft habe ich euch
versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre
Flügel,
und ihr habt nicht gewollt." - ? - Versammeln - wohin? Und - wer hat
nicht
gewollt? Georg Schrimpf und Oskar Maria Graf
Ein
verprügelter
Bäckergeselle kommt vom Starnberger See nach München, gerät in
Schwabing in die
Szenerie der Anarchobohème: Erich Mühsam, Leonhard Frank, Franz Jung,
Georg
Schrimpf. Die Caféhaus-Runde wird ihm zur Lebensschule: prägend für den
werdenden Schriftsteller, für sein politisches Bewußtsein. Er liest
Tolstoi und
Landauer, Nietzsche und Kropotkin, er wird Sekretär der Gruppe 'Tat'
des Sozialistischen
Bundes. "Das war eine neue Welt. Hier also, dachte ich, fängt dein Weg
an." (WG 86)
"Die
Psychoanalyse ging um, untermischt von allerhand sozialen Ideen" (WG
138).
"Es wurde philosophiert, gestritten und psychoanalysiert. Mit aller
Anstrengung hörte ich oft hin, verstand aber nicht das mindeste" (WG
86).
Zu groß war der Kontrast zu seiner Realität: Tagsüber hatte er als
Hilfsarbeiter in der Tivoli-Mühle zwei Zentner schwere Mehlsäcke zu
schleppen.
Vor diesem Hintergrund empfand er Mühsams anarchistische Lehren als
"dummes Geschwätz" und "verstiegenen Unsinn" (z. n.
Recknagel 45). "Die Kaffeehausgesellschaft, in die ich geraten war,
widerte mich an." (WG
88) "Graf is mostly critical of the people who
surrounded Gross who talked about freedom but did not follow their own
theories" (Michaels 143). Dagegen verband
ihn
"eine unzerreissbare Freundschaft" mit Franz Jung, dem er
"buchstäblich geistig hörig" war, und mit Georg Schrimpf (z. n. ebd.
142). Georg Schrimpf weiß ihm viel von Ascona zu erzählen und von jener
Kolonie, wo die Theorie zur Tat geworden war. Im Frühjahr 1913 ziehen
Graf und
Schrimpf gemeinsam an den Langen See. In Locarno fühlen sie sich wie in
einer
anderen Welt. Eine
unbeschreibliche
Friedlichkeit war in uns. Das Leben trug eine reichfarbige, anheimelnde
Umkleidung. Schöne, braune Italienermädchen huschten vorüber, die
plumpe
Trambahn surrte gemächlich durch die engen Straßen, vulgäre Männer
lehnten
breit an den Ecken. Kaufläden machten bunte, offene, selige Gesichter
und über
das alles schüttete die Sonne ihren milden,
hohen
Glanz. (WG 106) Schon
die erste Polizeikontrolle macht ihnen bewußt, daß sie nicht zu dieser
Welt
gehören. Sie sind ohne Geld und Papiere. Sie haben keine Arbeit. Sie
gehören zu
den Genossen von der Gruppe 'Tat', die sich vor dem Militärdienst
hierher
geflüchtet haben. "Georg kannte in Ascona den vegetarischen
Staatsleugner
Gusto [gemeint ist: Karl] Gräser."
