Zurück
 

Rudolf Steiner
in Monti und Ascona
 
... und in anderen Vorträgen mit Bezug auf Gusto Gräser
Rudolf Joseph Lorenz Steiner (* 27. Februar 1861 in Kraljevec, Kaisertum Österreich, heute Kroatien; † 30. März 1925 in Dornach, Schweiz) war ein österreichischer Publizist, Esoteriker und Vortragsredner. Er begründete die Anthroposophie, eine spirituelle Weltanschauung, die an die anglo-indische Theosophie Blavatskys, das Rosenkreuzertum, die Gnosis sowie die idealistische Philosophie anschließt und zu den neuen mystischen Konzeptionen der Einheit von Mensch und Welt aus der Zeit um 1900 gezählt wird. Auf Grundlage dieser Lehre gab Steiner einflussreiche Anregungen für verschiedene Lebensbereiche, etwa Pädagogik (Waldorfpädagogik), Kunst (Eurythmie, anthroposophische Architektur), Soziales (Dreigliederung des sozialen Organismus), Medizin (anthroposophische Medizin), Religion (die Christengemeinschaft) und Landwirtschaft (biologisch-dynamische Landwirtschaft).


Rudolf Steiner hatte im September 1911 zwei besondere Vorträge im Tessin gehalten; am 19. 9. 1911 hatte er in Lugano [richtig: Locarno-Monti!] („auf den friedlichen Bergen und im Anblick des wunderbaren Sees“) davon gesprochen, wie innerhalb des 20. Jahrhunderts spirituelle Veränderungen in den wesenhaften Naturprozessen – und in ihrem Bezug zum Menschen – sich vollziehen werden. (Selg 61f.)
„Er [Rudolf Steiner] sagte damals, dass er den Boden von Ascona nicht betreten könne wegen der damals auf dem Monte Verità herrschenden unsauberen Machenschaften einiger Okkultisten.“ (Schubert, a. a. O., S.15)
Peter Selg: Die letzten drei Jahre, S. 169


In seinem Vortrag in Monti vom 19. 9. 1911 sagte Steiner unter anderem:
„Die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts ist für die ganze kulturelle Entwickelung bedeutsam durch den Ablauf dessen, was vom Morgenländischen aus sich hineinlebt in das Abendländische, sich da hineinmischt, auf dass aufgehe dasjenige, was gerade aus dem Naturerleben gesaugt werden kann als etwas Belebendes für unser tiefstes Seelenleben. Diejenigen, deren Geist geweckt ist, werden innerhalb der Naturvorgänge neue Wesenheiten sehen können. Während der Mensch, der noch nicht Hellseher geworden ist, trotz aller Wehmut über das unaufhaltsame Absterbende, immer mehr erleben wird etwas Erfrischendes in der Natur, wird derjenige, dessen hellseherische Kräfte erwachen, neue elementarische Wesenheiten aus der absterbenden Natur hervorgehen sehen. …
Es wird um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts gleichsam geboren ein immerhin neues Reich von Naturwesen, das als geistiger Quell aus der Natur hervorgeht und für die Menschen sichtbar und erlebbar.“ (In Selg 157)

Es ist auffallend und unübersehbar, dass Steiner in Monti eine Rede von der Natur bietet, die man sonst von ihm nicht gewohnt ist. In dem Register des fast zweitausend-seitigen Werks von Helmut Zander taucht das Stichwort „Natur“ nicht auf. Will sagen: die Natur ist kein vordringliches Thema für Steiner. Hier aber, in Monti, wimmelt es von Naturwesen und Naturerleben, ja, ein „neues Reich von Naturwesen“ wird angekündigt. Wie das? Warum diese Emphase?

Hinzu kommt, dass Steiner den Boden Asconas eben doch betreten hat. Nur eben nicht das Sanatorium sondern die Felsengegend im Wald von Arcegno, also Gräsers und Hesses „heilige Landschaft“. Er weist seine Freundin und Mitarbeiterin Ita Wegmann sogar „hin auf Locarno oder die nähere Umgebung, z. B. Ascona“ (in Selg 158). Ja, er hat „anlässlich seines Aufenthaltes in Locarno auch Druiden-steine und –gräber besucht und Wegman später davon berichtet“ (Selg ebd.).

Mit diesen „Druidensteinen“ können nur die hünenstein-artigen Felsbrocken auf dem Gletscherschliff bei Arcegno gemeint sein. Wie hatte Steiner von ihnen erfahren, wie wurde er auf sie aufmerksam? Es liegt nahe, dass Gusto Gräser, den er gut kannte und mit dem er öfter ins Gespräch kam, ihm von diesen Steinen erzählt hat, die ihm selbst so viel bedeuteten.

