Zurück | Vom Monte Verità nach Santa Barbara Wurzeln und Wege der amerikanischen Alternativbewegung |
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Was verbindet Kafkas
Erzählung 'Der
Hungerkünstler'
mit dem Monte Verità, und was den Monte Verità mit dem Weißen Haus? Das verbindende
Glied ist ein ehemaliger Realschullehrer aus St. Georgen im
Schwarzwald, der am
26. Juni 1909 sich in Köln zu einem 51tägigen Fastenversuch
einschließen ließ.
In einer Glaszelle zur öffentlichen Besichtigung ausgestellt,
verbrachte er 49
Tage ohne Nahrung und stellte damit einen
neuen Weltrekord auf. Er kam vom Monte Verità, wo er
als
"diätetischer Gesundungslehrer" auftrat; in Locarno will er ein
eigenes Fastensanatorium unterhalten haben. In seinen Erinnerungen
erweckt er
allerdings den Eindruck, der Monte Verità sei sein eigenes Unternehmen
gewesen,
wie denn ein großsprecherischer Zug auch sonst in seinen Äußerungen und
seinem
Auftreten nicht zu übersehen ist. Hermann Hesse, der sich mit ihm vor
der
Naturheilanstalt Oedenkovens auf dem Berg fotografieren ließ, erwähnt
in seiner
Monte Verità-Satire 'Doktor Knölges Ende' die "Vorträge eines früheren
badischen Lehrers namens Klauber, der in reinem Alemannisch die Völker
der Erde
über die Geschehnisse des Landes Atlantis unterrichtete". Er kann damit
nur
jenen Hungerkünstler gemeint haben, der sich als solcher Num Nafar
nannte, in
Wirklichkeit aber Arnold Ehret hieß und ein durchaus ernstzunehmender
Lehrer
des Heilfastens und einer gesunden Ernährungsweise war. Ehret kam nach
1914 in
den USA zu Ruhm und Erfolg und ist dort bis heute ein Bestsellerautor
in
Ernährungsfragen geblieben. Seine Bücher werden von einem eigenen
Ehret-Verlag
in Großauflagen vertrieben. Zu seinen dankbaren Verehrern bekannte sich
auch
die rebellische Tochter des amerikanischen Präsidenten Reagan. Neben Ehret gab es
noch eine Reihe radikalerer Lebensreformer oder "Naturmenschen", die
seit etwa 1906 aus Deutschland in die Vereinigten Staaten kamen und
dort zu
Vorläufern und Vorkämpfern der späteren Alternativbewegung wurden. Ihr
Lebensstil
und ihre Anschauungen entsprachen so auffallend denen von Gräser und
Diefenbach, daß ein Zusammenhang angenommen werden muß. Sie sind oft
deshalb
aus Deutschland ausgewandert, weil sie sich dem Zwang zum Militärdienst
entziehen wollten. Mit ihren Health-Food-Läden und ihren Baumhäusern,
ihren
Straßenpredigten und Flugschriften bildeten sie an der amerikanischen
Ostküste
die Keimzelle einer Lebens- und Kultur-reform, die seit den
Siebzigerjahren als
"Alternativ-" und "New Age"-Bewegung auf den europäischen
Kontinent zurückkehrte. Diese
Zusammenhänge wurde von dem Kalifornier Gordon Kennedy in den letzten
dreißig
Jahren erforscht und inzwischen vorgestellt in seinem Buch ’Children of the Sun. A
Pictorial Anthology.
>From Germany to California. 1883-1949’.
(Das Buch enthält 144
Abbildungen, darunter 13 zu Gusto Gräser; Auszüge in englischer Sprache
am Ende
dieser Einführung). Seine These, dass die amerikanische
Alternativbewegung von
deutschen Einwanderern um und nach 1900 angestoßen wurde, wird durch
andere Quellen bestätigt und
ergänzt. 1.
Die Naturärzte Das Buch 'Nature Doctors. Pioneers in
Naturopathic Medicine' von
Friedhelm Kirchfeld und Wade Boyle erschien 1994 in Portland, Oregon.
