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KUNSTFREUNDE DER BLOG ÜBER KUNST, KÜNSTLER UND AUSSTELLUNGEN

16. Februar 2015

Kunsthalle Schirn beschäftigt sich mit Künstlern und Propheten

                                                                                                   
 6.3. - 14.6.2015 - Schirn Kunsthalle, Frankfurt a/M 

 30.6. - 4.10.2015 - National Gallery, Prag               
                                >>> Performance von Jonathan Meese am 21.7.2015 in der Ausstellung 

                                       Hier klicken: Die Über-Daddys und der Nicht-Prophet – Jonathan Meese in Prag     
                                                                                                                                                                                    




In der groß angelegten Ausstellung „Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972“ untersucht die Schirn Kunsthalle Frankfurt ab dem 6. März 2015 ein weitreichendes, aber in großen Teilen unbekanntes Kapitel der europäischen, insbesondere der deutschen Kunstgeschichte. Mit über 400 Exponaten – darunter Gemälde, Zeichnungen, Lithografien sowie umfangreiches und seltenes Dokumentationsmaterial – deckt sie verblüffende Kausalitäten zwischen Künstlern der Moderne und selbsternannten „Prophetenauf. Dabei bettet die Ausstellung die Künstler und die Propheten in einen weitreichenden, 100 Jahre umfassenden sozialhistorischen Kontext ein. Mit einzigartigen und selten gezeigten Leihgaben unter anderem von František Kupka, Egon Schiele, Johannes Baader, Heinrich Vogeler, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Friedensreich Hundertwasser, Joseph Beuys oder Jörg Immendorff aus der National Gallery in Prag, dem Leopold Museum, Wien, dem Pariser Centre Pompidou, der Hundertwasser Stiftung, Wien, sowie dem Kunsthaus Zürich, den Staatlichen Museen zu Berlin wie auch zahlreichen privaten Sammlungen und Stiftungen ist die Schirn-Präsentation ein Höhepunkt des Ausstellungsfrühjahrs 2015.

Die Ausstellung hat ihren Ausgangspunkt im deutschsprachigen Raum um das Jahr 1872, als sich eine Bewegung von Künstler-Propheten zu bilden begann, die nicht nur als religiöse Abweichler, sondern zugleich auch als Sozialrevolutionäre galten. Ihr eigentliches Streben lag darin, einen Wandel in der Lebensweise und Perspektive der Mitmenschen herbeizuführen, um ihnen dadurch eine Lösung von individuellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen zu ermöglichen. Die bekanntesten unter ihnen waren: Karl Wilhelm Diefenbach, Gusto Gräser, Gustav Nagel, Friedrich Muck-Lamberty sowie Ludwig Christian Haeusser. Jeder einzelne von ihnen besaß ein starkes Charisma und fühlte sich berufen, seine Offenbarungen nicht aus materiellen Gründen, sondern um ihrer selbst willen zu verbreiten. Obgleich die drei Erstgenannten am Rande der damaligen Gesellschaft angesiedelt waren, zogen in den 1920er-Jahren Muck-Lamberty und Haeusser, die beide Schüler Gräsers waren, große Menschenmassen als Anhänger an – bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle fünf Propheten bereits Legenden. Dass dies heute kaum noch in Erinnerung ist, liegt auch daran, dass seit der Aufklärung im deutschsprachigen Europa nur noch wenig Platz für das Irrationale war. Und dennoch waren diese charismatischen Leitfiguren in avantgardistischen Kreisen nicht nur sehr bekannt, sondern hatten profunde Wirkung auf die Entwicklung der Kunst der Moderne in Europa: So entsprang die pionierhafte Abstraktion eines František Kupka dem Kontakt zu Diefenbach und seinen Anhängern. Das Gleiche gilt für eines der großen Themen in Egon Schieles Kunstschaffen: der Künstler als Prophet. Johannes Baaders dadaistische Aktionen und Collagen waren seit 1905 tief verbunden mit seiner Selbstwahrnehmung als neuzeitlicher Christus – eine Sicht und Stellungnahme, die durch den Jesusapostel Nagel ermutigt wurde. Die rebellischen Zeichnungen Friedrich Schröder-Sonnensterns nach 1945 waren durch sein weniger bekanntes Wirken als Prophet in der Weimarer Republik inspiriert. In den 1950er-Jahren positionierte sich Friedensreich Hundertwasser als Künstler-Ökologe, wanderte durch die entlegensten Winkel der Welt und erschuf Werke von eindringlicher, holistischer Strahlkraft für ein breites Publikum. Auch die messianische Dimension von Joseph Beuys’ künstlerischer Mission wurde durch die Überlieferung der Propheten befeuert. Jörg Immendorff wiederum wurde dazu ermutigt, seine „LIDL“-Kunst in die Straßen Düsseldorfs zu tragen und sich der Religion des Kommunismus zu verschreiben.