(Mitm. 194) 1913 [erinnert sich Schrimpf] zog ich mich für längere Zeit in eine anarchistische Kolonie am Lago Maggiore zurück. Alles brachte mich nun zu der Einsicht, daß der Mensch als Ich der Mittelpunkt und der Kern allen Geschehens ist: ändere ich mich zuerst selbst von Grund aus und kehre in mich zurück, dann ist auch die Weltumänderung und die Erlösung da. Aber dazu gehört der Glaube; der ist alles. Seit dieser Zeit bin ich glücklich und zufrieden, trotz vieler Not, die noch folgte. In jener Kolonie, in der sich's wie im Paradies lebte, fing ich wieder zu zeichnen an. ( Schrimpf z. n. OMG: Georg Schrimpf 15f.) "Carlo
Gräser", so wird Graf später schreiben, "hatte vor vielen Jahren für
wenig Geld ein umfängliches Grundstück in Monte Verità gekauft, sich
ein Haus
darauf gebaut und sich seßhaft gemacht. Er war in der dortigen Gegend
sehr
populär und hatte Anhänger und Verehrer in der ganzen Welt, denn jeder
politisch Verfolgte und Anarchist, der den Militärdienst verweigerte,
fand bei
ihm Unterkunft." 1 (Gelächter
305) Zu
diesen zählten, ihrer Gesinnung nach, jetzt auch die beiden
Bäckergesellen Graf
und Schrimpf. Was in Schwabing Gerede blieb, in Ascona wurde es
sichtbar und
greifbar. Mühsam hatte hier von einer anarcho-kommunistischen Siedlung
geträumt, Otto Groß von einer Freien Hochschule. Beides wurde nun in
unmittelbarer Nachbarschaft von Ascona, in Brione, zu - wenn auch
bescheidenster - Wirklichkeit. Im Ort hatte sich eine Filiale der
Münchner
Gruppe 'Tat' niedergelassen, die mit dem Monte Verità in enger
Verbindung
stand. Die Aussteiger Graf und Schrimpf trafen auf Kameraden aus
München,
Militärdienstverweigerer, die hier "ein Naturleben" führten,
"das anarchistischen Grundsätzen nahekam". (WG 108) Jeder hatte sich eine Behausung zurechtgemacht und arbeitete nur zeitweilig, um die Mußestunden seiner freien Entwicklung widmen zu können. Es waren eigentlich alles Leute mit einem geheimen Hang, sogar mit einem leisen künstlerischen Einschlag. Das Innere war das Wesentliche, und die Aufgabe des echten Anarchisten hieß: Sein Äußeres nach dem Gesetz des innersten Dranges zu formen, in größter Freiheit, uneingeschränkt und möglichst unberührt von "Kultur". (WG 111f.)
Das
Gesetz des innersten Dranges: Nichts
Anderes lebt als aus innerstem Drang -
Feind alles Blühenden ist der Zwang!
hatte
Gusto Gräser geschrieben. Denn nur aus dem
Drang, dem fühlend führenden,wirbt der Mensch
seiner Welt das menschenwürdige Leben! Hah, nur getreu dem Herzensdrang so schlingt auch uns der Lebenstausch voll Schauerrausch ... zum heitern Weltzusammengang!
Gräsers
leidenschaftliche Verteidigung des Inneren und Eigenen gegen alles
Fremde,
Äußere und seinen vergewaltigenden Zwang hatte Groß in Theorie
übersetzt; erst
recht weist die Ablehnung von "Kultur" auf die geistige Heimat dieser
Denkschule hin. Hint hintr uns
das Blödbauschegrauen der Bluffkultur samt Schindustrie!
...
Hier
in der alternativen Praxis und seiner stadtfernen Abgeschiedenheit trat
das
Innere in den Vordergrund. Sein Freund Georg Schrimpf bestätigt in
seinen
Erinnerungen die Darstellung von Graf: Für diese Kommunarden jenseits
der
"Kultur" beginnt der Umbau von innen her. Ändere ich mich zuerst selbst von Grund aus und kehre in mich zurück, dann ist auch die Weltumänderung und die Erlösung da. ( Schrimpf z. n. OMG: Georg Schrimpf 15f.)
Da
mischt sich Stirnerisches mit Gräserischem, aber die gräsersche Mystik
überwiegt: Dem Ingeist
horchen, redlicher hören heisst's ...
Das Inheil, das Fühlführelicht, treuspielend kannst du's schüren, kannst herzfroh es erspüren, ob auch ersehen nicht. Nach Dem und Jenem verderben oder - aus unserm Innern - gedeihn. Dort - nach Überlieferung - krank. Hier urgesund aus Innegang. Nach aussen verkommen - von innen gedeihn. Im Himel und auf Erden ist nur, was in uns ist, was Menschenkind du bist. Nur - innig sein - und Glück blüht aus der Not!
