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Festliches
Dasein Schwabing und
Monte Verità Zur
Mutter
flüchten wir mit Weinlaub und roten Tänzergewändern - zur Mutter eilen
wir mit
Fackeln und den Rosen der Wonne.
Karl Wolfskehl
"Die
Leute müssen vor allem aus der Stadt heraus, sagte ich zu mir, und dann
müssen
wir ein ganz anderes Leben führen. Sie müssen neben der Kunst eine
gesunde
Arbeit betreiben, am besten Landwirtschaft, Gartenbau oder so etwas ähnliches. Die künstlerische Arbeit muß in Form
und Inhalt
aus der Gemeinschaft herauswachsen, zu der ich sie zusammenführen
will."
(Leben 108) Rudolf
von
Laban, Leiter einer Tanztruppe und bis dahin Inszenator von großen
Faschingsfesten in München, hat einen Entschluß gefaßt. Sein Ziel ist
der Monte
Verità. Das
eigentliche Ziel eines Menschen müsse "sein festliches Dasein" werden
(ebd.). "Aus diesem Grunde, nicht infolge irgendeiner Verachtung
irdischer
Güter und Genüsse, halte ich die Bedürfnislosigkeit für eine der
wichtigsten
Quellen menschlichen Glückes. Wer zuviel Zeit und Kraft dafür
aufwendet, um
seine äußere Lebensführung in Wohnung, Kleidung, Ernährung und
sonstigen
Bedürfnissen möglichst umständlich und überreichlich zu gestalten, dem
fehlt
Zeit und Kraft, um an dem großen Gemeinschaftsgedanken und an der
festlichen
Erhebung mitzuwirken, die doch der Gipfel und das Ziel aller Kultr sein
soll" (ebd. 109). Deshalb: "So wenig als möglich für den persönlichen
Alltagsbedarf ... und so viel als möglich für die täglich aufgebaute
und in
Festen und Feiern gipfelnde Allgemeinkultur" (ebd.). In der freien
Natur
soll diese Lebensform verwirklicht werden. Wie
kommt er
zu solchen Anschauungen? Auch Laban ist ein Aussteiger, hat den
Absprung gewagt
aus den noblen Villen der Bürgerwelt. Der Vater, ein General und
Militärgouverneur von Bosnien und Herzegowina, hätte
ihn gern als Offizier gesehen. Der junge Laban, von den Künsten
angezogen,
malerisch, musikalisch, tänzerisch begabt, bricht mit dem Elternhaus,
setzt auf
die eigene Kraft. Als Karikaturist, Gelegenheitsjournalist und
Tanzlehrer, der
sich zeitweise auch mit Zeitungsaustragen über Wasser halten muß, lernt
er die
Gesellschaft seiner Zeit von der Unterseite kennen.Was soll die Kunst,
so fragt
er sich, "bei den Lumpen der Armen und vor den ausgehöhlten Augen
hungernder Kinder? Wie fern ist der Duft der Berge und Wälder von der
kohlenstaubgeschwängerten Luft der Elendsviertel und dem Leichengeruch
der
gepuderten Kokotten!" (Leben 60) - Die moderne Zivilisation ist ihm
eine
zwar glänzende und verlockende aber im Grunde finstere, gefühlskalte
"Königin
der Nacht". Wer
hat ihn
auf den Monte Verità gebracht? Darüber gibt Laban in seinen
Erinnerungen keine
Auskunft. Er hatte um die Jahrhundertwende in München studiert, war
dann nach
Aufenthalten in Paris, Nizza und Wien seit 1907 wechselnd und ab 1910
(?) ständig
in der Stadt an der Isar. Er muß durch Gräser oder dessen Freund Hans
Brandenburg auf Ascona aufmerksam gemacht worden sein. "Hans Brandenburg, a writer and critric, was a
mutual friend", schreibt Valerie Preston-Dunlop (In: International
Encyclopedia of Dance, Volume 4, p. 89). Gemeint
ist, Brandenburg sei ein
gemeinsamer Freund von Kandinsky und Laban gewesen. Da er auch ein
Freund
Gräsers war, dem er seine Gedichte schenkte, stellt er das lebendige
Bindeglied
dar zwischen Kandinsky, Laban und Gräser. Kandinsky und Laban wohnten
in der selben Straße in Schwabing.
Laban-Gräser-Kandinsky-Brandenburg - eine interessante Konstellation.