Die Ausstellung „Künstler und Propheten“ wird durch die Dr. Marschner Stiftung und den Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. gefördert.

In einem naturgemäßen Leben mit Vegetarismus und Veganismus oder in Heilmitteln wie der weitverbreiteten Homöopathie erkennen wir Spuren der damaligen ‚Propheten‘ noch heute wieder. Welche Rolle diese oftmals als ‚Kohlrabi-Apostel‘ oder ‚Naturmenschen‘ verspotteten Personen für die Entwicklung der Kunstgeschichte spielten, wollen wir nun erstmals aufzeigen. Die Ausstellung leistet wissenschaftliche Pionierarbeit und verspricht neben großen Meisterwerken der Moderne auch unzählige unerwartete und überraschende Einblicke in die europäische Kulturgeschichte“, so Max Hollein, Direktor der Schirn.

Pamela Kort, Kuratorin der Ausstellung, ergänzt: „Die Geschichte der Propheten ist nicht nur aus gesellschaftshistorischer Sicht faszinierend. Sie ist auch eng mit der Entwicklung der Kunst der Moderne in Europa verwoben. Viele Akteure der Kunstwelt bedienten sich ihrer Ideen, ohne sich die Mühe zu geben, auf deren Quellen hinzuweisen. Über einen Zeitraum von rund einhundert Jahren verfolgten Künstler und Propheten ähnliche Ziele und Visionen. Die Ausstellung hebt die wichtigsten Protagonisten ins Rampenlicht und macht so erneut auf eine weitverzweigte und fast vergessene Geschichte der Moderne aufmerksam. Es ist höchste Zeit, diese geheime Geschichte der Moderne zu erzählen.“

KARL WILHELM DIEFENBACH UND SEIN ÄSTHETISCHES VERMÄCHTNIS

Die erste Propheten-Generation lebte reformistisch-religiöse Ansichten und auf der darwinistischen Lehre beruhende monistische sowie theosophische Ideen. Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913), der „Vegetarianer-Apostel“, war der wohl erste „Künstlerprophet“ Deutschlands, Ausgangspunkt und Identifikationsfigur auch für die meisten Gruppierungen nachfolgender „Propheten“. Sein 68 Meter langer Fries „Per aspera ad astra“, 1892, wird in einer großen Auswahl der insgesamt 34 Tafeln in der Schirn gezeigt. Diefenbach legte nach einem Offenbarungserlebnis 1882 auf dem bayrischen Hohen Peißenberg eine Mönchskutte an und gründete 1885 seine erste Kommune in Höllriegelskreuth. Von Zeitgenossen als „Kohlrabi-Apostel“ verspottet, zog der Nudist, Vegetarier und Befürworter der freien Liebe mit seiner unverkennbar künstlerischen Begabung, seiner antiklerikalen Haltung und radikalen Lebensweise viele junge Künstler und unterschiedlichste Anhänger an. Aus seiner Anhängerschaft stach der begabte, von Diefenbach Fidus genannte Hugo Höppener heraus. Fidus selbst sah sich allerdings nie als Apostel oder „Erlöser“, sondern versuchte, verschiedenen Denkrichtungen bildliche Form zu geben. So beschäftigte er sich etwa mit der Theosophie sowie dem Monismus und traf auf die unterschiedlichsten Intellektuellen seiner Zeit, die mit seinen Illustrationen bestens vertraut waren. Fidus’ künstlerisches Werk, insbesondere seine Vorstellung einer „Tempel-Kunst“, erfuhr weite Verbreitung und wirkte inspirierend. Die utopischen Architekturprojekte und transzendentalen Zeichnungen, die er zwischen 1892 und 1912 schuf, waren von nachhaltigem Einfluss auf die unterschiedlichsten Künstler und Architekten der Avantgarde.