Schrimpf
und Graf arbeiten auf dem Monte Verità im Obstgarten von Karl Gräser;
sie gehen
barfuß und lassen ihre Haare ungeschoren. In Ascona gab es Arbeit bei Gräser. Aber der bezahlte nichts. Er gab nur Essen und Unterkunft und verweigerte jede Einmischung von "Kultur". ... Es waren alle möglichen Menschensorten da, Revolutionäre, Vegetarier und Maler aus allen Himmelsrichtungen, Freiluftkuranhänger und endlich Literaten und Naturmenschen mit langen Haaren und nur mit einem Hemd aus grobem Sackleinen bekleidet. ... Man kam Abend für Abend zusammen, las Kropotkin, Landauer, Proudhon und diskutierte darüber. Oft wurde es erregt, aber man verstand sich. Den Tag über arbeiteten alle. (WG 113)
Hier
hatte sich weniger eine Verschwörung von Revolutionären
zusammengefunden als
eine Kolonie von Sanften und Stillen, von Selbstsuchern und
Friedfertigen. Graf
hat sich in den späteren Jahren seiner Emigration mit Wehmut an diese
Auszeit
erinnert. Auch die Bilder seines Freundes Schrimpf, der sich in diesen
Jahren
zum Maler entwickelte, sprechen durchweg die Sprache eines
ehrfürchtig-sehnsüchtigen Schweigens. Schrimpf malt die Ruhe und
Einfalt der
kleinen Dinge. Vorbild Kropotkin
Eines
Tages hat Graf eine erregende Begegnung. Im Autobus nach Locarno sitzt
neben
ihm ein Herr, der ihm bekannt vorkommt. Erst kürzlich hat er sein Bild
in einem
Anarchisten-Blatt gesehen. "Klein war der Mann, trug einen langen,
gepflegten Graubart, der die halbe Brust verdeckte" (WG 114). Als der
Herr
aussteigt, folgt er ihm in scheuer Verehrung. Endlich faßt er sich ein
Herz und
klopft dem vor ihm Gehenden von hinten auf die Schulter. "Verzeihung, habe ich vielleicht mit dem Fürsten Kropotkin die Ehre?" sagte ich etwas unbeholfen und lachte ein wenig. Der Mann nickte freundlich und musterte mich flüchtig. Ich trug zu damaliger Zeit nur Hose und Hemd, lief ständig barfuß und hatte lange, wallende Haare. (Graf: Gefangene 114f.)
Er
kommt mit dem Verehrten ins Gespräch, und als er heimkommend sein
Erlebnis den
Genossen erzählt, sind die so begeistert, daß sie dem Philosophen des
Anarchismus
eine feierliche Huldigung darbringen wollen.
Dessen
wiederholte Aufenthalte in Ascona kamen nicht von ungefähr. Vielleicht
mehr
noch als Fourier, Tolstoi oder Landauer war Kropotkin der Vordenker,
dessen
Anschauungen denen der Gräsers entsprach.
Schon in
Rußland hatte sich Kropotkin mit Fourier beschäftigt und verfocht
seitdem mit
Leidenschaft dessen "ethisch-utopische" Traditionslinie gegen den
dürren Utilitarismus der Sozialdemokratie. Kropotkins Interesse am Frühsozialismus galt dem kulturrevolutionären Konzept der frühsozialistischen Assoziationsidee, in der Sozialismus nicht auf die Aufhebung der ökonomischen Ausbeutung reduziert war, sondern eine Änderung aller menschlichen Lebensbeziehungen angestrebt war. Kropotkin interpretiert den Frühsozalismus als eine ethische Bewegung, die im Gegensatz zum Marxismus erkannt habe, daß eine neue Welt einen "neuen Glauben" brauche. Er spricht davon, daß der Frühsozialismus "a new page in the ethical life of mankind" geöffnet habe. (Weber 241) Nietzsches "Ästhetizismus" setzt Kropotkin die reine Gesinnungsethik Guyaus entgegen, dem Heroismus des Übermenschen den Heroismus der Hingabe und Selbstaufopferung, als ein letztes und höchstes Ideal, durch das Fouriers Ideal einer Attraktion der Leidenschaften transzendiert würde. Das Leben ist nicht rationalistisches Berechnen, sondern ein leidenschaftliches Sich-Selbstverausgaben für seine eigenen Ideale und für die seiner Mitmenschen. (Ebd. 264)
Mit
diesen Sätzen ist zugleich das Selbstverständnis Gusto Gräsers
gekennzeichnet:
höchste individuelle Selbstentfaltung einerseits und völlige Hingabe an
die
Gemeinschaft andererseits ist ihm kein Widerspruch sondern lebbare und
gelebte
Wirklichkeit. ("Der Hingegebne nur lebt
grohs,
lebt freih!") Ebenfalls
typisch gräserisch ist Kropotkins Rückgriff auf archaische Komponenten
menschlichen Zusammenlebens, seine Betonung der lebenspraktischen
nachbarschaftlichen Solidarität gewachsener Gemeinschaften, "die sich
manifestiert in der gegenseitigen Hilfe bei Krankheit, in der
Unterstützung der
Hinterbliebenen bei Todesfällen, in der Einrichtung eines gemeinsamen
Mahles,
... und in der bruderschaftlichen unformalisierten Form der Schlichtung
von
Streitfällen" (Weber 258). In den siebenbürgischen Nachbarschaften
hatten
sich solche uralten Gesellungsformen bis in die Gegenwart erhalten,
Gräser hat
sie noch erlebt, und sie haben zweifellos sein soziales Zielbild
mitgeprägt. Lebensgift
- Herrn- und Knechtsbetrieb.