Zieht man in Betracht, dass Steiner in diesem frühen Zeitraum das Pentagramm gern als sein Heilszeichen verwendete – so in der Johanneskapelle von Malsch, so im Weißen Saal von Stuttgart – jenes Zeichen, das Gräser zu seinem eigenen gemacht hat, dann erscheint es nicht als ausgeschlossen, dass er eine Annäherung an jenen Mann versuchte, der bei den Druidensteinen wohnte, als sei er deren Hüter und selbst ein Druide. (Auch das Wort TAO war ihm zu dieser Zeit nicht fremd.)






Steiner auf dem Erdenstein
wer sitzt da oben auf dem Stein?
das könnte Rudolf Steiner sein.
gedenkt der keltischen Druiden,
die allzu früh von hier geschieden,
von diesem Urzeit-Heiligtum,
dem großen Geist-Mysterium:
Geist ist ja einst gar arg erkaltet,
hat sich zu einem Stein gestaltet.
doch soll aus dieser kalten Erden
einst wieder warme Geistluft werden.
drum geb ich heute dies zum Zeichen:
ich werde diesen Stein erweichen,
dass er dereinst als Gustogeist
hoch über allen Sternen kreist.
Hermann Müller      
Hünenstein auf den Felsen von Arcegno

Steiner muss an das Jahr 2000 gedacht haben, als er das Folgende sagte:
„Es wird um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts gleichsam geboren ein immerhin neues Reich von Natur-wesen, das als geistiger Quell aus der Natur hervorgeht und für die Menschen sichtbar und erlebbar.“

Was immer er mit den „Naturwesen“gemeint haben mag – die Wende zur Natur ist gegenwärtig erlebbar, und Steiner hat sich als Prophet erwiesen.

Seine enge Freundin Ita Wegmann folgt seinem Wink, „dass die sanfte, südliche Luft und der Zauber der Landschaft (um Ascona) eine beruhigende, erholsame Wirkung hätte“ (in Selg 158). 1940 zieht sie nach Ascona und schafft sich ein Heim mit dem schönsten Blick auf die Brissago-Inseln. Sie findet „hier Ausläufer von östlichen Epmfindungen … wie ein Anfang des Ostens“ (in 158).

Nach Ilona Schubert … sprach Rudolf Steiner mit Ita Wegman … direkt über die Notwendigkeit eines Erholungs-heimes im Tessin „und wies sie hin auf Locarno oder die nähere Umgebung, z. B. Ascona. Er sagte, dass die sanfte, südliche Luft und der Zauber der Landschaft eine beruhigende, erholsame Wirkung hätte. Ganz besonders die Isole di Brissago wären von großer Bedeutung. Er erzählte, dass in alten Zeiten dort eine Mysterienstätte gewesen sei – ein Druidenheiligtum“ (ebd., S.14f.). Steiner selbst habe …anlässlich seines Aufenthaltes in Locarno auch Druidensteine und -gräber besucht und Wegman später davon berichtet.

Peter Selg: Die letzten drei Jahre. Ita Wegman in Ascona, 1940-1943. Dornach 2004, S. 158
  


„Gras war auch wieder da"
Gusto Gräser in einem Vortrag von Rudolf Steiner, Zürich, 13. 11. 1905

36 An Marie von Sivers in Berlin Dienstag, 14. November 1905
Basel, 15. (!) November 1905

Mein Liebling!

So bin ich also in Basel angelangt. In St. Gallen ist es, denk ich, trotz der bedenklichen Wahl des Themas gegangen. Nur hatten die Leute diesmal den Saal «Volksküche» genommen, wo letzthin die Besprechung im engem Kreise war. Dahin kommt aber ein ganz anderes Publikum. Man sollte aber doch darauf sehen, das einmal herangezogene Publikum zu erhalten. Rietmann ist nun einmal ein Zauderer. Bei Oberholzer konnte ich nicht wohnen, weil sie schon anderen Besuch hatten. So lud mich Rietmann zu sich. Wenn doch die Menschen - sie meinen es doch gut - einen nicht in ein unheizbares Zimmer einlogierten! Man kann sich doch unmöglich so der Gefahr des Erkältens aussetzen, wenn man jeden Tag zu sprechen hat. Das macht übrigens auch Hubo.
In Zürich war ein vollbesetzter Saal. Viel innere Zustimmung, aber auch viel innere Opposition, die aber in der nachfolgenden Diskussion nicht hervortrat. Gras war auch wieder da. Der allein wollte eine «natürlichere» Theosophie. Viele Russen und Polen waren da. Die sind am längsten geblieben. Dr. Gysi ist voll von «der hat gesagt», «der wird sagen», «man soll nicht zu weit gehen» usw. Fast hat er schon die gute Wegman damit angesteckt. Von der würde ich Ängstlichkeit sogar begreifen, da sie doch vor dem Examen steht, und die Professoren doch in Zürich die Scheuleder aus derselben Riemerwerkstätte haben wie anderswo. Und nun bin ich heute in Basel. Das Mahl bei Geering, bei dem auch Schuster war, habe ich hinter mir. (Es ist 5 Uhr). Geering ist gedrückt wie vor Wochen, Schuster noch immer ein wenig Schwätzer. Wir wollen sehen.
Nach Frankfurt schreibe ich sogleich die Ankunft. Ich fahre morgen 8 Uhr 16 ab und bin um 2 Uhr in Frankfurt. Alles andere besorge ich dann.
Von Frankfurt fahre ich abends 10 Uhr 23 Min. ab und bin morgens 7 Uhr 40 in Berlin. Dann hoffe ich eine recht gesunde gute Maus zu finden.
In aller Herzlichkeit Rudolf