Sie kann,
wie sich noch herausstellen wird, durchaus als symbolisch für die
Geburtsszene
der schwabing-asconesischen Moderne gelten. Der Labanschüler Alexander
von
Sacharoff wurde einer der engsten Mitarbeiter Kandinskys. Jawlensky und
Marianne von Werefkin, auch Klee, gehörten zu dessen Freundeskreis.
Alle hier
Genannten, außer Kandinsky, werden wir später in Ascona wiederfinden.
Seit
1882 war Karl Wilhelm Diefenbach in München
als Naturprediger aufgetreten. Der Schriftsteller und Publizist Michael
Georg
Conrad wurde einer seiner frühesten Sympathisanten und Verteidiger.
Durch seine
liberale und modernistische Zeitschrift ‚Die Gesellschaft’ hat Conrad
das
Schwabinger Klima um 1900 wesentlich mitgeschaffen.
Der
Verleger Georg Hirth, Herausgeber der ‚Jugend’,
wurde ein Förderer von Gusto Gräser. Im Geist des lebensreformerischen Aufbruchs zogen Künstler wie Kandinsky aufs Land und griffen zum Spaten. Wir
können davon ausgehen, daß mehrere oder alle von diesen Künstlern
Gräsers
Tanzvorführung von 1908 (in der benachbarten Türkenstraße) miterlebt
haben, ja,
daß das Ereignis von Leuten aus diesem Kreis organisiert wurde. Seine
Vorstellung, ein Tanz ohne Musik und denkbar weit entfernt von jeder
Tradition
und Konvention, trug den Titel: 'Die Entstehung des
Tanzes'. Erlebten seine Gäste die Entstehung des - modernen,
des sogenannten Ausdruckstanzes? Hat Laban diese Vorstellung gesehen
und dann
in Kunstform übertragen, was Gräser im
Wald von Ascona in spontaner Ekstase vollführt und dann in München auf
die
Bühne gebracht hatte? Die gemeinsamen Merkmale sprechen dafür: der
Verzicht auf
Musik und auf jede Regel, die ungezähmte Körpersprache als Ausdruck des
Seelischen, ihre nietzscheanisch-dionysische Philosophie. Zwei Jahre
später
debütierte der Labanschüler Sacharaoff in der
selben
Türkenstraße mit dem bezeichnenden Thema: 'Dionysischer
Gottesdienst' (Okkultismus 239). Über Gräsers Auftritt in
Schwabing
schrieb Annie-Francé-Harrar in ihren Erinnerungen: Ob
es wirklich „gusto gras" war, der
damals in einem der Elf Scharfrichter-Nachfolgetheaterchen
jene unwahrscheinliche Nachmittagsvorstellung gab ... ? Eine mattgrün beleuchtete Bühne. Offen. Leer. Ohne alle Kulissen. Ein neunnzehntel nackter, wildbebarteter und wildgelockter Mann, so um die Vierzig, der an die Rampe trat und die Zuschauer bat, sie möchten im Chor halblaut „Hummel! Hummel!" singen. Denn er brauche zwar keine Musik, aber diese Tonkulisse, um ihnen jetzt die wahre Lebensfreude vorzutanzen. Es geschah. Und ganz außerhalb aller Tanzregeln und Tanzkultur sprang, wand, drehte sich und explodierte in einem körperlichen Überschwang dieser Mensch, den in der laubgrünen Dämmerung der Bühne niemand erkannte. Nein, er brauchte keine fremde Melodie. Er bedurfte nur dieses unregelmäßigen Tongewoges. Aus ihm bildete er sich seinen Rhythmus und den Sinn urwelthaft überschwellender Lebensgefühle. Er war diesseitigstes Diesseits. Er war ein Sturm leibliches Glückes, ein Irdischer unter Irdischen zu sein. Nein,
er war das irdische Sein selbst.