Lebensgabe - Nachbarsdienst. Im Knechtedienst verkümmern - im Mitmenschdienst gedeihn. Dienen ist Urgebot! Wer dem gehorcht, löst leid- und freuderot das Rätsel - Tod! Dienen - sich selbst mit andern befreihn.
Freilich
sollten nicht mehr
kirchliche, berufliche oder kommunale Gegebenheiten diese
Gemeinschaften
bestimmen, sondern der freie, bruderschaftliche, informelle Bund von
Freunden.
Auf diesen "Bund freier Menschen", Gräsers Idealvorstellung, sollte
Graf während der Revolutionszeit zurückkommen.
Kropotkin
gilt als der "Heilige des Anarchismus".
In den Augen von Oscar Wilde hatte er die
Seele eines "beautiful white Jesus". Für George Bernard Shaw war
Kropotkin "so liebenswürdig, daß es ans Heilige grenzte, ... mit seinem
roten Vollbart und seinem gütigen Gesicht hätte er ein Hirte aus den
Lieblichen
Bergen sein können" (z. n. Kropotkin: Memoiren 595). Als Gast seines
Freundes und Arztes Raphael Friedeberg verbrachte Kropotkin 1908, 1909,
1911
und 1913 einige Monate in Ascona und Locarno - bis man ihm auch in der
Schweiz
die Einreise verweigerte. Für einen Bewunderer Fouriers war es
selbstverständlich, daß er dieses Siedlungsexperiment genauer studieren
wollte. Auf dem Monte Verità war er öfters bei dem Bildhauer Max Kruse zu Besuch. Dessen Frau, die Puppenmacherin Käthe Kruse, erinnert sich: Fürst Peter Kropotkin, der russische Edelkommunist, der als Page am Zarenhof aufwuchs, war ins Gefängnis geraten und unter phantastischen Umständen nach der Schweiz entkommen. Seine Flucht aus dem Gefängnis: wie er am Torweg an einem gerade durchfahrenden Wagen vorbeischlüpfte, wie er dann mit krampfhaft harmlos lärmenden Freunden in einem Café gegenüber dem Gefängnistor stundenlang saß, während in der ganzen Stadt fieberhaft nach ihm gesucht wurde, wie das Gelingen der Flucht an einem seidenen Faden hing - das alles kam uns damals romanhaft und kaum glaublich vor ... Klein von Gestalt, war Kropotkin ein zarter, liebenwürdiger, lebendiger alter Herr mit einem großen weißen Vollbart. Ein Genuß war es zuzuhören, wenn Max und Kropotkin - zwei gebildete Männer, die völlig entgegengesetzter Meinung waren - miteinander diskutierten, ohne daß es je die leiseste Verstimmung gab. (Puppenspiel 64f.) Emil
Szittya berichtet von einem Gespräch, das er mit Kropotkin führte,
nachdem der
Mann, der die "gegenseitige Hilfe in der Natur und Menschenwelt" als
einen Grundzug alles Lebendigen behauptete und nachweisen wollte,
wieder einmal
