Zurück Die Asconesische Akademie - Eine Spätblüte des Monte Verità
Werner von der Schulenburg (1881-1958)
Auszug aus "Tre Fontane", Tessiner Roman, 1961       

Die Bergfrau und der Tomatendieb


Das Land, das vor ihm lag, hatte seine Seele entflammt. … Wundersam war die Geschlossenheit, wundersam der Geist, der über Wassern und Bergen schwebte, wundersam waren alle diese skurillen Menschlein mit ihren überentwickelten Ideen. Das gütige Land trug sie, lächelnd, ohne Kritik und machte sie so zum Teil seiner selbst. Es lächelte zu ihren Befreiungskämpfen, die sich gegen irgendwelche Autoritäten richteten, gegen die Brutalität, in der Form des Staates oder des Kapitales, gegen den Fanatismus, in der Form der Wissenschaft oder der Kirche …


„Wohnen Sie hier am Hange?“, fragte der Fremde die Religiöse.

„Dort ist meine Hütte. Einst wohnte ich am Hochmoor von Ronco in der einsamen Mühle. Aber die Geister des Magiers haben mich vertrieben. Jetzt bin ich an den Berg gezogen. Ich bin geschützt, unter dem Sternbild des Uranos. Hier wächst alles, was ich pflanze. Sie sehen meine Tomaten zwischen den Bohnen durchleuchten.“

Während die Religiöse diese Worte noch mit lächelndem Munde sprach, hatte sich ihre Stirn bereits umwölkt. Und rasch schoß eine helle Wut über ihre Züge. Sie hatte einen Mann in ihrem Garten bemerkt, der mit aller Seelenruhe Tomaten pflückte. „Dieser Kerl“, sagte sie halblaut, „er gehört einer anderen Richtung an. Er behauptet, Johannes der Täufer gewesen zu sein. Er lügt. Er weiß genau, daß er Ahasver war und ist. Aber er gehört der Richtung an, die…“
Sie sprang rasch auf.

„Welcher Richtung?“ fragte der Fremde mit rascher Festigkeit, so daß die Religiöse nicht hinunterlaufen konnte, ohne vorher die Antwort erteilt zu haben. „Er behauptet“, antwortete sie rasch, „er behauptet, Gott lasse alles für alle Menschen gleichmäßig wachsen.“

„Ja. Und die Arbeit?“

„Er behauptet, daß die, die Freude an der Arbeit hätten, dadurch schon genug belohnt seien. … „

Die Frau stürzte den steinigen Abhang hinunter, still und fanatisch und erreichte in wenigen Minuten ihren Garten. Der Fremde beobachtete die Auseinandersetzung. Er sah aber nur zwei Menschen sich gegenüberstehen; die Unterhaltung wurde ganz leise geführt. Endlich nahm der zweifelhafte Täufer die Früchte, die er gepflückt hatte, in einem Körbchen mit sich. Er machte über dem Haupt der Religiösen ein merkwürdiges Zeichen, das sie fast ängstlich entgegenzunehmen schien und ging aufrecht davon, während er seine langen Locken heftig schüttelte.
 
Werner von der Schulenburg: Tre Fontane. Tessiner Roman
Schmiden bei Stuttgart 1961, S. 38ff.


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