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Siehe auch:
 
Casa Anatta (Museum)
 
Monte Verità (Stiftung)
Gräser, Gusto "Der Liebe Macht", 1898/99 Öl auf Leinwand, 107 x 187 cm
Reproduktion erhältlich im Kunsthandel
130 Jahre Gusto Gräser
110 Jahre ‚Der Liebe Macht’


Mit herzlichem Dank an Stefanie Poley und Rainer Hüben,
die durch 64 Detailaufnahmen 
eine genauere Kenntnis des Gemäldes ermöglicht haben.
(Stand 2009)



Vor 130 Jahren, am 16. Februar 1879, wurde Gustav Arthur Gräser geboren, vor 110 Jahren, im Februar 1899, hat er sein Gemälde ‚Der Liebe Macht’ fertiggestellt. Was seinem Meister Karl Wlhelm Diefenbach zeit seines Lebens nicht gelingen sollte, das erreicht der Zwanzigjährige im ersten Anlauf: Er schafft ein Gesamtbild der Diefenbachischen Ideen und damit das Kultbild einer lebensreformerisch inspirierten Kulturrevolution.
Denn von einer solchen muss hier die Rede sein, nicht von „Lebensreform“. Die Lebensreform zielte auf eine hygienische Verbesserung des Alltagslebens; die durch die Industrialisierung verloren gegangene Nähe zur Natur sollte zurückgewonnen werden. Dem entsprach eine Vielzahl von praktischen Veränderungen in den Lebensgewohnheiten, in Ernährung, Kleidung, Wohnen, mit Folgen auch für die Gestaltung der Gesellschaft, wie Landsiedlung und Bodenreform. Mit Diefenbach beginnt ein tieferer, ein umgreifender, ein im Kern religiöser oder weltanschaulicher Ansatz. In seinem Gedicht ‚Sonnenaufgang’ vom Februar 1882 proklamiert er den Aufstand gegen die christliche Religion im Namen eines anderen Gottes, der sich offenbart in der Natur und im menschlichen Selbst. „Es ist  kein Gott!“ schreit er in die Welt und meint: der natur- und leibfeindliche biblische Gott ist tot. Die Verleugnung und Entwürdigung von Mutter Natur – und damit ihre Zerstörung – müsse ein Ende haben.
Auf diesem denkerischen Fundament, das Gräser bei Diefenbach kennen lernt, ruht auch sein Gemälde ‚Der Liebe Macht’. Was sein Meister in Worten aussprach, übersetzt er ins Bild. Nicht die Naturheilmethoden der Lebensreformer, wie Wassertreten, Luftbad undsoweiter, werden gezeigt sondern ein Mythos der Erlösung vom Übel, der Rettung vor seelischem Untergang. Sein Bild ist zweigeteilt: rechts die Zone des Verderbens, eine Welt des Todes, links eine Welt des Heils, des aufblühenden Lebens. In der Mitte zwischen beiden die Zone der seelischen Wandlung, überschwebt von der Sphinx und vom Vogel des heiligen Geistes. Hier vollzieht ein nacktes Menschenpaar, der neue Adam und die neue Eva, an der Hand eines Kindes die Rückkehr ins verlorene Paradies: aus der Welt der glaubenslos gewordenen Industriekultur, die in Selbstzerstörung endet, in das kommende Reich einer wieder-gefundenen Einheit mit der Natur in Alltagsleben, Kunst und Religion.
Das Bild bezeichnet einen Heilsweg.. Am Anfang steht der Tod in vielfacher Gestalt: die moderne Gegenwart. Am Ende erhebt sich der Tempel einer neuen Religion, die Gräser später dichterisch als „Erdsternreligion“ bezeichnen wird.
Nicht also von „Lebensreform“ muss die Rede sein sondern von Kulturrevolution: der biblische Mythos der Vertreibung aus dem Garten des Lebens in den Fluch der Arbeit wird umgekehrt - oder zu seinem befreienden Ende geführt. Was die Befreiung bewirkt, wird nur in Zeichen angedeutet, in Zeichen, die in den Stein des Felsentores gemeißelt sind: im Piktogramm des Menschen und dem des Alls. Was Diefenbach in seinem Gedicht mit den Worten „Natur“ und „Selbst“ proklamiert, wird Gräser später zusammenfügen in dem Wort „Allselbst“ oder „Urallselbst“. Den in den Fels geritzten Erdstern und den Menschen wird er vereinigen im „Erdsternsohn“ oder „Erdsternmenschen“.
Gräsers Bild ist gemalte Philosophie: Kulturkritik und Kulturphilosophie. Er hat die in der Lebensreform gegebene und auch bei Diefenbach noch nachwirkende Naivität überwunden: dass allein schon der Wandel der äußeren Lebensform heilbringend sei. Für ihn steht eine innere Wandlung im Mittelpunkt, die er später „REinigung“ nennen wird. Der Gang durchs Felsentor ist kein Spaziergang sondern eine Prüfung durch Wasser und Feuer.
„Gehst du nur hier gehorsam ein, so grundgehörig, samenklein, so wirst Du auch gehörig, urgrundwohl groß gedeihn!“
Aufnahmen von Rainer Hüben, Locarno
Titel
Monogramm
 