aus der Schweiz ausgewiesen werden sollte. Als ich Kropotkin nach dieser unangenehmen Affäre sah, sagte er mit resignierter Stimme: - "Wäre ich parasitischer Aristokrat geblieben, so würden sich lakaienhaft alle Türen vor mir öffnen, da ich aber aufrichtig und ernst für die Menschen arbeite, bin ich in allen Stätten der Welt ein unliebsamer Gast. Die Menschen, die Angst vor mir haben, wissen nicht, dass ich in meinem Buche 'Die gegenseitige Hilfe' den Anarchismus wissenschaftlich bedingt nachweise und dass ich ein Gegner von jedem Gewaltmittel bin, weil der Anarchismus nicht durch Gewalt, sondern nur durch geistige Entwicklung und Liebe entstehen kann." (Szittya 131f.) Kropotkin
und Landauer, Forel und Nietzsche, Fourier und Tolstoi hießen die
geistigen
Leitsterne für die Gräsers und ihre Freunde. In ländlichen, weitgehend
autarken
Siedlungen ließen sich ihre Ideen am ehesten verwirklichen. Die kleine
Schwabinger Kolonie, die sich mit Graf und Schrimpf in Brione
niedergelassen
hatte, plante die Auswanderung nach Brasilien. Doch dazu kam es nicht
mehr,
vielmehr zum Streit und Bruch mit Karl Gräser: Graf ging mit der
Schaufel auf
seinen Brotgeber los. Damit hatte die Idylle ein vorschnelles Ende
gefunden.
Hungernd und bettelnd, als langhaarige, braungebrannte Vagabunden
schlugen sich
Graf und Schrimpf nach Deutschland durch. Verschlampt, mit langen Haaren, wie ein Wilder kam ich daher. ... In Leoni stieg ich aus dem Dampfschiff und ging den Berg hinan. Von weitem sah ich zwei sonntäglich gekleidete Jungfern mit einem adrett angezogenen Herrn daherkommen. Sie lachten und schwätzten übermütig. Ich kam näher und näher und auf einmal schrien die drei zugleich: "Um Gottswilln, der Oskar! der Oskar!" Das Lachen erstarb im Nu ... (WG 125f.) Die
peinlich berührten Geschwister bringen ihn nach Hause, nehmen ihn in
die Mitte,
damit ihn keiner sieht. Nur die Mutter empfängt ihn anders. "Ja! Ja! ... Oskar?! ... Ja, jetzt so was! Bist jetzt wieder da?" sagte sie und lächelte ihr kärgliches Lächeln, "schaust aus wie ein junger Christus! ... Magst einen Kaffee?" (LM 666)
Man
könnte denken, Grafs
Ascona-Erfahrung sei Episode geblieben, zumal Graf alles andere als ein
geradlinig Gehender war. Ein Säufer, Fresser und Hurenbock, ein
gutmütig-schlauer Tolpatsch, wie ein Betrunkener taumelnd hin und
hergerissen -
so hat er sich selbst geschildert. Und doch hatte er seine innere Linie
gefunden. Der
Schwabinger 'Tat'-Kreis verlegt seinen Schwerpunkt nach Berlin. Franz
Jung,
Richard Oehring, Otto Groß, Graf und Schrimpf geben dort zusammen eine
Zeitschrift heraus, deren Titel den Wanderer Walt Whitman zitiert: 'Freie
Straße'. Sie wird illustriert von Grafs bestem
Freund, dem Maler und Zeichner Georg Schrimpf.