Sie kannten ihn
jedenfalls alle - den Unübersehbaren. So bekannt
war Gräser damals in München, daß die 'Jugend'
innerhalb zweier Monate zwei Karikaturen von
Gräser bringen konnte, die eine - ganzseitig! - von dem berühmten
Zeichner Karl
Arnold. Im 'Simpl' trat
Gräser als Redner und Rezitator auf, die 'Jugend' druckte Gedichte von
ihm ab. In der Zeitschrift 'März' berichtete Hesse über
seine Erfahrungen als
"Naturmensch" in den Felsen von Ascona. Zwei Jahre später brachte die 'Jugend'
Hesses satirischen Angriff auf
Gräser: 'Doktor Knölges
Ende'. Schon im Jahre
1904 hatte die selbe Zeitschrift eine
hymnische
Huldigung für den "Einen" abgedruckt: "Er wird zeigen, daß das
Leben so göttlich wie unfaßbar sei" (Wilhelm Walther Krug in 'Die
Jugend',
1904, Nr. 2, S. 23). Es kann, nach allen Anzeichen, kein anderer als
Gräser mit
dem „Einen“ gemeint gewesen sein. Der
jüngere Laban
macht auf Fotos den Eindruck einer Dandyfigur, eines weltgewandten
Lebemanns.
In München unterhält er seit 1910 eine kleine Tanzschule. Er lebt
davon, daß er
mit seiner Truppe bei Faschingsfesten mitwirkt und vom Bemalen von
Holzpuppen.
Zeiten der Not, der Demütigung. Künstlerische Prostitution im Dienste
von
Studentenverbindungen. Erfolge als Entertainer, die ihn nicht froh
machen
können. Es muß eine Wandlung in ihm vorgegangen sein in diesen Jahren.
Er wird
zum Vegetarier, läßt einen assyrischen Vollbart sprießen. Immer
abstoßender erscheint ihm die Stadt und ihr
Vergnügungsbetrieb als eine
kalte "Königin der Nacht". 1913 zieht er mit seiner Schülerschar auf
den Monte Verità. Ein neues Leben beginnt. Am frühen
Morgen schlug ich auf der Veranda meines von Hecken umwucherten
Häuschens auf
den Gong. Alle traten zur Arbeit an. Die Geräte wurden verteilt, und
noch vor
der Morgenmahlzeit ging je eine Gruppe in die verschiedenen Gärten, um
dort zu
jäten, umzugraben, anzupflanzen oder andere notwendige Arbeiten zu
verrichten.
Frauengruppen gingen in die Nähstuben, wo Tanzkleider und Sandalen
gefertigt
wurden, wir hatten auch eine Backstube und später sogar zwei Webstühle,
die uns
die notwendigen Stoffe lieferten. Obst wurde eingekocht, und in
verschiedenen
Schichten wurden die Mahlzeiten vorbereitet und zugerichtet. (Ebd. 110) Seine
Truppe
entwickelt sich zu einem Alternativbetrieb, der sich weitgehend selbst
versorgt
und doch seine Hauptenergie der Kunst widmen kann. Während der
Sommermonate in
Ascona kann Laban auf Engagements verzichten. Einige Unterrichts- und
Therapiestunden bringen das nötige Kleingeld. In
den
Anfangsjahren des Monte Verità war Gräser der Tänzer gewesen, er hatte
eine
Liebes- und Lebensgemeinschaft angestrebt, hatte sogar eine Schule
gründen
wollen. Er war vertrieben worden oder war von selbst gegangen, um die
gesuchten
Freunde und Mitstreiter auf seiner Wanderschaft zu finden. In der
Person von
Laban kehrt nun der Laientänzer Gräser auf professionellem Niveau auf
den Berg
zurück. Laban bringt eine Gemeinschaft von Menschen mit, er baut eine
Schule
auf. Seine Vorstellungen und Ideale stehen nahe bei den gräserischen.
Wer auch
immer der Auslöser und Anreger gewesen sein mag - Laban verwirklicht
auf seine
Weise, was Gräser dort begonnen hatte. Er
hatte die
Großstädte Europas kennengelernt, war als Fähnrich zeitweise in
Eisenbahnwerkstätten und Marinearsenale abkommandiert gewesen. "Fäulnis
und Zerfall unserer so hoch gepriesenen Kultur stand mir grell vor den
Augen" (Leben 59). "Immer klarer sah ich, wie der Mensch unter die
Herrschaft der Maschine kommt" (ebd. 65). In der Maschine sieht er
"das Untier, den neuen Götzen, den sich der Zauberlehrling Mensch
geschaffen hat" (ebd.). Er sucht den richtigen Spruch, mit dem die
Menschheit die Geister, die sie gerufen hat, wieder loswerden könnte.