Auch der Pionier der Moderne František Kupka (1871–1957) war ein Bewunderer von Diefenbachs Lebens- und vor allem Denkweise. Kupka fand durch Diefenbach, den er erstmals in Wien traf, seine Meinung bekräftigt, dass Kunst spirituell orientiert sein müsse. Allerdings nahm er, nachdem er eine Zeit lang in dessen dortiger Kommune in Hütteldorf lebte, desillusioniert Abstand von ihm als Person. Dennoch war Diefenbach ebenso wie die Beschäftigung mit den Werken Fidus’ richtungsweisend für Kupkas künstlerische Ästhetik, sichtbar etwa in Darstellungen astraler Körper oder Tempelbauten. Auch seine abstrakten Werke, darunter „Printemps cosmique I“ von 1913/14, lassen deutlich auf diese spirituellen und ästhetischen Ursprünge schließen.

Ebenfalls in Wien kam der „Natur- und Wanderapostel“ und zeitweise künstlerisch tätige Gusto Gräser (1879–1958) mit Diefenbach in Kontakt und wurde Teil der Kommune Himmelhof in Ober-St.-Veit. Da er Diefenbachs autoritären Stil ablehnte, blieb er nur kurz, doch prägte ihn die gemeinsame Zeit stark. Von der Selbstzerstörung der Industriewelt überzeugt, wandte sich Gräser von den Regeln der damaligen Gesellschaft ab, begab sich auf Wanderschaft durch das deutschsprachige Europa und erlangte durch Vorträge sowie den Verkauf seiner Gedichte Berühmtheit, erntete aber gleichermaßen Spott und Hohn. Er war Mitbegründer der Siedlung Monte Veritá bei Ascona, die zum Anziehungspunkt und zur Plattform für Suchende, Reformer und Intellektuelle in ganz Europa wurde. Zeitweise lebte dort auch der junge Hermann Hesse, der fortan ein geheimer Jünger Gräsers wurde.

1906 erschien der junge Egon Schiele (1890–1918) in der Wiener Szene, wo die Inhalte der Propheten-Lehren von allen Seiten an ihn herangetragen wurden. Sein Freund und Händler Arthur Roessler vermittelte ihm unter anderem die Theosophie, den Buddhismus oder die Parapsychologie. Roessler war mit dem Gedankengut von Diefenbach und Fidus vertraut und stand mit Kupka in enger Verbindung. Auch lebten enge Künstlerfreunde Schieles einige Zeit bei Gräser in Monte Veritá. Unter diesem allgegenwärtigen Einfluss kristallisierte sich eines der großen Themen Schieles nach 1909 heraus: die Vorstellung vom Künstler als „Erlöser“ und missverstandenen Propheten. Dies spiegelt sich sowohl in seinen ungewöhnlichen Werktiteln, etwa „Die Selbstseher II („Tod und Mann“)“ von 1911, als auch in den mönchsähnlichen und an Aposteldarstellungen angelehnten Selbstporträts mit Kutte und skurriler Körperhaltung, wie „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“ von 1912.

DIE JESUS-REVOLUTION

Auch der wohl bekannteste deutsche Wanderprophet, der „Jesusapostel“ Gustav Nagel (1874–1952), suchte zu Beginn die Nähe Diefenbachs, wurde aber durch dessen despotischen Führungsstil abgeschreckt. Nagel, der nicht künstlerisch tätig war, hatte stattdessen das unbestrittene Talent zu Selbstmarketing und -stilisierung. Er nutzte die damals aufkommende Bildpostkarte, um sich als eine Art neuzeitlichen Christus zu inszenieren, und steigerte so seine deutschlandweite Berühmtheit enorm. Viele Menschen hofften auf eine Wiederkunft Jesu Christi und sahen in Nagel die Erfüllung ihrer Wünsche. Unterstützt wurde diese Wirkung durch seine außergewöhnliche Erscheinung, mit funkelnden blauen Augen, langem gewelltem Haar, 1,80 Metern Größe, in eine Kutte gekleidet und mit einem Hirtenstab. Nagel verfolgte jahrelang den Bau eines „Paradiesgartens“ mit einer integrierten Tempelanlage.