In den Bildern und Texten des Verlags Freie Straße
tritt uns eine fromme
Gefühlsinnigkeit entgegen, die, weit entfernt von allem
Politisch-Praktischen,
auf Selbstverwirklichung und innere Wandlung drängt. Augustinus und
Thomas von
Kempis werden schon im Titelblatt zitiert; um "Weisheit und Leben"
geht es den Herausgebern, um den "Anderen in Dir"; die
"Erweckung des Mutes zu sich", zum Eigenen gegen allen Zwang des
Fremden wird gefordert (z. n. Storch 45); es geht darum, "alle uns
nahestehenden
Menschen aufzurufen zu einem großen umfassenden Bekennen. Dieses soll
nicht auf
eine bestimmte Form, und auch nicht auf irgendein festgelegtes Programm
hinarbeiten, es beruht vielmehr auf der Kraft und Sicherheit des
einzelnen, der
von vornherein restlos
von sich selbst
überzeugt ist. Die Vorarbeit wendet sich daher nur an Wenige, nach
außen hin
Getrennte und bisher Alleingehende. ... Das Entscheidendste ist ... das
Herantreten und Eingehen in den einzelnen, das gegenseitige Aufrichten,
der
Glaube an den Menschen und seine Intensität, der restlose Wille zur
Bejahung
von Mensch zu Mensch." (Z. n. Storch 44) Bekentnis
muss sein des ursprünglich Eigenen,
und heisse es auch sonderbar bei den Leuten ... Zu lange schon leben, nein siechen und kriechen wir als farb- und geistlose Mietmenschen, bekennen nicht das Eigene, heilig Eigene ... Von den Richtungen allen - zur heiligen Aufrichtung. Welcher Richtung ich ergeben? Richtung was? Aufrichtig leben; Aufrichtung, wenn Ihr so wollt ... Gräserisches
wird hörbar, es
ist die Stimme von Stillen und Sanften, die um den "neuen Menschen"
ringen. "Es ist unerheblich, gegen den Staat zu sein", schreibt Franz
Jung. "Wer aber wirklich Ja sagt, durchwächst den Automatismus des
Staates",
wird "das klarste und glückstärkste Lebensbewußtsein gebären ... der
neue
Mensch dehnt sich ... es wird Einer kommen (der neue Sonnen aufreißt),
das
werden dann Wir sein." (Z. n.Storch 42) Den
"Sonnengesang" (und die Großschreibung des Wir) kennen wir von Gräser
her, dem "Sonnensohn". Herbei,
herbei, Geselln, fern bänglichem Geziel,
Sonne zu spielen in die Kummerwelt! Wer spielt, tiefspielt - tut auf das Sonnentor zu Menschseins Blühn, macht nimmer sich, macht niemand etwas vor! Innsonnensein, Du in Uns allen drein, loh - Uns - gesund ... Nun hebt sich Sonne, sonn'ger Mannheit Lüftung ... ... sprühender Spruch, flammend Gedicht, Sonne, Sonne, die's Herrschen bricht ... Ihr in euren Kummerecken, seht, dort wallt der Sonnenheld! Die Gesundheit anzustecken wallt der Heilge durch die Welt. ... Er ruckt auf das Sonnentor - ruft das Notwendlied hervor! In
der Whitman-Gräserischen 'Freien Straße'
- auch Schrimpf war jahrelang gewandert! auch Gräser sprach das
menschheitsumarmende Kamerado-Pathos! - kündigt der Grafsche "Bund
Freier Menschen"
sich schon an. Es folgte aber nicht der große Aufbruch der
Sonnenwanderer und
Menschheitsbefreier sondern Krieg und Revolution. "Nieder
mit dem Krieg!" und "Die Masse macht es nicht! Der Einzelne muß es
machen!" kritzelt der Soldat Graf an die Wand seiner Zelle, als er
wieder
einmal strengen Arrest absitzen muß (z. n. Reck 63). Er verweigert den
Gehorsam, er verweigert die Nahrungsaufnahme, er spielt den Idioten und
verbringt fünf Monate in einer Irrenanstalt, bis man ihn schließlich
nach Hause
schickt. Wie seine Freunde Georg Schrimpf und Franz Jung (und wie
Gräser) ist
er dem Griff der Militärs entwischt. Wieder
in München verteilt er mit dem Deserteur Schrimpf und dem ebenfalls
desertierten Paul Guttfeld zusammen die enthüllenden Lichnowski-Papiere
über
Deutschlands Mitschuld am Krieg - und wird verhaftet. Nach seiner
Entlassung
folgt er Schrimpf und Jung nach Berlin. Die hatten dort Verbindung
aufgenommen
zu einem Kreis von Freideutschen, der Landauer und Gräser nahestand,
einer
linkspazifistischen Gruppe um Hans Koch und Alfred Kurella. (Einer aus
diesem
Kreis, der Freideutsche Jakob Feldner war 1916 in geheimer Mission zu
Rolland
und Gräser in die Schweiz gegangen, 1919 fuhr er mit Kurella zu Lenin
nach
Moskau.) In Graf erwachten die alten, jetzt ganz inopportunen Ideale zu
neuem
Leben, flammten auf, trieben ihn in eine ebenso kühne wie unbedachte
Initiative. Angewidert vom Treiben der Spartakisten, entsetzt über den
Schrei
nach Gewalt, rief der "Friedfertige" zu einer Versammlung im
Mathäser-Saal: Jeder Terror solle vermieden werden. Es gehe "um das
Mensch-Sein". "Bevor wir nicht brauchbare Menschen haben, kann auch
keine Revolution werden!" (WG 434). Ein "Bund Freier Menschen"
solle gegründet und damit ein Blutbad verhindert werden 2. Landkommunen
"auf rein sozialistischer Grundlage" sollten geschaffen werden.