"War
das Zauberwort nicht das Wort: 'Seele'? Aber war die Seele im Irrgarten
unserer
Scheinkultur, im Gewühle der Großstadt nicht schon völlig verwelkt und
abgestorben? War sie nicht unheilbar und unrettbar verloren? War es
nicht die
Aufgabe der Kunst, sie wieder zu erwecken, sie wachzuhalten?" (Ebd.
66). Solche
Gedanken mußten ihn auf den Berg der Wahrheit führen. Laban will mehr
als l'art
pour l'art. "Wozu das tote starre Grab der Kunst, die dunkle Gruft, in
die
das Göttliche gebannt wird? Das Leben wollen wir verherrlichen, das
Leben
wollen wir sehen! Und jede Menschengruppe, die ein Werk in
geschlossener
Gemeinschaft darstellt, ist selbst ein lebender schwingender Tempel,
der
flüchtig sich erbaut und wieder verweht, um neuen Schöpfungen Platz zu
machen." (Ebd. 114f.) Laban
schafft
auf dem Berg jenen Kultbau, der dort irrtümlicherweise so oft vermißt
wird, er
schafft ihn als schwingenden Tempel, als einen Tempel aus
Menschenleibern im
Tanz. Ein flüchtiges Bauwerk, vergänglich, aber jederzeit wieder
aufzubauen in
der Begeisterung von Menschenseelen, im strömenden Takt ihrer Körper. Zum
Tempel
gehört der Mythos. Das erste Spiel, das Laban mit seiner Truppe auf dem
Berge
einübt, ist einer Liebesgöttin gewidmet, der babylonischen Ischtar.
(Sie ist
mythologisch identisch mit der von Groß gefeierten vorderasiatischen
Astarte.)
Sieben Tore muß sie auf ihrem Weg in die Unterwelt durchschreiten, vor
jedem
Tor muß sie ein Teilstück ihres Ichs, ein Schmuckstück oder
Kleidungsstück, opfern
um hindurchzugelangen. Auf spielerische und symbolische Weise sollten
Labans
Schüler und Schülerinnen "zum Verzicht auf alle zivilisatorischen
Reizungen" bewogen werden. "So verabschiedete die Königin die Krone
des Hochmuts, den Mantel der Heuchelei, das Szepter der
Gewalttätigkeit, den
Halsring der Eitelkeit, den Schleier der Selbstsucht, den Gürtel der
Feigheit,
um hinter der letzten Pforte von den gereinigten und veredelten Seelen
ihres
Gefolges mit einem stolzen freien Reigen begrüßt zu werden, in dem sie
dann
nicht mehr als Herrscherin, sondern als eine von vielen
Gleichstrebenden
mittanzte." (Ebd.111) Die
tänzerische Ausdrucksform einer Verbundenheit von Gleichberechtigten
stellt der
Reigen dar, eine geschlossene Kette von Menschen, die um eine offene
Mitte
tanzt. Labans Vorstellung von Tanz ist kosmisch und universal - wie die
von
Gräser - : Tanz ist Symbol des Weltgeschehens. "Im
ganzen Leben und Sein ist Tanz. Tanz der Gestirne, Tanz der
Naturgewalten, Tanz
der menschlichen Handlungen und Gefühle, Tanz der Künste. Tänzer in
seinem
unerkannten Grundwesen ist jeder Mensch. Tanz ist Kultur, ist
Schwungkraft
aller Religionen, ist Wissen, Schauen, Bauen. Das
reinste Abbild des Tanzes, der Tänze des
Weltgeschehens, ist der
Reigen, den der Menschenkörper schwingt." (Laban z. n. Corino 171) Urlebens
Willen ist Allreim, Allreih -
im grohsen Reigen schwinget es sich freih! So
Gräser.