Hier kaum zu sehen, besser auf dem Video zu erkennen: ein großes „G.“ und darunter zwei Pentagramme.
Ein zweites G daneben ist zu vermuten, also:
„G. G.“
Erdstern
 
Das Saturnzeichen soll sicher das All, den Kosmos symbolisieren, genauer: die Erde als Stern im All.
Homo
 
Darüber, in einer Art Halo, die zeichenhafte Figur eines Menschen. Zusammen mit dem Erdstern als „Erdsternsohn“ zu deuten: der dem Kosmos, dem All verbundene Mensch. Sozusagen ein nach oben aufsteigender
Astronaut.
Der Tod
 
Hoch über allem, auf dem nackten, unfruchtbaren Fels der rechten Seite, thront der Sensenmann. Die Welt der Zivilisation steht im Zeichen des Todes. Noch dreimal tritt er ins Bild: als Selbstmörder am dürren Baum, als entseeltes Opfer seiner Gier, als in Dogmen erstarrter Mönch.
Luftschlacht
 
Zwei Raubvögel, vermutlich Adler, zerfleischen sich im Kampf. Da Adler, wie in Deutschland und Österreich, Staatssymbole sind, steht dieses Bild für den Krieg der Nationen.
Selbstzerstörerische Zivilisation
 
Qualm am Himmel, Flammen am Horizont, Umweltverschmutzung, gewalttätiges Patriarchat, entfesselte Gewinnsucht, erstarrte Kirche.
Männerherrschaft
 
Eine schwangere Frau, die ruhig abwehrend ihre Hand hebt, wird von einem affenartigen Mann geschlagen.
Der Dämon
 
Das Ungeheuer der (kapitalistischen?) Gier sitzt dem Menschen  wie ein Alpmar auf der Brust und reißt ihm das Herz aus dem Leib.
 
Abgrund
 
Nachdem das Kreuz als führendes Heilszeichen zerbrochen ist, hängt der Mensch über dem Abgrund seines seelischen Todes.
Tod des Christentums
 
Ein mit Totenkopf gezeichneter  Mönch
hütet nur noch den Geldsack.
 
Tod und Leben
 
Der statuenhaften Starre und der schwarz verhüllten (Un-) Körperlichkeit des Mönchs wird
die Farbigkeit und Lebendigkeit des nackten Menschenpaares gegenübergestellt.
Sie begeben sich unter den fruchttragenden Apfelbaum.
Menschenpaar
 
Mann und Frau werden von einem blondgelockten Knaben in ein Felsentor geführt, das durch Homo- und Weltallzeichen deutlich als das Tor zum neuen Menschen markiert ist. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder … „
Kind
 
Der Knabe ist von einem Lichtschein umgeben, einer Aura. Er ist als Symbol der Kindhaftigkeit zu verstehen, der Reinheit, der Unschuld. Als ein gegenbildlicher Engel vertreibt er „Adam und Eva“ nicht aus dem Paradies sondern führt sie dorthin.
Früchte
 
Die Äpfel am Baum verweisen nicht nur auf den biblischen Paradies-Mythos und auf das Fruchtmahl der Pflanzenesser, sie deuten auch vor auf „Fruchtbarsein“ als einen höchsten Lebenswert von
Gusto Gräser.
Vogelfamilie
 
Ein Vogel im Anflug auf seine Jungen im Nest, die der Partner/
die Partnerin ruhend bewacht. Eine familiäre Konstellation, die sich im Gemälde mehrfach wiederholt.
Die „heilige Dreiwohligkeit“ von Mann, Weib und Kind ist Gräser wichtig.
Der Vogel
 
Der aufwärts strebende Vogel wie auch die unter ihm schwebende Sphinx, der Fruchtbaum und das Kind weisen diese Mittelzone als Ort der geistigen Wandlung aus.
Die Sphinx
 
Die Sphinx, Symbol des Lebensrätsels, der paradoxen Einheit des Widersprüchlichen, scheint auf einem Strahlenbündel zu schweben. Ihre erhabene Ruhe und Würde steht in Kontrast  zu einer dämonischen Figur unterhalb - Mensch oder Tier oder nur vom Wind zerzaustes Gebüsch? -, die schreiende Angst und Unruhe zu verkörpern scheint. Der Mensch in seiner Verlorenheit und sein unerreichbares Ideal? Gräser hat die Sphinx, Diefenbachs Lieblingsmotiv, nie wieder verwendet, wie er überhaupt jede Übernahme traditioneller Sinnbilder tunlichst vermeidet.
Felsenkreuz
 
Ein über dem See aufragender, oben konisch zulaufender Felsenschaft ist an seiner Spitze von einer Figur mit goldenem Strahlenkranz gekrönt. Darunter ein Querbalken, der als Wegzeichen oder als Kreuzesteil gedeutet werden könnte.
Rätselhaft ist die unter dem Querbalken befindliche sackartige Ausbuchtung mit einem dunklen Spalt
oder einer Furche in der Mitte. Die Behausung eines Eremiten? Wäre
das Querstück etwa als auskragender „Balkon“ seiner Einsiedlerwohnung zu verstehen?
Rehfamilie
 
Auch hier behütet das Elternpaar wachsam seine Jungen.
 