In dieser
gründlichen und gewissenhaften Darstellung nehmen die deutschen oder
aus
Deutschland stammenden Pioniere der Naturheilbewegung mehr als drei
Viertel des
Umfangs in Beschlag. Es heisst dort: Nature cure,
consisting of hydrotherapy, air and light baths, a
vegetarian diet, and herbal remedies, originated in Europe with the
work of
Priessnitz, Rikli, Kneipp and others. (185) The only significant works about the history of nature cure were published in German. This is not surprising since the nature cure movement originated and still enjoys its greatest popularity in German-speaking countries. (X) Der als der amerikanische
"Father of Naturopathy" apostrophierte Benedict Lust
(1872-1945) stammte aus Michelbach in Baden und
emigirierte 1892 in die U.S.A. Als Todkranker, von den Ärzten
aufgegeben,
entschloss er sich nach Deutschland zurück-zukehren, ging zu Kneipp
nach
Wörishofen, genas dort und kam 1896 als offizieller Vertreter des
Wasserdoktors
in die Staaten zurück. "This was the start of naturopathy in
America". (185) Er gründete ein
amerikanisches "Yungborn" in der Nähe von Butler, New Jersey. "Around
the turn of the century, other pioneers, most of them also of German
origin,
founded similar institutions." (195) Näheres und Ausführliches
ist in dem genannten Buche nachzulesen. 2. Die
Naturmenschen Am 20. August 1903 erschien in
Francisco, in der italienischsprachigen
anarchistischen Zeitschrift 'La Protesta
Umana', ein Aufsatz von einem gewissen Carlo Arnaldi
über die Naturmenschen des Monte Verità. Es war
dies weltweit die erste grössere Veröffentlichung über diese Siedlung
überhaupt. Arnaldi, offensichtlich ein überzeugter Anarchist,
vermutlich Arzt
von Beruf und jedenfalls Anhänger der Naturheilkunde, hat im Sommer
1903 den
Monte Verità besucht und sich über die dortige Naturheilanstalt von
Oedenkoven
ausführlich informieren lassen. Sein überaus positiver Bericht war
offenbar
Anlass für tessiner und italienische Zeitungen, ihrerseits Reporter zu
entsenden. So erschien
im Oktober 1903 ein Artikel im 'Corriere della
sera'
und ein zweiter 1904 in der 'Gazzetta Ticinese'.
Einen dritten Bericht verfasste
ebenfalls 1903 der locarneser Schriftsteller Angelo Nessi. (Diese drei
Texte
sind abgedruckt in der 'Antologia
di Cronaca
del Monte Verità', 1992 herausgegeben von Giò
Rezzonico im Verlag
des Eco di Locarno.) Damit war für die Siedlung und vor allem für die
Kuranstalt ein erster Durchbruch in die Öffentlichkeit geschafft. Allerdings zeichneten die
kontinentalen Blätter im Unterschied zu Arnaldi ein teilweise scharf
ironisches
und jedenfalls kritisches Bild des Oedenkovenschen Unternehmens. Durch
die
doppelte und mehrfache, einerseits positive, andererseits negative
Beleuchtung der selben
Szene zum etwa selben Zeitpunkt ergibt sich ein
ausgesprochen plastisches, anschauliches und auch zuverlässiges Bild
der damaligen
Verhältnisse am Ort. Nie wieder in ihrer kurzen Geschichte ist die
Kuranstalt
derart gründlich inspiziert und begutachtet worden wie von diesen
Journalisten
italienischer Sprache. Leider wissen wir nichts
über die Person des Carlo Arnaldi. Bezeichnend ist jedoch, dass der
Monte
Verità von Anfang an ein positives Echo fand bei Menschen und Medien
anarchistischer Überzeugung, während bürgerliche Blätter diesem
Experiment
skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Vielleicht kann der Artikel
von
Arnaldi auch als ein Anzeichen dafür gewertet werden, dass um 1903 an
der
Westküste der U.S.A. bereits ein Interesse an Naturheilkunde lebendig
war. 3. 'Der arme
Teufel' Besonders
deutlich wird der Rundlauf anarcho-revolutionärer und reformerischer
Ideen
zwischen Deutschland und den U.S.A. an der Biographie des
Deutschamerikaners Robert
Reitzel (1849-1898).