Ermutigt durch Jesusapostel wie Nagel, hatte der spätere Dadaist Johannes Baader (1876–1955) begonnen, sich als „Christus“ zu betrachten und diese Selbstinszenierung in seinen dadaistischen Aktionen und Collagen zu verarbeiten, etwa in „Reklame für mich“ von 1919/20. Baader stellte sich während der gesamten 1920er-Jahre als eine Art Prophet dar. Im Dadaismus bezeichnete er sich selbst als „Oberdada“ und „Präsident des Erdballs“ – ab 1922 als „Oberdada“ der Burg Ludwigstein, eines Pilgerziels der deutschen Jugendbewegung. Die Christ-Revolutionäre wurden durch stark individualisierte religiöse Ansichten getragen und sahen Jesus von Nazareth oft als „Kommunisten und Volksaufwiegler“. Auch der deutsche Maler Heinrich Vogeler (1872–1942) sympathisierte mit dieser Strömung, wie nicht nur in seinen Publikationen deutlich wird. Der Ruf nach einem neuen Erlöser, der im deutschsprachigen Europa ab 1885 immer lauter wurde, manifestiert sich auch in seinen Gemälden, wie dem 1923 entstandenen Werk „Die Geburt des Menschen“.

DER AUFSTIEG DER INFLATIONSHEILIGEN IN DER WEIMARER REPUBLIK

Getragen durch das Gedankengut und den bereits in der Bevölkerung stark gewachsenen Bekanntheitsgrad der ersten Propheten, trat eine zweite Generation, die sogenannten „Inflationsheiligen“, vor allem nach 1920 durch ihre politisch-religiöse Radikalität hervor. Friedrich Muck-Lamberty (1891–1984), der „Messias“ der deutschen Jugendbewegung, sah sich als aufstrebenden Führer der deutschen Jugend und als „ethischen Propheten“. Obwohl er ein Bewunderer Gräsers war, wandte er sich immer mehr deutsch-völkischer Literatur und deutsch-christlich motiviertem Gedankengut zu. Den Höhepunkt seiner Propheten-Karriere bildete das Jahr 1920, als er mit einer Truppe Jugendlicher, der „Neuen Schar“, durch Thüringen zog und eine enorme Anhängerschaft hinter sich versammelte. Als der bekannteste „Inflationsheilige“ und „Anarcho-Prophet“ nach dem Ersten Weltkrieg ist Ludwig Christian Haeusser (1881–1927) zu nennen: ein ehemaliger Champagnerhändler, der seine Berufung zum Propheten wie ein paulinisches Erweckungserlebnis in einem Hotelzimmer des Frankfurter Hofs erlebte. Haeusser, der sich als neuer Christus, Tao und Zarathustra in einer Person sah, kooperierte etwa mit Baader und wollte seine radikal-reformistische Weltanschauung durch einen Sitz im Reichstag verankert wissen.



Gusto Gräser wurde von seinen Zeitgenossen belächelt, aber auch für seine Entschlossenheit bewundert. Er gründete eine der ersten Kommunen, lebte in einer Grotte und inspirierte Hermann Hesse.

Schon als Schü­ler tut sich der 1879 in Kron­stadt im dama­li­gen König­reich Öster­reich-Ungarn gebo­rene Gräser schwer mit gesell­schaft­li­chen Konven­tio­nen, gerät mit seinen Lehrern anein­an­der, wird schließ­lich vorzei­tig des Gymna­si­ums verwie­sen. Seine Zeit verbringt er fortan mit ausge­dehn­ten Streif­zü­gen durch die Natur und ersten Versu­chen als Maler und Bild­hauer. Früh zeigt sich sein über­durch­schnitt­li­ches künst­le­ri­sches Talent und es verwun­dert nicht, dass Gräser zunächst eine klas­si­sche, durch­aus erfolg­ver­spre­chende Künst­ler­kar­riere ein-schlägt. 1896 gewinnt er mit einer Skulp­tur den ersten Preis der Buda­pes­ter Welt­aus­stel­lung und geht, ermu­tigt durch diesen Erfolg, im Alter von 18 Jahren nach Wien, um an der dorti­gen Kunst­ge­wer­be­schule zu studie­ren. Dort kommt es zur ersten entschei­den­den Begeg­nung im Leben des jungen Gräser: Er lernt den knapp 30 Jahre älte­ren Karl Wilhelm Diefen­bach kennen, der sich zu diesem Zeit­punkt als Vorkämp­fer der Lebens­re­form und erster Künst­ler­pro­phet Deutsch­lands bereits einen Namen gemacht hat.