Schon in München war es zu einer Zusammenarbeit von Laban mit dem
Tanzschriftsteller Hans Brandenburg gekommen. Dieser Gräserfreund
dürfte es
auch gewesen sein, der ihm den Weg nach Ascona gewiesen hat. Im
Frühsommer 1914
kam Brandenburg auf den Berg und brachte seine Tanzdichtung 'Der Sieg des Opfers' mit. Das Nest,
welches das mächtige Kuckucksei der
Labanschen Tanzkunst ausbrüten sollte, war der Monte Verità, dieser
skurril-heilige Berg seltsamer Naturapostel aus allen europäischen
Ländern. Er
war ein halbnacktes Felsgeklüft über den flachen Dächern des Dorfes und
dem
weit zwischen den Bergen hinziehenden See, aber allenthalben wucherte
in den
Spalten die Edelkastanie in ganzen Bündeln, ... Bambus in langen
Schäften,
Weinstöcke, Gemüse, Obstbäume und Beerensträucher. Zwischen
merkwürdigen
Siedeleien führten geröllige Steige wie leere Bachbetten stufenweise
aufwärts,
oft von Rebgirlanden an granitnen Stützen überrankt, und auf dem Gipfel
enttauchte der blühenden Wildnis der hölzerne Tempel des vegetarischen
Speisesaals, wo beim Mittagsmahle der langmähnige härene Berghäuptling
feierlich residierte."
(Brandenburg:
Feuer 479) Der
Gräserfreund Hans Brandenburg,
Tanzschriftsteller und Tanzkritiker,
Mitarbeiter von Laban, 1914 auf dem Monte Verità Poetisch
und
nicht ohne Ironie beschreibt Brandenburg in seinen Erinnerungen den
Berg und
seine Bewohner. Damals gab es noch keine Straße, die das Dorf Ascona
mit dem
Sanatorium verbunden hätte. (Die Zufahrt geschah von Losone her auf der
Nordseite des Berges.) Auf schmalem Steig, über Felsstufen und Geröll,
steigt
Brandenburg zur Höhe hinauf. Der Mittag
lag
stur, mit dem glasigen Auge des Sees, im Brutkessel der Berge, weiße
Feuer
schlugen aus den Birken und verloschen im Säulenschatten der
Kastanienbündel,
und die Echsen zuckten, grünfunkige Tagesirrwische, durchs Gestein.
Kurz vor
der letzten Höhe ging die Wildnis in eine Anpflanzung aus Feigenbäumen,
Kornelkirschen, Rosen, Oleander- und Granatbüschen über, die oberste
Plattform
aber bestand in einer rasigen Fläche, um die unter parkartigen
Laubmassen das
Heim, ein großer steinerner Bau, hölzerne Lufthütten und der Speisesaal
lagen,
letzterer ein Blockhaus für sich mit einer hohen Freitreppe und
symbolischen
Zeichen an der Front. Aus der offenen Türe hörte man schon von fern ein allgemeines Nüsseknacken ... (Brandenburg
Zimmer 336) Es
ist jenes "Donnern des Nüsseknackens" im vegetarischen Speisetempel,
an das Mary Wigman sich noch im Alter erinnerte, ein akustisches
Erkennungssignal (Sorell 36). Und dann erschien, "barbeinig und in
härenen
Gewanden ... der weißbekuttete, langhaarige Herr van Oovengaarde [d. i.
Oedenkoven] selber und seine Klavierkünstlerin, die einen Stirnreif um
die
naturöligen Strähnen trug und die, gleich jenem, ein braunledern
überzogenes
Gerippe war. Drinnen saß man um runde Tische, auf deren jedem - eine
sinnreiche
Einrichtung - eine leicht erhöhte Drehscheibe die Speisen trug, so daß
man sich
bequem bedienen konnte" (Zimmer 337). "An einem der Drehtische
knackte auch Laban mit lammfrommer Miene seine Nüsse, jenem Besitzer
und
weltanschaulichen Hotelier zuliebe, der ihm und seinem Tanzunternehmen
großzügig und doch geschäftsklug unter den wohlfeilsten Bedingungen
entgegenkam." (Feuer 480) Brandenburg
hatte (wenn man seine Erzählung im Roman 'Das grüne Zimmer'
für biographisch nehmen darf) seine Geliebte mit ihrem Kind auf dem
Berge
untergebracht, "weil hier der einzige Fleck des ganzen Erdteils war, wo
man nicht nach dem Trauschein fragte und wo sie daher keinerlei
Demütigungen zu
fürchten hatte" (Zimmer 332). Sie bekamen ein von Laban gemietetes Haus
zugewiesen, das einsam hinter Kastaniendickichten auf der untersten
Stufe der
Siedlung lag: die Casa Anatta. Die Zimmer im Untergeschoß hatte Mary
Wigman
bezogen. "Sie gab, bevor Laban erschien, die einleitende frühe
Gymnastikstunde, die auf einem mit glatten Steinfliesen belegten großen
Viereck
hinter dem Speisesaalbau des Gipfels stattfand" (Feuer 481). Bei
schlechtem Wetter wurden die Körperübungen in den Saal der Casa Anatta
verlegt.