Der in Baden geborene Reitzel war der
Sohn eines
Aufständischen von 1848/49. In den Staaten brachte er es vom bettelnden
Landstreicher zum Pfarrer, wandelte sich dann zum Freidenker und
aufrührerischen Volksredner. 1884 gründete er die deutschsprachige
Zeitschrift 'Der
arme Teufel', ein anarchistisches
Kampfblatt gegen Nationalisten, Militaristen und Puritaner. In der
Tradition
der von Fourier inspirierten Feministin Victoria Woodhull trat er für
Frauenrecht und freie Liebe ein. "Freie Liebe! Freie Wahrheit! Freies
Recht!" forderte er am Grab der Haymarket-Märtyrer vor 150.000
demonstrierenden Arbeitern. Er war mit dem Kreis der 'Jungen' in
Friedrichshagen
befreundet. Sein Blatt setzte sich für Landauer ein; der 'Sozialist'
brachte Artikel von Reitzel.
Nach dessen frühem Tod übernahm Albert Weidner, ein Mitarbeiter
Landauers, den
Titel von Reitzels Zeitschrift für sein geistesverwandtes Blatt in
Deutschland.
Redakteur des Friedrichshagener 'Armen
Teufel' (1902-1904) wurde Erich Mühsam. Nachdem
das Blatt 1904 sein
Erscheinen eingestellt hatte, ging Mühsam nach Ascona. Den
fourieristischen
Kolonien, aus denen eine Victoria Woodhull hervorgegangen war,
entsprach die
fourieristische Kolonie der Gebrüder Gräser. Die Vereinigten Staaten und die
Schweiz - das waren im 19. Jahrhundert
die Zufluchtsländer für Freiheitskämpfer und geschundene Proletarier.
Die in
Deutschland unterdrückte politische Fortentwicklung suchte sich ihre
Freiräume
im republikanisch-demokratischen Ausland: Zwischen dem Haymarket von
Chicago
und der anarchistischen Sektion des Monte Verità gab es daher im
politischen
Sinne keinen trennenden Ozean; beide Orte lagen eng benachbart auf dem selben Kontinent. 4.
Die Naturpropheten Von den Naturärzten und
Naturheilern, die sich noch im Rahmen bürgerlicher Lebensweise
bewegten, sind
zu unterscheiden die Naturprediger oder Naturpropheten, die der
Zivilisation ihrer
Zeit entschiedener den Rücken kehrten und eine radikale persönliche
Umkehr
ebenso forderten wie einen grundsätzlichen kulturellen Wandel. Zu
diesen
gehörten, wie in Deutschland Diefenbach, Guttzeit und Gräser, so in den
U.S.A.
die deutschbürtigen William
Pester
und, mit Abstrichen, Hermann
Sexauer.
Sind sie etwa vom Monte Verità beeinflusst worden oder
gar direkt von Gusto Gräser? Bestimmte Angaben fehlen.
Es finden sich jedoch im
Nachlass von Diefenbach
Briefabschriften vom Mai 1897 an einen gewissen Emil Pester in
Leipzig-Neustadt. Dieser Emil Pester hatte eines der Bücher von
Diefenbach
angefordert, war also offenbar ein Anhänger seiner Ideen. Vermutlich
hatte er
ihn im Jahre 1888 kennen gelernt, als sich Diefenbach und Fidus längere
Zeit zu
einer Kur in der Naturheilanstalt von Louis Kuhne in Leipzig
aufhielten. Da
Wilhelm/William Pester nach Ausweis von Urkunden 1885 in Sachsen
geboren wurde,
dürfte er ein Sohn oder sonstiger Verwandter jenes Diefenbachfreundes
gewesen
sein. Als Einsiedler im Indianer-Reservat wurde er ein Vorbild für die
sogenannten "nature boys"."He was colorful enough of a character
to have a mountain bench named after him. It is logged as
'Hermit's Bench', and appears on topographical maps as that. ... With
his
battered guitar and flowing tresses, he could have been a flower child
of the
sixties." (Fischer 28) Hermann
Sexauer war nach
eigenen
Angaben "come under the influence of the ideas of Tolstoy around the
turn
of the century
when
I translated from the French a pamphlet of his against patriotism.
