Der Tänzer sieht hinter dem äußeren Geschehen eine zweite, ganz andere Welt. Hinter allen Ereignissen und Dingen lebt eine kaum benennbare Kraft. Eine verborgene, vergessene Landschaft breitet sich da aus, das Land des Schweigens, das Reich der Seele, und in der Mitte dieses Landes steht der schwingende Tempel.
Die Reigenordnung des menschlichen Lebens ist das Sinnbild, in dem wir den tänzerischen Wesenskern alles Seins erkennen.
Der Kristall ist mir das Sinnbild geworden für den scharfen, sinnenden Geist der Natur. … Der Mensch wird kein Mensch sein, bis er in seinem Sein die Kraft des Raubtiers, das sensible Wachstum der Pflanzen, die konstruktive Klarheit des Kristalls vereinigt haben wird.
DER KRISTALL LEBT. Der Kristallisationsprozess ist Erregung und Bewegung.
Verherrlichung der werdenden Mutter … Verherrlichung des Kristalls, der Liebe und der Arbeit.
Der Sinn des Kristalls (Berg) wird erklärt, Harmonie die Aufgabe.
Rudolf von Laban
„Die Tänzer vom Berg“, ein von Laban um 1917 handschriftlich notiertes „Tanzspiel in sechs Akten“ … sollte ursprünglich „Im Lande des Schweigens“ bzw. „Die Tänzer vom Kristall“ heißen.
Evelyn Dörr
Die Tänzer vom Berg der Wahrheit
Mit dem Tanzspiel „Die Tänzer vom Berg“, 1917 in Ascona entstanden, entwirft Laban sein eigenes Modell des Monte Verità, die Mitte suchend zwischen dem zügellosen Hedonismus eines Theodor Reuß und dem ethischen Rigorismus von Gusto Gräser. Das Stück, das von den Brüdern und Schwestern seiner Loge aufgeführt werden sollte, handelt von einer lebensreformerischen Siedlung, die unter der Leitung eines Meisters steht. Seine Gegenspieler sind eine Hetäre und drei sittenlose Lehrlinge um den arglistigen Hili. In der Versammlung der Gemeinschaft geht es um die Aufnahme weiterer Mitglieder. Eine Gruppe von Gauklern wird im Vorhof zugelassen, Priester und Gelehrte dagegen sollen erstmal tanzen lernen. Eine werdende Mutter, unehelich schwanger geworden, wird von der Mehrheit abgelehnt, vom Meister jedoch aufgenommen, „da Liebe alles heiligt“ (Laban in Dörr 2004, 110). Die Gesellenaufnahme wird mit einem rituellen Mahl begangen. „Der Sinn des Kristalls (Berg) wird erklärt“: Harmonie, Selbstveredelung, Gemeinschaftssinn und Opfer (Laban ebd., 111). Obwohl Hili den Meister ermorden wollte, wird ihm von diesem, gegen den Widerstand der anderen, nach einer dreijährigen Bußzeit die Aufnahme in Aussicht gestellt. „Der Meister verkündet den Sieg der Liebe, Verherrlichung der Mutter … Verherrlichung des Kristalls, der Liebe und der Arbeit“ (Laban ebd., 112).
Labans Tanzspiel ist Programm. Er „war von der Sehnsucht nach einer Brüdergemeinschaft von ‚wahrer Menschenart‘ durchdrungen“, schreibt Evelyn Dörr (Dörr 2005, 114). Nachdem die Zusammenarbeit mit Reuß und Oedenkoven zerbrochen war, sollte sein Projekt im „Labangarten“ von Hombrechtikon bei Zürich verwirklicht werden. Wie auf dem Monte Verità wollte man sich von Garten- und Handwerksarbeit ernähren und zugleich in einer „Kunstschule“ erzieherische Arbeit leisten. Kultspiele, Festspiele, Rituale, symbolische Handlungen sollten den hohen Sinn des Kristalls ins Volk tragen: Harmonisierung der befreiten Sinnlichkeit in einer tänzerischen Religion. Wie bei Gräser ist der Reigentanz Sinnbild der Weltordnung, die sich auf andere Weise im Kristall offenbart. Dessen harmonische Struktur zeigt sich in Reinform im Ikosaeder.
Dass heute ein solcher als metallene Plastik den Hügel von Ascona krönt, hat eine tiefe Folgerichtigkeit. Der Berg steht für Labans „freie Menschengemeinschaft“ im Reigen (Laban in Dörr 2005, 114), er verdichtet sich im Kristall. Dessen Baugesetz enthüllt der Ikosaeder.
Was schon für Fourier Leitbild gewesen war - Harmonie -, verkörpert sich in der platonischen Figur.