Klarte die Luft plötzlich auf, so stieg man auf das flache Dach, "wo
dann
die bewegten Gestalten weithin auf dem Himmel gesehen werden konnten"
(Zimmer
335). Danach begann der eigentliche Tanzunterricht, den Laban selbst
leitete.
"Manchmal mußte er erst aus dem Bett geholt werden, er kam verschlafen
emporgestiegen in seinem hellen Kittel und sonneabschirmenden
Panamahut, und
unbeschreiblich war sein matter Augenaufschlag und sein barsch
vorgeschürzter
Mund, der sich zum Kommando sammelte. Aber dann fuhr er wie ein Teufel
in die
Schüler und Schülerinnen." (Feuer 482) Die Casa Anatta, heute
Museum.
Hier wohnten 1914 Hans Brandenburg und Mary Wigman. Auf dem flachen Dach des Hauses wurde getanzt. Der große
Pan, er lebt! Nicht
der
Teufel, wohl aber ein naher Verwandter, der gehörnte Pan, stand im
Mittelpunkt
eines stummen Spiels, das Brandenburg mit den Tanzschülerinnen einübte.
Er
selbst übernahm die Hauptrolle. Eine helle Ziegenherde vor sich
hertreibend
stürmt Pan, ein wilder Mittagsschreck, in die Arena vor dem Speisehaus,
wo auf
dem Rasen ängstlich die Mädchen kauern. Der Tänzer hat sich "mit Fellen
bedeckt und die Stirn dort, wo man das Gehörn vermuten mochte, mit
Schilf und
Weinlaub umwunden" (Zimmer 360). In geilen Sätzen springt er die
Böschung
zur Orchestra hinan, auf die sich die entsetzten Mädchen geflüchtet
haben. Bald
beschwörend und flehend, bald drohend und lachend sucht er sie einzeln
zu
kirren und zu locken, aber umsonst. Bis er am
Ende
in dem Schilfe nestelte, das seine Lenden umbuschte, einzelne Rohre
herausriß,
sie zuschnitt und mit festen Halmen zu dem Bündel einer Syrinx
zusammenband. Er
setzte diese an die Lippen und, wie gebannt, begann beim ersten Ton
eine
Mädchenferse zu zucken und sich zu heben, die anderen folgten, und es
entspann
sich, erst scheu und tastend, ein nachtwandlerischer Reigen, bei dem
die Augen
glänzten, die Lippen leicht sich öffneten und die Fingerspitzen sich
zag
berührten. Wilder blies Pan in die Flöte, der Tanz schlug entfesselte
Flammenwellen, die auf den Spieler zurückschlugen und die er wiederum
schürte;
er hüpfte in ungefügen Bocksprüngen mit, nun als Partner einer
einzelnen, nun
je zwei im Wechsel zu Paaren treibend, nun die gelöste Flut in
aufzuckendem
Flackerstechschritt durchkreuzend und durchflechtend, von ihrer
Brandung
emporgeschleudert, nun sie mit süßen Hauchen sänftigend. Jetzt feixte
er toll,
jetzt strahlte er Verklärung, jetzt brach trunkene Güte aus traurigen
Augen und
umfing gotteinsam die erdennahe Menschengemeinschaft, dann endlich
stürmte er
mit gehetztem Atem durch die Rohre, es orgelte, schwoll und fauchte,
hell
winselnd zerschrillten höchste Töne, indessen er das gehobene Rondell
von neuem
gewann. Die Mädchen ergriffen Zymbeln, ihre Haare öffneten sich unter
flatternden Bändern, die Füße und Metalle huben an zu rasen, und Pan,
wilde
Genugtuung in hoffnungsheißen Blicken, stürzte von der Höhe mitten
unter die
Gestalten, sie zu haschen, zu greifen, zu küssen. Allein sie flohen
spottend
und lachend vor seinem wetterleuchtenden Satyrkopf. (Zimmer
360f.) Inzwischen
hatte sich, so schildert es Brandenburg in seinen Erinnerungen, eine
große
Wolke hoch am Himmel zusammen-gezogen, eine unheimliche schwüle Stille
trat
ein, die Orchestra verdunkelte sich, und während Pan beschwörend die
Hände zur
Wolke emporhob, wurde aus der Nähe eine unsichtbare Stimme hörbar: "Der
große Pan ist tot! Der große Pan ist tot!" Man glaubte zunächst, daß
sie
zum Spiel gehöre, bis der Rufer aus dem Gebüsch trat und mit erregter
Stimme
die eigentliche Botschaft verkündete: "Leute, hört auf! Es ist Krieg!