Therefore I
did not want any more compulsory service neither for me nor for my
offspring
and so I went abroad
again in 1911". Er hatte schon früher jahrelang in
Kalifornien gelebt und war vorher durch die halbe Welt gereist, nun wurden, nach einem
Zwischenaufenthalt in Deutschland, die
Staaten endgültig seine neue Heimat. In Santa Barbara scheint er eine
Vorläufer-Rolle gespielt zu haben für die Health-food-, Hippie- und
Antikriegsbewegung. 5. Der
Fastenlehrer Eine nachweisbare direkte
Verbindung zwischen Monte Verità und Kalifornien ist in der Person des
Fastenlehrers Arnold
Ehret gegeben.
Er zählt zu den Naturheilern, verhielt
sich allerdings
skeptisch zu den "Naturmenschen" des Monte Verità, also zu den
Gebrüdern Gräser, und hielt auch nichts von den genossenschaftlichen
Bestrebungen Oedenkovens. Die Erfahrung lehre, sagt er, nachdem
Oedenkoven
aufgegeben hatte, dass "kommunistische" Unternehmungen zum Scheitern
verurteilt seien, weil sie der (egoistisch-individualistischen) Natur
des
Menschen widersprächen. Er selbst verstand sich auf Selbstreklame, gab
sich in
USA als Professor aus und rühmte sich, in Ascona ein florierendes
Sanatorium
betrieben zu haben. Seine eigene Ernährungslehre war allerdings
erfolgreicher
(und anscheinend wirksamer) als die von Oedenkoven. Nach seiner
Auffassung
liegt die Ursache der meisten Erkrankungen in einer übermässigen
Verschlackung (oder,
wie er sagt: Verschleimung) des Körpers; durch methodisch geleitetes
Fasten
oder eine passende Diät könnten sie geheilt werden. Ehret zeigt kein
ausgesprochenes Interesse an gesellschaftlichen oder kulturellen Fragen
(und
ist insofern kein typischer Monteveritaner), aber auch für ihn steht
die
spirituelle Entwicklung des Menschen im Mittelpunkt. Er war auch ein
Anhänger
des Spiritismus: Auf dem Monte Verità empfing er Botschaften seiner
verstorbenen Geliebten. 6.
Schlussfolgerungen William Pester war sehr
wahrscheinlich ein Diefenbachschüler wie Gräser, wenn auch vermutlich
ein
indirekter. Sexauer war von Tolstoi beeinflusst. Die amerikanische
Natur-heilbewegung leitete sich weitgehend von deutschen Vorläufern ab.
Andererseits floss durch die Schriften von Thoreau, Emerson und
Whitman, durch
Künstler wie die Geschwister Duncan und durch Anarchisten wie Robert
Reitzel,
Johann Most und Emma Goldmann ein Strom von reformerischen und
revolutionären
Anregungen nach Europa zurück. Eine zweite Welle von
deutschen Naturheilern kam Kennedy zufolge in den Dreissigerjahren nach USA. Ob dieser
Zustrom eine Folge der
politischen Zustände in Deutschland gewesen ist, wäre zu untersuchen.