Labans Kristall ist keine abstrakte oder blumige Phantasmagorie sondern beruht auf seiner Analyse der menschlichen Bewegungen im Raum. In den vielstrahligen Orientierungen, die dem Körper möglich sind, erkennt er ein Grundgesetz der Welt und damit ein Modell des Kosmos.
Sinnbild Kristall
„In seiner weiteren künstlerischen Entwicklung radikalisierte Laban den expressionistischen Ansatz durch seine Hinwendung zum Abstrakt-Kristallinen. Er näherte sich dem Funktionalismus und dessen abstrakt-analytischer Methode an“ (Dörr 2005, 29). Einflüsse von Haeckel sind spürbar.
Der moderne Ausdruckstanz, S. 51
Der moderne Ausdruckstanz, S. 50
Die tiefere Grundlage seines Kristalldenkens war jedoch sein Vertrauen in die „Naturgewalten“, das er sich auf seinen Wanderungen in Siebenbürgen und Bosnien schon in früher Jugend erworben hatte. „Wenn ich mich in den Bergen, Wäldern und Auen herumtreibe, so ist mir bei diesen Wanderungen immer, als ob ich Antworten auf Fragen bekäme, die ich an niemanden sonst stellen kann als an die Erde. … Himmel und Erde sind Vater und Mutter des Menschen“ (in Dörr 2005, 15). Schon 1897 entwarf er Gruppentanzbilder. Die Skizzen stellten „Ströme von roten, grünen und weißblauen Menschengruppen dar. Die roten waren die Seelen der Tiere, die grünen die Pflanzengeister, die blauen Gespenster von Kristallen“ (in Dörr 2005, 16). Schon damals baute er sich ein dreistufiges Weltbild auf, das im Geistreich der Kristalle gipfelte. Für diese dritte Stufe steht ihm auch der Berg oder die Berge; in den Jahren des Weltkriegs nimmt der Monte Verità diese Stelle ein. Er wird ihm zum Kristall.
Nicht umsonst hatte er schon als Rekrut seinem Chef mit einem Revolver durch die Mütze geschossen, um seine Entlassung aus dem gehassten Militärdienst zu erzwingen. Auf dem Hügel am Lago Maggiore hatten sich jene eingefunden, Gusto Gräser allen voran, die den Militärs ein Loch in die Mütze rissen.
Im sogenannten „Laban-Garten“ von Hombrechtikon am Zürichsee baute sich Laban einen zweiten, seinen eigenen Monte Verità. Nachdem dieses Experiment gescheitert war, versuchte er der ersehnten „Menschengemeinschaft“ in seiner Loge ‚Libertas et Fraternitas‘ Form und Gestalt zu geben. In diesen und anderen Unternehmungen wirkte das Ideal einer zugleich künstlerischen und religiösen Lebensgemeinschaft weiter, wie es von Diefenbach und dann von den Brüdern Karl und Gusto Gräser entworfen und in Ansätzen verwirklicht worden war.
(Wikipedia)
Monte Cristallo in den Dolomiten
Der
mystische Schrei
Hinter den Worten des Dichters lebt der eigentliche Sinn ihres Rufes. Es ist das der mystische Schrei, der auch zu Geschöpfen, die nicht auf der Erde wohnen, spricht. Hier spricht man von einer engen Straße, von Lasten, Steuern und Zeichen, Übles von lieben Nächsten, und von den seltenen Freuden üppiger Festschmausereien. Das ist es nicht, was der Dichter sagen will. Je weniger er davon sagt, umso besser. Dort, wo ein Gipfel aufleuchtet und den Saum von Gottes Gewand sehen lässt, da spricht der Dichter von Dingen, die auch andere Sterne und Welten verstehen. Dinge der Wesentlichkeit. Nicht engherzige Bürger unserer Erde, nein, Allverbunden sollen wir sein, dort strebt unsre Seele hin, dort weilt unser wirkliches, unsichtbares Ich. Die Seele wird zum Wort. Rudolf von Laban |
Über diesen Prolog für eine Tanzdichtung, der um 1917 entstanden sein dürfte, schreibt die Herausgeberin Evelyn Dörr: „Der mystische Schrei“ war von der „Heilandsluft“ des Asconenser Dichterkreises inspiriert, der sich zwischen 1913 und 1918 auf dem „Berg der Wahrheit“ etabliert hatte.
Rudolf Laban: Das choreographische Theater. Hg. von Evelyn Dörr, Norderstedt 2004, S. 52
Laban Dance Center, Greenwich. Englands einzige Hochschule für Musik und Tanz
Monte Verità in Idaho Monte Verità Titel von Du Maurier
Bergkristall
Literatur: |
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"Dem Kosmos zu gehört der Tanzende. Der Einfluß des Okkulten auf den Tanz. In: Schirn Kunsthalle (Hg.), Okkultismus und Avantgarde, S. 600-645. |