Krieg!" (Zimmer 361) Brandenburg
fuhr nach Deutschland zurück, wurde Soldat; Laban und seine Tänzerinnen
blieben. Stille kehrte ein auf dem Berg. Aber nur für einige Zeit. Der
große
Pan, der heimliche Geist des Berges, war nicht tot, im Gegenteil. Im
Dunkel des
Krieges erwachte er erst recht zum Leben. Denn er zog alle die Menschen an, die seines
Geistes waren,
die den Krieg, den Zwang, die Macht verabscheuten, die nicht dem
Todesgott
sondern dem Gott des Lebens huldigen wollten. Es kamen die Verweigerer,
die
Deserteure, die Emigranten; es kam, aus siebenbürgischen Gefängnissen
entlassen, Gusto Gräser. Sein Bild ging durch die Presse, wie er, ein
zweiter
Robinson, im selbstgebauten Einbaum über den See fährt, um Früchte zu
sammeln
auf den paradiesischen Brissago-Inseln. Zum satanischen Gemetzel
ringsum ein
Gegenbild, das die Friedenshungrigen nach Ascona lockte, aus dem
Fischerdörfchen am See eine Hochburg der Pazifisten machte. Der Monte
Verità
erlebte eine Wiedergeburt. Laban,
um dem
Zwang zum Militärdienst zu entgehen, war nicht nach München
zurückgekehrt. Er
hatte seine 'Schule für Bewegungskunst' in Zürich angesiedelt,
beteiligte sich
mit seiner Tanztruppe an den symbolischen Kultur-Attentaten der
Dadaisten. Diese
wiederum fanden auf dem Berg ihre zweite Heimat, einen konstruktiven
Gegenpol
der Besinnung und der schöpferischen Arbeit. Hans Richter und Hans Arp
bauten
dort ihre Gärten an, lasen Böhme, Laotse und Nietzsches
'Zarathustra', schlugen neue künstlerische Wege ein. Diese
Zusammenrottung widerspenstiger Geister schien der deutschen
Heeresleitung
gefährlich genug, um mit dem Freimaurer und Okkultisten Theodor Reuß
einen
Agenten einzuschleußen, der die verführerische Ausstrahlung dieses
Kreises
zumindest neutralisieren sollte. Am 22. Januar 1917 etablierte Reuß auf dem Monte Verità den 'Ordenstempel
des Ostens' (O.T.O.); es erging ein mit pazifistisch-reformerischen
Phrasen
gespickter Aufruf zu einem anationalen Kongreß der Sozialreformer,
Esoteriker
und Pazifisten aller Länder. Geheimer Zweck dieser Veranstaltung war
es, so
Reuß in einem vertraulichen Brief, "Freimaurer, Landreformer,
Vegetarier,
Theosophen, Pazifisten und andere 'isten' der Überseeländer, Spaniens,
Italiens, Hollands, Rußland, Frankreichs usw. zusammen zu bringen, um
deren bis
jetzt antideutsch vergiftete Mentalität in einem Deutschland wenigstens
Gerechtigkeit angedeihen lassenden Sinne zu bearbeiten". (Reuß z. n. Möller 213) Der 'Anational
Congress for organising the
reconstruction of Society on practical cooperative lines' versammelte
sich vom
15. bis
25. August 1917 auf dem Monte Verità
und wurde ein großer Erfolg,
festlicher Höhepunkt und Abschluß zugleich in der Geschichte der
Siedlung. Mit
Hilfe des deutschen Generalstabs wurde etwa das Gegenteil dessen
erreicht, was
hätte erreicht werden sollen: nicht eine Schwächung, sondern, für den
Augenblick zumindest, eine Stärkung, Erhebung und festliche Einigung
der
reformerisch-pazifistischen Kräfte. Weil aber Reuß ein Hochstapler,
Scharlatan
und sexueller Verführer war, sich als solcher nach und nach entpuppte
und damit
das Ansehen des ohnehin verdächtigen Monte Verità nun endgültig
ruinierte,
bedeutete sein Auftritt letztlich das Aus für dieses avantgardistische
Experiment. Unter dem Deckmantel der Einweihung in die Geheimnisse des
O.T.O.