Jedenfalls fanden sich unter den damaligen politischen Emigranten auch
solche aus
dem Umkreis von Gusto Gräser. So der "Biosoph" und Ökologe Ernst
Fuhrmann und dessen Anhänger, der Schriftsteller und Grossfreund Franz
Jung,
dazu der tolstoianisch inspirierte Schriftsteller Oskar Maria Graf und
der
Wandervogelführer Karl Otto Paetel. Eben dieser Paetel, der früher sich
für
Gräser begeistert hatte, förderte jetzt die keimende amerikanische
Jugendbewegung, u. a. durch eine Anthologie der Beat-Poeten. Der
indirekte
Gräser-Schüler Colin Wilson setzte nach dem Krieg durch sein 'Outsider'-Buch
die amerikanische
Hesse-Welle in Gang. Zur gleichen Zeit begann die breitere Wirkung von
D. H.
Lawrence und Henry Miller (und damit indirekt von Otto Gross). In der folgenden
Generation weckte die amerikanische Alternativbewegung der 60er und
70erjahre,
die aus diesen und anderen Wurzeln erwachsen war, eine entsprechende
Bewegung
in Europa und mit ihr die Erinnerung an ihre frühen Vorläufer um die
Jahrhundertwende. Die hier angesprochenen
Reformbewegungen - Anarchismus, Antimilitarismus, Lebensreform,
Naturheil- und
Umweltbewegung - wollten nationale,
religiöse und lebenspraktische Vorurteile und Gewohnheiten überwinden.
Sie
fanden deshalb sehr schnell, zumal sie in der Lage einer hart
bedrängten
winzigen Minderheit waren, zur Verständigung über Grenzen und räumliche
Entfernungen hinweg. Unausgesprochen und ohne jede Organisation gab es
in der
ersten wie in der zweiten und dritten Periode eine solidarische
"Internationale der Alternativen". 7. Von Reitzel
zu Gross Otto Gross hat, nach
allem, was wir wissen, den Anarchismus durch Mühsam in Ascona
kennengelernt.
Mühsam war aber ein Schüler von Landauer und vielleicht mehr noch von
dessen
befreundetem Kollegen Robert Reitzel. Er hat, zusammen mit Albert
Weidner, nach
dem Tod des Deutschamerikaners dessen Zeitschrift in Friedrichshagen
wieder
aufleben lassen - unter dem selben
Titel und im selben
Geist. Im Unterschied zu Landauer war Reitzel Hedonist, ein Verfechter
der
freien Liebe und auch der Freikörperkultur. "Seine Vorträge behandelten
die klassischen Themen der Freidenker, die Feuerbestattung, das Recht
auf
Freitod und die Freikörperkultur" (Heider 44). Als Diefenbach
verurteilt
wurde, weil er seinen Sohn Helios hatte nackt herumlaufen lassen,
bemerkte er:
"Dabei hängt in
Bayern alle Feldweg
lang ein fast nackter Christus" (zit. n. Heider
69). Für die
Befreiung der Frau aus den Zwängen des Partiarchats kämpfte Reitzel mit
Leidenschaft: Der gesunde Mann muss von Haus aus Revolutionär sein. Mag seine Erziehung eine noch so autoritäre sein, das Bild der Geschichte, das man ihm nicht vorenthalten kann, zeigt ihm in den erhabensten Momenten die Verneinung der Autorität ... Das Weib aber wurde in allen bisherigen Religionen und Gesellschaftsformen zur Niedertracht erzogen. ... Die Angst um den Besitz des Weibes, um die Tyrannis über dieses Sklaventum, das noch keine Zivilisation aufgehoben hat, ist es, welches die Erziehung des Weibes diktiert. ... Man lässt sich schliesslich allerlei Revolutionen gefallen, ... aber wenn es den Weibern einfallen würde, gegen die altheilige Institution des Küssens und Prügelns, des Poussierens und Tyrannisierens zu rebellieren, das wäre doch eine zu ungemütliche Revolution! ... Wenn sie [die Frauen] die Berechtigung zum vollen Lebensgenuss erkannt haben, blüht auch in ihnen der Mut auf, Alles zu verlangen: Zerstörung aller Schranken, welche der freien Entwicklung des Individuums im Wege stehen, die kein anderes Gesetz kennt als die Gerechtigkeit für Alle. (Zit. n. Heider 141-143) Reitzel kämpfte gegen
Sexualverbot und Puritanismus, für Sexualaufklärung, Geburtenverhütung,
Frauenrecht, freie Liebe. "Gefängnisse sollen durch Krankenhäuser
ersetzt
werden, Bordelle und Klöster durch 'Schulen der Liebe' und Kirchen
