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Vom Monte Verità nach Santa Barbara
Wurzeln und Wege der amerikanischen Alternativbewegung





Children of the Sun Nature Doctors





Gordon Kennedy, Autor von "Children of the Sun" lebt auf einer kalifornischen Biofarm.



Was verbindet Kafkas Erzählung 'Der Hungerkünstler' mit dem Monte Verità, und was den Monte Verità mit dem Weißen Haus?

Das verbindende Glied ist ein ehemaliger Realschullehrer aus St. Georgen im Schwarzwald, der am 26. Juni 1909 sich in Köln zu einem 51tägigen Fastenversuch einschließen ließ. In einer Glaszelle zur öffentlichen Besichtigung ausgestellt, verbrachte er 49 Tage ohne Nahrung und stellte damit einen  neuen Weltrekord auf. Er kam vom Monte Verità, wo er als "diätetischer Gesundungslehrer" auftrat; in Locarno will er ein eigenes Fastensanatorium unterhalten haben. In seinen Erinnerungen erweckt er allerdings den Eindruck, der Monte Verità sei sein eigenes Unternehmen gewesen, wie denn ein großsprecherischer Zug auch sonst in seinen Äußerungen und seinem Auftreten nicht zu übersehen ist. Hermann Hesse, der sich mit ihm vor der Naturheilanstalt Oedenkovens auf dem Berg fotografieren ließ, erwähnt in seiner Monte Verità-Satire 'Doktor Knölges Ende' die "Vorträge eines früheren badischen Lehrers namens Klauber, der in reinem Alemannisch die Völker der Erde über die Geschehnisse des Landes Atlantis unterrichtete". Er kann damit nur jenen Hungerkünstler gemeint haben, der sich als solcher Num Nafar nannte, in Wirklichkeit aber Arnold Ehret hieß und ein durchaus ernstzunehmender Lehrer des Heilfastens und einer gesunden Ernährungsweise war. Ehret kam nach 1914 in den USA zu Ruhm und Erfolg und ist dort bis heute ein Bestsellerautor in Ernährungsfragen geblieben. Seine Bücher werden von einem eigenen Ehret-Verlag in Großauflagen vertrieben. Zu seinen dankbaren Verehrern bekannte sich auch die rebellische Tochter des amerikanischen Präsidenten Reagan.

Neben Ehret gab es noch eine Reihe radikalerer Lebensreformer oder "Naturmenschen", die seit etwa 1906 aus Deutschland in die Vereinigten Staaten kamen und dort zu Vorläufern und Vorkämpfern der späteren Alternativbewegung wurden. Ihr Lebensstil und ihre Anschauungen entsprachen so auffallend denen von Gräser und Diefenbach, daß ein Zusammenhang angenommen werden muß. Sie sind oft deshalb aus Deutschland ausgewandert, weil sie sich dem Zwang zum Militärdienst entziehen wollten. Mit ihren Health-Food-Läden und ihren Baumhäusern, ihren Straßenpredigten und Flugschriften bildeten sie an der amerikanischen Ostküste die Keimzelle einer Lebens- und Kultur-reform, die seit den Siebzigerjahren als "Alternativ-" und "New Age"-Bewegung auf den europäischen Kontinent zurückkehrte.

Diese Zusammenhänge wurde von dem Kalifornier Gordon Kennedy in den letzten dreißig Jahren erforscht und inzwischen vorgestellt in seinem Buch ’Children of the Sun. A Pictorial Anthology. >From Germany to California. 1883-1949’. (Das Buch enthält 144 Abbildungen, darunter 13 zu Gusto Gräser; Auszüge in englischer Sprache am Ende dieser Einführung). Seine These, dass die amerikanische Alternativbewegung von deutschen Einwanderern um und nach 1900 angestoßen wurde, wird durch andere Quellen bestätigt und ergänzt.

 

1. Die Naturärzte

Das Buch 'Nature Doctors. Pioneers in Naturopathic Medicine' von Friedhelm Kirchfeld und Wade Boyle erschien 1994 in Portland, Oregon. In dieser gründlichen und gewissenhaften Darstellung nehmen die deutschen oder aus Deutschland stammenden Pioniere der Naturheilbewegung mehr als drei Viertel des Umfangs in Beschlag. Es heisst dort:

Nature cure, consisting of hydrotherapy, air and light baths, a vegetarian diet, and herbal remedies, originated in Europe with the work of Priessnitz, Rikli, Kneipp and others. (185)

The only significant works about the history of nature cure were published in German. This is not surprising since the nature cure movement originated and still enjoys its greatest popularity in German-speaking countries. (X)

Der als der amerikanische "Father of Naturopathy" apostrophierte Benedict Lust (1872-1945) stammte aus Michelbach in Baden und emigirierte 1892 in die U.S.A. Als Todkranker, von den Ärzten aufgegeben, entschloss er sich nach Deutschland zurück-zukehren, ging zu Kneipp nach Wörishofen, genas dort und kam 1896 als offizieller Vertreter des Wasserdoktors in die Staaten zurück. "This was the start of naturopathy in America". (185)

Er gründete ein amerikanisches "Yungborn" in der Nähe von Butler, New Jersey. "Around the turn of the century, other pioneers, most of them also of German origin, founded similar institutions." (195)

Näheres und Ausführliches ist in dem genannten Buche nachzulesen.