sollen sexuelle Exzesse sich abgespielt haben; es gab Selbstmorde der
Opfer,
die Behörden schritten ein. Mit
seinem
Kult der Sexualmagie hatte Reuß ins Schwarze der Monte Verità-Ideologie
getroffen, will sagen: in ihre dunkle Seite. Reuß wie Groß und Häußer
gediehen
in dem Schatten, den das Licht vom Berge wirft. Obwohl
auch
Laban sich dem O.T.O. angeschlossen hatte -
er wurde sogar Großmeister einer eigenen Loge "im Tale
von
Zürich" - , so gehört doch sein Anteil am
Festgeschehen zur helleren Seite dieses Ereignisses. Die
Freilichtaufführung
seiner Truppe, eine Huldigung an die Sonne, geriet zum
kultisch-künstlerischen
Höhepunkt. Einer der Teilnehmer, ein naher Freund Hermann Hesses, der
Maler und
Puppenspieler Jakob Flach, erinnert sich: Viele Größen
der Ballet- und Tanzkunst, die
heute weit verstreut wirken, sammelten sich unter der Leitung Rudolf
von
Labans, um durcheine anmutige Verschmelzung von Bewegung, Musik, Farbe,
Rhythmus und Verzückung in einer entsprechend mitsingenden Landschaft
und
Naturstimmung das jubelnd auszudrücken, was Professoren und Propheten
bei
lichtem Tag versucht hatten, kompliziert und gescheit den Festgenossen
beizubringen. Mary Wigman als straffe, führende, wirbelnde
Primaballerina;
Ernst Mohr und Katja Wulff, blau gewandet, mit mächtigen Schritten,
groß und
ernst wie Erzengel; als Flamme, Geist und Zucken des Blitzes riß Sophie
Taeuber
den ganzen Schwarm hüpfender, springender, flatternder Komparsen mit
sich nach
den geregelten Vorschriften des Tanzmeisters Laban: Anschwung -
Aufschwung -
Drehsprung! Mittendrin das kleine Mädchen Käte Grimm; Totimo aber hieß
der
vielgeliebte knabengleiche Solotänzer, kurz geschürzt und
weinlaubbekränzt... Während die
Sonne königlich hinter dem Ghiridone unterging, erklang auf der Wiese
vor der
Freitreppe der Hymnus an die Sonne von Borngräber: "Seht, sie
sinken tief in dem Meere..." (Flach
18) Ernst
Bloch,
damals, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein Zuschauer auf dem Berg,
rühmt und
verteidigt noch in seinem 'Prinzip
Hoffnung',
das drei Jahrzehnte später geschrieben wurde, die Kunst Mary Wigmans.
Gegenüber
allen kunstgewerblich dekorierten, an Exotik orientierten Kopie-Tänzen
bleibe
"die Wigman oder echter Expressionismus im Tanzbild, mit dem
Bisherigen,
als irrationalem Spießertum, unvergleichbar .... Die Landschaft, die
sich im
Gongschlag um den neuen Tanz dehnt, schien hier mit einem bezeichnenden
Ineinander von Niflheim und Bagdad gefüllt". (Der Gongschlag Labans ist
hindurchzuhören, die Landschaft des Monte Verità zu spüren: Nordisches
und
Südliches, Faustisches und Dionysisches geeint in Denken, Kunst,
Natur.) Zwar
sei auch die Wigmanschule einem Dionysischen im mehrdeutigen Sinn
zugehörig
gewesen, "wie es denn ohne Nietzsche nie zu dieser Art neuer Tanz
gekommen
wäre. Da ist der Dionysos, der nach unten hin zum Tanz der Mörder rief
... Da
ist der andere Dionysos, der den Tanz gegen den Geist der Schwere
pries, gegen
die Mechanei der Verkleinerung und Denaturierung" (Hoffnung 461f.).
Ohne das
Pathos des Lebensgottes jedoch und seine wilde Weisheit, die auf Bergen
geboren
sei, wäre der expressionistische Tanz nicht in seine Ekstase geraten. Labans
Tanztruppe am Strand des Lago
Maggiore
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