durch
'Gymnasien im wörtlichen Sinn', d. h. durch FKK-Institute für beide
Geschlechter"
(Heider 71). Er schätzte die Feministin Victoria Woodhull, die aus
ihrer
Praxiserfahrung in einer fourieristischen Kommune heraus für die freie Liebe focht,
und war befreundet
mit Emma Goldmann, die wegen ihres freizügigen Lebenswandels als
anarchistische
"Hetäre" berühmt und berüchtigt war. Die extreme Prüderie und
Schamhaftigkeit seiner Epoche führte er auf die herrschende religiöse
Tradition
zurück. "Als Hauptursache der eigentlichen Prüderie aber, des
Bedürfnisses
nach mysteriöser Verhüllung und Verschleierung des nackten Körpers und
bestimmter natürlicher Vorgänge des menschlichen Lebens, führt er die
antimaterielle Grundhaltung des Christentums an. Allen anderen
Religionen voran
habe die christliche den Körper mit jenem Mysterium umgeben, das zur
Quelle des
Sexualverbots geworden sei" (Heider 69). Als einer der ersten in
Amerika
trat er für die Homosexuellen ein, schrieb eine begeisterte Besprechung
der 'Grashalme'
von Whitman, dessen Gedichte
damals als homosexuelle Texte galten. Kurz: Reitzel und mit ihm
Freidenker und Anarchisten seiner Zeit haben ein Vierteljahrhundert vor
Gross
das schon praktiziert und gelehrt, was der Analytiker dann in die Höhe
einer
Theorie erheben sollte. Reitzels Anarchismus bedeutete wesentlich
sexuelle
Befreiung und Frauenbefreiung, und zwar durch Kritik der Religion und
Auflösung
ihrer psychischen Mechanismen. Wie seine Artikel und Gedichte bezeugen,
hat
Mühsam diese libertär-libertinistischen Ideen voll rezipiert, sie
standen ihm
näher als der bildungsbürgerliche Kulturanarchismus Landauers. Wenn ein denkfähiger
Analytiker auf diesen hedonistischen Anarchismus traf, dann bedurfte es
keines
grossen Aufwandes, dann musste - zumal
wenn die Kenntnis Bachofens hinzukam -
geradezu zwangsläufig eine Theorie von der Art der
grossianischen
entstehen. Seine Lehre ist nichts anderes als das logische Junktim von
Psychoanalyse und libertärer Ideologie. Das entscheidende Moment für
die
Entstehung seiner Theorie war also Grossens Begegnung mit den
Anarchisten von
Ascona: mit Mühsam, Nohl, Friedeberg und den Gebrüdern Gräser. 8. Die
Spinne im Netz, die Tiefe im Trichter Im September 1898 wurde
der Anarchist Giuseppe
Ciancabilla
(1871-1904) aus der Schweiz ausgewiesen. Die Agitationsschriften, an
denen er
beteiligt gewesen war, wurden unterdrückt. Er ging nach Amerika und gab
in San
Francisco die Zeitschrift 'La
Protesta
Umana' heraus. Es ereignete sich ein Vorgang,
der für polizeilich
unterdrückte Blätter damals wie heute charakteristisch ist: Der
Herstellungsort
verlagert sich ins freiere Ausland, von dort fliessen die
Druckerzeugnisse als
propagandistische Schmuggelware in die unfreie Heimat zurück. So
verhielt es
sich mit tolstoianischen und kommunistischen Blättern, so mit der
anarchistischen 'Freiheit'
von
Johann Most, die erst nach London, dann nach New York verlegt wurde, so
mit der
ebenfalls anarchistischen
'Autonomie'
und anderen mehr. Wir dürfen also davon
ausgehen, dass der Artikel von Arnaldi weniger für die Leser an der
amerikanischen Westküste als
für die
Gesinnungsgenossen in der Heimat gedacht war, für die Tessiner und für
die
italienischen Wanderarbeiter, die in der Schweiz den weitaus
überwiegenden
Anteil der anarchistischen Bewegung ausmachten. Möglicherweise war
Arnaldi
nicht Italo-Amerikaner, sondern ein Tessiner, der die Verbindung zu
einem
vertriebenen Landsmann nutzte, um seine Gesinnungsgenossen in der
Schweiz
anzusprechen. Dies ist ihm auch bis ins bürgerliche Lager hinein
gelungen, denn
vermutlich auf seinen Artikel hin entsandten der 'Corriere delle sera'
und die 'Gazzetta
Ticinese' noch im selben Jahr eigene
Korrespondenten zum Monte Verità. Der Vorgang erhellt aber
nicht nur die nahe Verbindung Ascona-San Francisco, sondern ist typisch