"Nach vier Jahren Mord soll kein Ende sein? Volk! Versammle dich!"
(Z. n. Reck 89) Jeder, der das Menschsein noch nicht vergessen hat, komme! Nicht eine Partei soll gegründet werden, die nur ihr Interesse vertritt, Menschen rufen hier, die das Wohl des Volkes im Auge haben. (Z. n. Schoeller 103) Es
war eine Initiative im Sinne der Gräsers, praktische Konsequenz seiner
Lehrzeit
bei Landauer, Kropotkin und Tolstoi: Geist-Revolution statt
Macht-Revolution,
menschen-verändernde Still-Gewalt statt Waffen-Gewalt. Graf
freilich, mehr impulsiver Gefühlsmensch als eigenständiger Denker, war
als
Redner in der Versammlung nicht in der Lage, seine brennende
Überzeugung in
gesetzte Worte zu fassen. Nach wenigen Sätzen war er mit seinem Latein
am Ende.
Sein Vorstoß endete in einem Fiasko, in Lächerlichkeit. "Er ist ein
harmloser Tolstoianer und sehr verworren!" schrie ein Teilnehmer im
Tumult
vom gestürmten Rednerpult (z. n. Reck 90). Ganz München lachte. Graf
hatte
seinen Spitznamen weg: der "sanfte Heinrich vom Mathäser" hieß er von
nun an. "Sanft" ist das Stichwort, das auch seine Gegner verstanden
haben. Gleichwohl
gelang es ihm, wenigstens einen Teil seines Programms zu verwirklichen.
Er
sammelt Geld für jene Berliner Wandervogelgruppe, die inzwischen in
seinem
Heimatdorf untergekommen ist. Ein Gut zur gemeinsamen Bewirtschaftung
kann
angekauft werden. Die Landkommune Blankenburg entsteht. Graf
freilich, gründlich enttäuscht und desillusioniert, läßt sich nun
mitreißen vom
mächtigen Zeitstrom in den marxistischen Staatssozialismus. Hier kann
er sich
aufgehoben und angenommen fühlen im Marschtritt der Massen. Und als nun
Gusto
Gräser in München auftaucht, in der Wohnung seines Freundes Schrimpf
sich einquartiert,
da kann er sich für allen erlittenen Spott schadlos halten an
demjenigen, den
er für sein glückloses Unternehmen mitverantwortlich halten muß. Er
bringt
Gräser in die selbe
schlimme Lage, die er als sein
geistiger Gefolgsmann hatte durchleiden müssen: Er stört dessen
Versammlung so
lange mit hämischen Zwischenrufen - "Nieder mit der Natur, es lebe die
Technik!" - , bis die
Gräsersche Mahnung zu
Gewaltlosigkeit in Radau und Gelächter untergeht. (Gefangene 468) Sieg der Sanften und StillenIn
der Folge ist Graf im Politischen eigene Wege gegangen, die ihn bis
nach Moskau
und ins Exil führten. Doch blieb er immer ein Mahner gegen Krieg und
Gewalt,
gegen Ende seines Lebens wieder so entschieden wie einst. In seinen
letzten
Jahren kehrt er nicht nur zu seinen tolstoianisch-gräserischen Idealen,
er
kehrt auch, besuchsweise, in das Tessin zurück. Die Wiederbegegnung mit
seiner
heimlichsten Vergangenheit löst eine heftige Gesundheitskrise aus. Schon
in den Zwanzigerjahren hatte der "sanfte Heinrich vom Mathäser" eine
fiktive Chronik geschrieben "über eine religiöse Gemeinschaft, welche
den
bezeichnenden Namen 'Die Sanften' führte" (Reck 322). Zu deren Losung:
"Die Sanften werden ewiglich die Siegreichen sein" (ebd.) kehrt er in
