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DIE VISION VOM HOHENPEISSENBERG

Aus „Das Paradies auf Erden“ von Iris Radisch







Auf dem Hohenpeissenberg im bairischen Oberland erlebte Diefenbach im Februar 1882 den "Sonnenaufgang" seiner Idee, die ihn zu ihrem Propheten berief.


                                 … An der Idee [der Lebensreform] kann das kaum gelegen haben, denn sie ist heute so lebendig wie damals, als die ersten von der 1848er-Revolution enttäuschten Geister auf den Gedanken kamen, die wilhelminische Gesellschaft nicht nur von außen, sondern auch von innen, gewissermaßen an Haupt und Gliedern zu reformieren. Lebensreformideen geisterten seit der Reichsgründung durchs ganze Land. Sie waren eine nur allzu verständliche Reaktion auf die Folgen der sich in atemraubender Geschwindigkeit vollziehenden Industrialisierung und Verstädterung des Kaiserreiches. In den Jahren von 1850 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges verzehnfachte sich die industrielle Produktion. …
Etwas bescheidener tritt der Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach auf, der am 10. Februar 1882 in einer Vision auf dem Hohenpeißenberg in den bayerischen Alpen von der Erkenntnis durchströmt wird, dass »alle Herrlichkeit des Weltballs, des Weltalls Unermesslichkeit als Keim verborgen liegt in jedes Menschen Brust«. Auch er predigt die Rückkehr zum naturgemäßen, einfachen Leben in härener Kutte und Sandalen auf den Marktplätzen, zieht sich aber unter dem Zwang der Behörden in die Einsamkeit eines verlassenen Steinbruchs zurück. Seine Schüler, darunter Gusto Gräser, setzen sein Werk fort.

So schließt sich Gräser Diefenbachs lebensreformerischer Kommune Himmelhof bei Wien an und lebt nach der Jahrhundertwende zusammen mit dem Schriftsteller Hermann Hesse ein freies Nudistenleben in einer Felsengrotte in der Künstlerkolonie Monte Verità in den Bergen von Ascona. Dort baut er sein legendäres Baumbett und tanzt in den Mondscheinnächten ekstatische Reigen unter Baumkronen. In späteren Jahren zieht er mit Frau und Kindern im selbst gebauten Pferdewagen quer durch Deutschland und besucht auch die »Neue Gemeinschaft«, eine Künstlerkommune der Brüder Hart in Berlin-Schlachtensee, in der unter anderem Gustav Landauer und Peter Hille leben.

Ein Bild, das Gräser im Jahr 1911 mit Bart, Lederstirnband und langem Haar zusammen mit seiner nackten Tochter auf einer blühenden Wiese zeigt, könnte auch aus den späten sechziger Jahren stammen. 1913 nimmt er an dem berühmten freideutschen Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner teil, einer Art Woodstock des Kaiserreichs. Im Ersten Weltkrieg wird er als Kriegsdienstverweigerer zum Tode verurteilt, kann aber im Jahr 1916 in die Schweiz zurückkehren, auf den Monte Verità, der zur Fluchtstätte für Pazifisten und Emigranten wird.  …

Auch wenn Eden, Worpswede, der Monte Verità und die vielen anderen Orte des »neuen Lebens« inzwischen zumeist Museumsdörfern gleichen – all die folgenden Jugendrevolten und großen gesellschaftlichen Auf-brüche, von der 68er-Revolte bis zur Anti-Atomkraft-, bis zur Landkommunen- und Ökologiebewegung der Gegenwart, stehen immer noch in der Tradition der Lebensreformbewegung um 1900.



Iris Radisch, Jahrgang 1959, ist Literatur-Redakteurin der ZEIT
Iris Radisch in DIE ZEIT ONLINE vom 29. 11. 2010, 12:20.






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