Faszi­niert von dessen kompro­miss­lo­ser ökolo­gi­scher Lebens­weise sowie seinen radi­ka­len, die Gesell­schaft und ihre Konven­tio­nen ableh­nen­den Ansich­ten, erkennt Gräser in Diefen­bach seinen Meis­ter und schließt sich der von ihm gegrün­de­ten Land­kom­mune "Himmel­hof" bei Wien an. Doch ist sein Aufent­halt in der Kommune nur von kurzer Dauer. Enttäuscht von Diefen­bachs auto­ri­tä­rem Führungs­stil, der seinen Anhän­gern unbe­ding­ten Gehor­sam abver­langt, verlässt Gräser die Lebens­ge­mein­schaft und kehrt in seine Heimat Sieben­bür­gen zurück, wo er sich weiter dem Malen widmet.

Hier ereig­net sich, was Hermann Müller, Wegge­fährte und Biograf Gräsers, als "visio­nä­res Initia­ti­ons­er­leb­nis" seines Freun­des beschreibt: Dem jungen Künst­ler erscheint, einer gött­li­chen Einge­bung gleich, ein Engel, der ihn mit dem Schwert hinaus­weist in die Welt. Dieser Vision folgend, vernich­tet Gräser fast all seine Bilder; erhal­ten geblie­ben ist ledig­lich das monu­men­tale Gemälde "Der Liebe Macht" (1898/99), in dem Gräsers Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik auf gera­dezu exem­pla­ri­sche Weise zum Ausdruck kommt: Es zeigt eine Land­schaft, deren rechte Hälfte in ein höllen­ar­ti­ges Licht getaucht ist und von rauchen­den Fabrik­schlo­ten und sich bekrie­gen­den Menschen domi­niert wird; linker­hand ist unbe­rührte Natur zu sehen, Mensch und Tier sind in fried­li­chem Einklang darge­stellt.

Nach­dem er sich des Ballasts seines bishe­ri­gen Schaf­fens entle­digt hat, beginnt Gräser seine erste große Wande­rung gen Süden. Sein Weg führt ihn ins schwei­ze­ri­sche Tessin, wo er west­lich von Ascona den Hügel Mone­scia entdeckt, dessen Anblick ihn sofort verzau­bert. Hier möchte er seine Utopie eines natur­na­hen Lebens in hier­ar­chie­lo­ser Gemein­schaft verwirk­li­chen und grün­det im Herbst des Jahres 1900 zusam­men mit Gleich­ge­sinn­ten die Kommune Monte Verità (dt. Wahr­heits­berg). Jedoch endet das Expe­ri­ment bereits wenige Monate später, da Gräser am ursprüng­li­chen Konzept einer Liebes­kom­mune fest­hält, während der Fabri­kan­ten­sohn und Haupt­geld­ge­ber des Projekts, Henri Oeden­ko­ven, ein kommer­zi­el­les Sana­to­rium für eine inter­na­tio­nale Kund­schaft anstrebt. Oeden­ko­ven und seine Anhän­ger setzen sich schließ­lich durch, es kommt zum Bruch mit Gräser, der sich von nun an in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den zwar weiter­hin auf dem Monte Verità aufhält, von der übri­gen Gemein­schaft aller­dings weit­ge­hend isoliert lebt. Zeit­wei­lig haust er als halb­nack­ter Eremit und buch­stäb­li­cher Natur­mensch in einer Fels­höhle unweit von Ascona, ernährt sich von Wurzeln und Wald­früch­ten. Gräser verweilt nie lange an einem Ort. Immer wieder begibt er sich auf Wande­rung, verteilt dabei eigen­hän­dig herge­stellte Blät­ter mit Apho­ris­men: "Ich kam, ein Feuer zu zünden in diesem Erden­land. Was wollt' ich mehr, es stün­den die Herzen schon in Brand. Was ich bin -- das weiß ich nicht, sicher­lich kein Wich­tig­wicht! Was ich bin, frag nur nit' lang. Eins bin ich wohl: Bin in Gang", so Gräser in einem seiner Sinn­sprü­che.