seinem letzten Roman zurück. Jetzt sind die Stillen - nach den
Schrecken eines
Atomkriegs - "die Erben des Untergangs": der Bund Freier Menschen
kehrt wieder. Ihre politischen Vorstellungen "entsprechen ziemlich genau den Bestrebungen Tolstois und Gustav Landauers", wie selbst sein realsozialistischer Biograph eingestehen muß (Reck 325). "In den Kellern der anarchistischen Gruppe 'Tat' wurde(n) sie bereits vor dem ersten Weltkrieg heftig diskutiert." (Reck 324) Eine
"dezentralisierte Ordnung" wird angestrebt. "Je kleiner die
Gebiete, umso besser" (z. n. Reck 323). "Der Kampf der Interessen
wird abgelöst von einem ethisch begründeten Sozialismus, der die
Maximen des
Klassenkampfes, der proletarischen Revolution, des dialektischen
Materialismus
hinter sich gelassen hat. ... Träger der Idee vom allgemeinen Glück ist
im
Roman die Gemeinschaft der 'Stillen', die nicht durch das Wort, sondern
durch
Glaube und Beispiel wirken." Graf bekennt sich in 'Die Erben
des Untergangs' zu den franziskanischen Tugenden
der Armut, der
Einfachheit und des vorbildhaften Lebens. (Schoeller 382) "Die
Stillen", heißt es da, "kannten keine Kirche und Andacht, sie lebten,
wie sie manchmal dunkel erklärten, 'in sich', doch sie waren weit
verbreitet
und zahlreicher, als selbst die besten Schätzungen anzugeben
vermochten."
(Z. n. Reck 323) Gräser war überzegt, daß "aus dem
Zarten, Stillen das Wuchtigste sich strafft". Er
hat nie die
Worte "Gewaltlosigkeit" oder "Nicht-Gewalt" gebraucht, er
hat immer von "Stillgewalt"
gesprochen. Willkomm,
willkomm, du freigeborne Welt, du freundschaftfrohe ...
... voll Grünvertraun, grundgrohser Stillgewalt, selbstseelig auferbauen verstörten Völkerwald ... dann leuchtet, lacht uns auf die allnotwendige, die: Stillgewalt, die durch die Berge geht ... und, was uns heilt, muss wachsen, wachsen voll Stillgewalt! Zu
dieser Gemeinschaft der Stillen und Sanften, die die gräsersche
"Still-Gewalt" leben, hat Graf, allerlei Schwankungen zum Trotz, im
Herzen gehört. "Der Mensch ist frei, und sein Feld ist die Welt"
soll, nach Graf, der erste, stolze Satz ihrer "Weltverfassung"
lauten. (Z. n. Reck 324) Bairische
Landschaft
Gemälde von Georg Schrimpf Fussnoten 1 Diese
Äußerung steht
in auffälligem Gegensatz
zu der gehässigen Darstellung, die Graf Jahrzehnte früher in 'Wir sind Gefangene'
sowohl von Karl wie von Gusto Gräser
gegeben hatte. Man gewinnt den Eindruck, daß Graf durch schmeichelhafte
Übertreibung wiedergutmachen will, was er an den beiden gesündigt hatte.
2 Gräser ruft auf "zur Erbauung des alltnotwendigsten 'Bundes der Lebendigsten'". "Heran zu unsrem freien Bund", lockt er in einer Flugschrift von 1912. "Urbändig notwillig leben, so wächst lebendiger Bund". Denn: Durch
Bund nur wird lebendig unsre Welt.
Urbändig bin ich, doch mein Sein zerfällt, wo ich nit bindend, wirkend, webend bleib, ein Mit-, ein Zu-, ein Füreinander treib. Wo sich nit fügt ein Mein zu einem Dein, wo nit gedient wird, da kann nichts gedeihn.
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