Orpheus
 
Ein schlanker Jüngling lehnt sich ins Geäst eines Baumes, in der Hand eine Schalmei oder Flöte, das Haupt mit roten Rosen bekränzt. An seine Beine schmiegt sich vertraulich ein Tiger.
Die Figur ist wohl als ein Bild für den Dichter zu verstehen, dessen Wortmusik alle Wesen zähmt und verzaubert.
Der entrückte Gesichtausdruck des Jünglings deutet seinen ekstatischen
oder träumerischen Zustand an.
Alle Wesen unsrer Erden -
Stein, Kristall und Baum und Tier
sehnen inne sich zu werden,
Mensch, in Dir.
Innewerden will der ganze
wunderbunte Erdenstern –
seiner Wälder Wonnekranze,
seiner Meere Wogenglanze -
Menschenkind,
in Deinem Kern.
Statue
 
Die Statue eines Wanderers, der die Arme der Sonne entgegenreckt, ist in Gestalt, Haltung und Farbgebung von Diefenbachischen Vorbildern geprägt.
Ein „Lichtgebet“ an die Schönheit und Größe der Natur.
Wanderer
 
Ein älterer Mann mit langem Bart weist einem jungen Wanderer den Weg in die Höhe. Gräser huldigt damit seinem Meister, der ihm die Schau einer neuen „Humanitas“  erschlossen hat: im Zeichen „Gottnatur“.
O Wandrer, Wandrer, hör und kehr zum Freund,
der es mit Jedem o so freundlich meint!
In dunklen Wäldern, harten Felsengründen  -
suchst Du mir treu - siehst Du den Pfad
sich winden.
Und zage nicht, wenn Du ihn auch verlierst,
und wag und glaub, dass Du doch finden wirst.
Wenn Deinen Augen auch entgeht der Pfad,
getrost, oh Wandrer, halt nur
immer grad!  
Welt – wer kann dich wie dein Hochwald loben …
Heilge Speise hast du mir gespendet,
als dein Bote heute ausgesendet
ward ich, künden deine Waltemacht.
Idol
 
Die beiden Männer stehen vor einer riesenhaften zweibeinigen Figur, um deren rechtes Bein sich eine Schlange zu winden scheint. Handelt es sich um einen Baum oder um ein über menschengroßes, braunhäutiges weibliches Idol?
Herkules
 
Im oberen Teil der Figur scheinen ein Kopf und Arme und vielleicht auch Brüste angedeutet. Die Führergestalt wendet dieser Erscheinung den Rücken zu und weist den Wanderer in eine andere Richtung, die zu einem hochaufragenden Felsenturm führt, der oben ein furchteinflössendes
Gesicht zeigt. Es handelt sich wohl um die Situation des Herkules am Scheideweg. Der junge Mann soll den Verlockungen der. Weiblichkeit widerstehen und den härteren, den steinigen Weg wählen.
Felsendom
 
Die Bergkuppe krönt ein Kuppelbau, der aus dem Fels gehauen scheint und von Bäumen überwuchert ist. Damit will Gräser wohl sagen, dass die neue Religion aus der Natur herauswachsen und innig mit ihr verbunden sein muss. Der übergrünte Bau ist Symbol seiner erhofften Natur- oder Erdsternreligion.
Ob die Kuppel gebaut ist oder aus gewachsenem Fels besteht, lässt sich nicht entscheiden. Klar zu erkennen ist jedoch die Dachbegrünung, die Erde als Nährboden auf dem Gebäude voraussetzt. Die Trennung von Menschenwerk und Natur scheint in diesem Felsbau aufgehoben.
Monte Gusto
 
Schon ein Jahr später erfüllt sich Gräsers Traumschau. Zwar baut er keinen Tempel aus Stein, höhlt auch keinen Felsen aus, findet aber in einer bewaldeten Felskuppe im Tessin seinen „Dom“:
Die ‚Höhle des Heiden’ oder Pagangrott
 
Auch seine anderen Wunschbilder erfüllen sich. Er findet die Frau, die ihn begleitet, er gründet eineFamilie, er wird zum Wegweiser für jüngere Freunde und zum Lobsinger alles Lebendigen. Schliesslich baut er doch noch den Tempel der Gott-Natur – in seiner dichterischen
… und stiftet damit als Dichter, was er in seinem Gemälde versprach:
durch der Liebe Macht.
 
Zur Tiefe dringen heissts, zur Höhe ragen
und reich, gemüthruhreiche Früchte tragen,
Heilsamen sammeln voll beflissnem Ruhn
wie unsre Bäume, Meister in dem Tun.
 
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