Auf seinen Wande­run­gen erregt Gräser mit Bart, Stirn­band, wallen­den Haaren und Kutte Aufse­hen. Rasch erlangt er Bekannt­heit, beson­ders Intel­lek­tu­elle und Künst­ler fühlen sich von ihm ange­zo­gen, unter ihnen auch der junge Schrift­stel­ler Hermann Hesse. Dieser hält sich 1906 und 1907 auf dem Monte Verità auf, besucht Gräser in seiner Grotte und führt ausgie­bige Gesprä­che mit ihm. Hesse sieht in Gräser die Verkör­pe­rung von Nietz­sches Zara­thus­tra und nimmt ihn zum Vorbild für die Figu­ren des Demian, Prot­ago­nist seines gleich­na­mi­gen Romans, sowie des Dieners Leo in der mysti­schen Erzäh­lung "Die Morgen­land­fahrt". Letz­tere schil­dert die Geschichte eines geheim­nis­vol­len Bundes, dessen Mitglie­der sich gemein­sam auf eine geis­tige Reise bege­ben und, "indem sie auf alle die bana­len Hilfs­mit­tel moder­ner Dutzend­rei­sen, auf Eisen­bah­nen, Dampf­schiffe, Tele­graph, Auto, Flug­zeug und so weiter verzich­te­ten, wirk­lich ins Heroi­sche und Magi­sche durch­ge­sto­ßen sind" (Hesse in der "Morgen­land­fahrt"). Diese Erzäh­lung inspi­rierte Mitte der 1960er-Jahre unter ande­rem die Hippie-Gruppe "The Merry Pranks­ters", deren Initia­tor, der Schrift­stel­ler Ken Kesey ("Einer flog über das Kuckucks­nest") das kleine Bänd­chen stets mit sich führte. Über­haupt gilt Gräser, der Vege­ta­rier und Kriegs­geg­ner, Vorden­ker einer neuen Mensch­heit ohne Herrn und Knecht und Zerstö­rung der Natur, heute als Proto­typ der künf­ti­gen Hippies.

Nach­dem Gräser ab 1910 einige Jahre mit seiner Frau Elisa­beth Dörr und den sechs Kindern in einem selbst­ge­bau­ten Wohn­wa­gen durch Deutsch­land und die Schweiz zog, wird er kurz vor Ausbruch des Ersten Welt­kriegs zum Mili­tär einbe­ru­fen. Als Natur­mensch und beken­nen­der Pazi­fist verwei­gert er den Dienst, wird darauf­hin von einem Mili­tär­ge­richt zum Tode verur­teilt. Nach drei Tagen in der Todes­zelle wird er als mit "entar­te­ten Ideen behaf­te­tes Indi­vi­duum" entlas­sen. In den folgen­den Jahren setzt Gräser sein unste­tes Wander­le­ben fort, verbringt zwischen­durch einige Jahre im Kreise seiner Fami­lie in Ascona. Nach der Tren­nung von seiner Frau wird es still um Gräser. Infolge mehre­rer Verhaf­tun­gen und eines Schreib­ver­bots durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten zieht er sich nach München zurück. Dort lebt er bis zuletzt verein­samt und verges­sen in einer Dach­kam­mer. Eine der weni­gen Foto­gra­fien aus dieser Zeit zeigt ihn 1945, hoch betagt vor den Ruinen des Münch­ner Mari­en­hofs.