für die
internationale Vernetzung der literarischen und politischen Avantgarde
überhaupt. Da innerhalb des politischen Spektrums die Anarchisten das
radikalste und darum am meisten verfolgte Element ausmachten, waren sie
umso
mehr in der Welt verteilt und darum umso mehr auf Zusammenhalt
angewiesen und
speziell auf das Mittel der literarischen Kommunikation. Die weit
verstreuten
anarchistischen Ortsgruppen umfassten nur selten mehr als 20, in der
Regel
sogar nur 4 bis 6 Personen. Eine Organisation der Anarchisten gab es
kaum, sie
sammelten sich um bestimmte Blätter als sogenannte
"Zeitungsparteien". Von daher kam ihren Zeitschriften zentrale
Bedeutung zu. Zugleich aber die Möglichkeit sowohl wie die Aufgabe, die
progressiven und emanzipatorischen Bestrebungen diesseits und jenseits
des
Ozeans zusammenzuführen. 'Der
Arme Teufel'
von Robert Reitzel hat diese Aufgabe musterhaft erfüllt. In seinem Gedenkartikel
für Reitzel im 'Sozialist'
vom 4.
Mai 1898 hat Gustav Landauer diese vermittelnde Rolle hervorgehoben: Er vermittelte den Deutsch-Amerikanern die deutsche Literatur: auf Goethe, Heine, Scheffel, Gottfried Keller, Storm, Vischer, hat er immer wieder verwiesen. ... Henckell, Mackay und so viele andere, später vor allem Nietzsche, führte er in Amerika ein. Uns vermittelte er die Bekanntschaft mit der amerikanischen Literatur: auf Emerson, Henry David Thoreau, Walt Whitman verwies er mit Nachdruck. Und auch die grosse Arme Teufel-Familie vermittelte die verschiedensten Elemente: alte Korpsburschen, der katholische Pfarrer Hans-Jakob, der Gotteslästerer Panizza, der Freidenker Rüdebusch, der Demokrat [Michael Georg] Conrad, der Kommunist [Johann] Most, der Individualist Tucker, Gelehrte, Kaufleute, Arbeiter, alle kamen im "Armen Teufel" friedlich zusammen. (In Heider 191f.) "Reitzel", sagt
Landauer, "der Sprachkünstler, Reitzel, der Lebenskünstler, Reitzel,
der
Rebell, war ein Einziger, der so nicht wiederkommen wird" (ebd. 191). Der geistige Boden war
vorbereitet, als Monte Verità gegründet wurde. Was fehlte, war die
Verwirklichung. Ascona konnte deshalb zum Zentrum und Sammelpunkt
werden, weil
die Siedler verwirklichten, was bisher nur Phantasie, Theorie und
Hoffnung
gewesen war. Ascona konnte alle freiheitlich-sozialen und
freidenkerischen
Bestrebungen der Zeit an sich ziehen und zusammenfassen. Dies umso mehr
als die
jesuanisch-franziskanische Lebens-weise von Gusto Gräser diesen
Tendenzen eine
religiöse Tiefendimension gab, die sie bisher nicht besessen hatten.
Nach
taoistischer Lehre fliessen alle Lebensströme zu dem, der sich am
tiefsten
stellt, der sich "unten hält". "Von seinem Heimkreis",
heisst es in Gräsers Tao-Dichtung, "geht ein Segen aus". (Gräser:
Tao - das heilende Geheimnis, S.61 und 54) Gordon Kennedy: Children
of the Sun. A
Pictorial Anthology From
Germany to California 1883-1949 Nivaria
Press. Ojai,
California U.S.A. 2003 LIFE-REFORM It
was Germany where the iron cage weighed
heaviest. As in nature the antidote to a poisonous plant often exists
within
the same eco-system. Many alternative ideas originated in German
speaking
countries: homeopathy, vitamin therapy, hydrotherapy, helio-therapy,
Julius
Hensel’s crushed rock fertilizer, nature cure, mucusless diet and
anthroposophy. (8) … Even
Mahatma Gandhi was deeply inspired by the works
of Adolf Just and Louis Kuhne, and believed that
”it is our duty to read them.” The
four significant social reform groups
of this era were: Wandervogel
(free
spirit/migrating bird), Naturmenschen
(natural men), Lebensreform
(life-reform) and Monte
Verità (mountain of truth), the community at
Ascona,
Switzerland; a pre-cursor to Esalen in Big Sur, California. … This
cultural Renaissance in Germany and
Switzerland showed its greatest influence up until the First World War
in 1914.