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 262 Seite: 119

Aus:

Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Band 262: Rudolf Steiner - Marie Steiner- von Sivers. Briefwechsel und Dokumente, 1901-1925. 2. Auflage, Dornach 2002, S. 119f
„Gras war auch wieder da“. Das heißt ja, dass Gräser schon früher in seinen Versammlungen war. Und da Steiner in Zürich nur einmal auftrat, muss Gräser schon früher seine Vorträge gehört haben, sei es in Zürich oder anderswo. Etwa in Berlin, wo er sich nach der Aussge von Fidus schon vor 1903 aufgehalten hat, möglicherweise schon 1899. Beide bewegten sich im Milieu der KünstlerBoheme, unter Anarchisten und Nietzscheanern, beide waren arm und auf Hilfe angewiesen, Nietzsche und Goethe waren Leitsterne für beide.

Steiner befand sich zu dieser Zeit in ernsthaften finanziellen Nöten. Aus seinem Umfeld wurde bereits für seine Wiener Zeit berichtet, er habe in einer „elenden Wohnung [gelebt und sei] oft geradezu am Verhungern" gewesen. So schlecht sei es ihm auch bis in die Weimarer, ja auch Berliner Zeit gegangen. Zudem ist eine Zerrüttung des Lebenswandels überliefert. Steiner zechte nächtelang mit seinen Dichter-Freunden, teilweise sei er erst am nächsten Nachmittag nach Hause gekommen. Rosa Mayreder, die Vertraute aus der Wiener Zeit, meinte sogar, er sei „Alkoholiker gewesen, wenn auch nicht in jenem Übermaß, wie man es bei Mystikern oft findet. [Erst ab der Jahrhundertwende habe Steiner sich] ganz fest in die Hand genommen und sei der geworden, als den ihn die Welt heute kennt". (Wikipedia)

In diesem geistigen und sozialen Umfeld mussten sie sich fast zwangsläufig begegnen. Auf eine nahe Vertrautheit weist, das Steiner keinerlei Erklärungen zu der Namensnennung gibt: „Gras“ genügt ihm. Er setzt voraus, dass Marie von Sievers selbstverständlich weiß, wer damit gemeint ist. Ernnt noch nicht einmal seine Vornamen Gusto. Dass Gräser Steiner aufgesucht hat, legt sich nahe, denn dieser war um 1900 noch entschiedener Nietzscheaner und Stirnerianer, hatte sogar ein Buch über Nietzsche verfasst, nannte sich Anarchist. Ausserdem war Gräser mit dem Nietzsche-Kommentator Gustav Naumann befreundet, einem Kollegen und Vorgänger von Steiner am Nietzsche-Archiv in Weimar. Auch einen anderen dieser Archivarbeiter hat er gekannt: den Philosophen Ernst Horneffer. Die Nietzscheaner waren seine Freunde, hier suchte und fand er Geistesverwandte, und so wird er auch auf Steiner gestoßen sein.

Nur war er im Jahre 1905 offensichtlich mit der neueren Entwicklung Steiners zum imaginierenden Theosophen nicht einverstanden. Er verlangte in Zürich eine „natürlichere Theosophie“. Spürbar zum Ärger von Steiner. Dessen Spekulationen wollte er nicht folgen, er wollte ihn auf die Erde zurückbringen, im besonderen auf den Boden der Lebensreform und damit der Natur..
Seine Mahnung blieb nicht ungehört. Jedenfalls ist zu beobachten, dass in der Folge Steiner immer mehr Elemente der Lebensreform in seine Lehre aufnahm: den Ausdruckstanz, die organische Bauweise, die Pflege des Handwerklichen und anderes. Selbst die Deutung der Sprachlaute, die Gräser schon damals beschäftigte. Wie groß sein Einfluss auf Steiner war, lässt sich nicht sagen. Doch sicher ist: er hat ihn in seine Richtung gewiesen, in die Richtung des Natürlichen, Bodenständigen, Erdennahen.