Mehr über "Künst­ler und Prophe­ten" erfah­ren mit dem Film zur Ausstel­lung:

Aus: SCHIRN MAGAZIN der Kunsthalle Schirn, Frankfurt

DAS VERMÄCHTNIS ZWEIER PROPHETEN-GENERATIONEN FÜR DIE KUNST DER NACHKRIEGSZEIT

Nach 1945 verschwanden die Propheten und ihr weitverzweigter Wirkungskreis in den Untiefen der deutsch-europäischen Geschichte, gebrandmarkt als irrationale Spinner. Nur wenige Künstler wollten nach diesen schicksalhaften Jahren mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Ein noch immer viel diskutiertes Beispiel hierfür ist Friedrich Schröder-Sonnenstern (1892–1982), der – nachdem er 1949 unvermittelt zu zeichnen anfing – in Frankreich von Jean Dubuffet durchaus geschätzt, in Deutschland aber als psychopathisch eingestuft wurde. In der Ausstellung „Künstler und Propheten“ wird die Frage aufgeworfen, ob seine skurrilen, satirischen und surreal anmutenden Zeichnungen vielmehr auf seine Zeit als angeblich spiritueller Heiler und vagabundierender Prophet in den 1920er- und 1930er-Jahren als auf einen psychopathischen Geisteszustand zurückzuführen sind.

In Österreich war es nach 1945 Friedensreich Hundertwasser (1928–2000), der sich nicht um die in der Kunstwelt herrschenden Normen kümmerte und sich kopfüber in die Welt des Irrationalen stürzte. In Wien entdeckte er die Arbeit Schieles. Zudem begab er sich auf eine „Pilgerreise“ durch Italien, Marokko und Tunesien. Sowohl sein Widerstand gegen etablierte Verhaltens-, Denk- und Arbeitsnormen im Europa der Nachkriegszeit als auch seine selbstgefertigte, eigenwillige Kleidung sind Indizien für seine Identifikation mit den zwei Generationen der Propheten. Seine radikalen künstlerischen Ansichten setzte der Umweltaktivist, der in der Spirale ein Symbol für Haeckels Version des Darwinismus – für die Theorie von Werden und Vergehen – sah, in Gemälden wie „Das Blut, das im Kreis fließt und ich habe ein Fahrrad“ von 1953 konsequent um.

Etwa zur selben Zeit entdeckte sein deutscher Zeitgenosse Joseph Beuys (1921–1986) die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Ideen des längst vergessenen Schriftsteller-Propheten Rudolf Pannwitz. Beuys’ Lehrer Ewald Mataré inspirierte ihn zur Auseinandersetzung mit der Philosophie des Bauhaus-Handwerks, das unmittelbar im Zusammenhang mit der Tempel-Ästhetik von Diefenbach und Fidus stand. Beuys wagte aber erst 1961, als er zum Professor für monumentale Bildhauerei an der Kunstakademie in Düsseldorf ernannt wurde, offiziell auf das höchst umstrittene Erbe der „Propheten“ zurückzugreifen. In seiner um 1967 entwickelten Theorie der „Sozialen Plastik“ führte er die Idee des Weltentempels einen entscheidenden Schritt weiter. Das Timing war perfekt: Mitte der 1960er-Jahre hielt das New-Age-Denken in Deutschland Einzug und damit kam alles – Prophetie, Ökologie, Gesellschaftsreform, freie Liebe – mit voller Wucht zurück. Beuys’ auffällig stilisiertes Äußeres sowie sein politisches und ökologisches Engagement lassen Rückschlüsse auf seine intensive Beschäftigung mit diversen „Propheten“ zu. Doch erst 1972 identifizierte er sich auf einem programmatischen Multiple offenkundig mit der Vorstellung vom Künstler als Wanderprophet: In „La rivoluzione siamo Noi“ schreitet Beuys in Lebensgröße mit einer Umhängetasche über der Schulter selbstbewusst voran. Die Fotografie wurde auf Capri aufgenommen, dem Ort der letzten Lebensjahre Diefenbachs. Ermutigt durch das Beispiel seines Lehrers begann später auch Jörg Immendorff (1945–2007), sich als „Beuysritter“ zu stilisieren und mit einem Hirtenstab à la Nagel bewaffnet, „Für dunkle Tage unterwegs (Ich Stab)“, 1968, sein „LIDL“-Aktionsprojekt in die Straßen Düsseldorfs zu tragen.

Im Anschluss an die Präsentation in der Schirn Kunsthalle Frankfurt wird die Ausstellung vom 30. Juni bis 4. Oktober 2015 in der National Gallery in Prag gezeigt.

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