Aspects of it lasted through the 1920’s and 30’s, and even until
the present time in Europe. (9f.)
Hermann
Hesse came to Ascona in 1907, and
was fascinated by Graser. While living in the village of Gaienhofen he
became
friends with Gusto, and saw in ihm a man who had done what he had
dreamed of doing;
living the life of the footlose pilgrim he had always wanted to be. (41) In
1908 he published Among
the Rocks – Notes of a Nature Man,
wherein he describes how le lived like a natural man and hermit, going
naked in
the woods, sleeping on the ground or in a hut made of brushes and
leaves,
fasting for days and weeks or living from water, berries and the fruits
of the
trees, trying in this way to get near to the heart of nature and to
gain
insight. All of this in following the
example of his teacher
Gusto Graser who showed him the way. (54) … In
1916 he suffered from the stress of the war, and
was further burdened by his child’s illness, father’s death and
failing marriage. He returned to Ascona and to Gusto Graser and now
underwent a
fundamental change in his convictions and his view of life as we know
from his
novel Demian
(1919). Once more
Graser became his friend and teacher, but now in a less literal and
more
philosophical and spiritual way. After having suffered for a number of
years
being separated from Graser and his own deeper longings, he was now more ripe to hear and accept the
message of his friend. In
1919 he began to work on Siddharta,
which was published in 1922.
The guru-disciple relationship within the story was a mirror of Hesse’s
own association with Graser his teacher. (54) … Aldous
Huxley once revealed that his own
spiritual and intellectual development in England amd California
followed the
ideal of Hesse in Germany. Some of his best sellers like Brave New World,
Doors of
Perception and Island
were parallels of Hesse’s
works, though still unique unto them selves. Beginning
in the 1950’s with the Beat
Generation, Hesse’s novels became immensely popular in the
English-speaking world, where their criticism of bourgeois values and
interest in
Eastern spirituality and Jungian psychology echoed the emerging revolt
against
the unreflected life. In
the 1960’s Hermann became the
novelist of the decade, with Demian, Siddharta
and Steppenwolf
selling in the millions and
capturing and shaping an American audience. He was posthumously
idolized by
Timothy Leary and many of the keyplayers in the American youth
movements of
that era who had divorced themselves from the social needs of
mainstream
Western thought and cultivated their own “Glass Bead Games” in
autonomous retreats. Hermann
Hesse died on August 9, 1962, but
legitimate history will always recount him as the most important link
between
the European counter-culture of his youth, and their latter-day
descendant in
America. (55) KARL WILHELM DIEFENBACH …
From 1897-1899 he reformed his
community on the outskirts of Vienna at Himmelhof (Heaven’s Inn) this
time joined by a 19 year old Gusto Graser, who later left in protest.
Graser
eventually helped to build a similar community near the vineyards of
Ascona,
Switzerland, Monte Verita. By
late 1899 Diefenbach again went bankrupt
and fled to Triest, then finally to the isle of Capri in he
Mediterranean Sea. On Capri he became succesful as a painter and
respected as a
curious eccentric. He always wanted to go back to Germany but all his
attempts
were met with failure. He lived the rest of his life on Capri until he
died in
1913. He
was an inspiration and teacher for both
Fidus and Gusto Graser. In
1975 a Diefenbach Museum was founded by
the Italian state in the ancient covenant of Certosa, on Capri. In 1988
another
Diefenbach Museum opened in the castle of his home-town Hadamar, in
Germany.
(18)
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