2. Die Naturmenschen

Am 20. August 1903 erschien in Francisco, in der italienischsprachigen anarchistischen Zeitschrift 'La Protesta Umana', ein Aufsatz von einem gewissen Carlo Arnaldi über die Naturmenschen des Monte Verità. Es war dies weltweit die erste grössere Veröffentlichung über diese Siedlung überhaupt. Arnaldi, offensichtlich ein überzeugter Anarchist, vermutlich Arzt von Beruf und jedenfalls Anhänger der Naturheilkunde, hat im Sommer 1903 den Monte Verità besucht und sich über die dortige Naturheilanstalt von Oedenkoven ausführlich informieren lassen. Sein überaus positiver Bericht war offenbar Anlass für tessiner und italienische Zeitungen, ihrerseits Reporter zu entsenden. So erschien im Oktober 1903 ein Artikel im 'Corriere della sera' und ein zweiter 1904 in der 'Gazzetta Ticinese'. Einen dritten Bericht verfasste ebenfalls 1903 der locarneser Schriftsteller Angelo Nessi. (Diese drei Texte sind abgedruckt in der 'Antologia di Cronaca del Monte Verità', 1992 herausgegeben von Giò Rezzonico im Verlag des Eco di Locarno.) Damit war für die Siedlung und vor allem für die Kuranstalt ein erster Durchbruch in die Öffentlichkeit geschafft.

Allerdings zeichneten die kontinentalen Blätter im Unterschied zu Arnaldi ein teilweise scharf ironisches und jedenfalls kritisches Bild des Oedenkovenschen Unternehmens. Durch die doppelte und mehrfache, einerseits positive, andererseits negative Beleuchtung der selben Szene zum etwa selben Zeitpunkt ergibt sich ein ausgesprochen plastisches, anschauliches und auch zuverlässiges Bild der damaligen Verhältnisse am Ort. Nie wieder in ihrer kurzen Geschichte ist die Kuranstalt derart gründlich inspiziert und begutachtet worden wie von diesen Journalisten italienischer Sprache.

Leider wissen wir nichts über die Person des Carlo Arnaldi. Bezeichnend ist jedoch, dass der Monte Verità von Anfang an ein positives Echo fand bei Menschen und Medien anarchistischer Überzeugung, während bürgerliche Blätter diesem Experiment skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Vielleicht kann der Artikel von Arnaldi auch als ein Anzeichen dafür gewertet werden, dass um 1903 an der Westküste der U.S.A. bereits ein Interesse an Naturheilkunde lebendig war.

 

3. 'Der arme Teufel'

Besonders deutlich wird der Rundlauf anarcho-revolutionärer und reformerischer Ideen zwischen Deutschland und den U.S.A. an der Biographie des Deutschamerikaners Robert Reitzel (1849-1898). Der in Baden geborene Reitzel war der Sohn eines Aufständischen von 1848/49. In den Staaten brachte er es vom bettelnden Landstreicher zum Pfarrer, wandelte sich dann zum Freidenker und aufrührerischen Volksredner. 1884 gründete er die deutschsprachige Zeitschrift 'Der arme Teufel', ein anarchistisches Kampfblatt gegen Nationalisten, Militaristen und Puritaner. In der Tradition der von Fourier inspirierten Feministin Victoria Woodhull trat er für Frauenrecht und freie Liebe ein. "Freie Liebe! Freie Wahrheit! Freies Recht!" forderte er am Grab der Haymarket-Märtyrer vor 150.000 demonstrierenden Arbeitern. Er war mit dem Kreis der 'Jungen' in Friedrichshagen befreundet. Sein Blatt setzte sich für Landauer ein; der 'Sozialist' brachte Artikel von Reitzel. Nach dessen frühem Tod übernahm Albert Weidner, ein Mitarbeiter Landauers, den Titel von Reitzels Zeitschrift für sein geistesverwandtes Blatt in Deutschland. Redakteur des Friedrichshagener 'Armen Teufel' (1902-1904) wurde Erich Mühsam. Nachdem das Blatt 1904 sein Erscheinen eingestellt hatte, ging Mühsam nach Ascona. Den fourieristischen Kolonien, aus denen eine Victoria Woodhull hervorgegangen war, entsprach die fourieristische Kolonie der Gebrüder Gräser.

Die Vereinigten Staaten und die Schweiz - das waren im 19. Jahrhundert die Zufluchtsländer für Freiheitskämpfer und geschundene Proletarier. Die in Deutschland unterdrückte politische Fortentwicklung suchte sich ihre Freiräume im republikanisch-demokratischen Ausland: Zwischen dem Haymarket von Chicago und der anarchistischen Sektion des Monte Verità gab es daher im politischen Sinne keinen trennenden Ozean; beide Orte lagen eng benachbart auf dem selben Kontinent.

 

4. Die Naturpropheten

Von den Naturärzten und Naturheilern, die sich noch im Rahmen bürgerlicher Lebensweise bewegten, sind zu unterscheiden die Naturprediger oder Naturpropheten, die der Zivilisation ihrer Zeit entschiedener den Rücken kehrten und eine radikale persönliche Umkehr ebenso forderten wie einen grundsätzlichen kulturellen Wandel. Zu diesen gehörten, wie in Deutschland Diefenbach, Guttzeit und Gräser, so in den U.S.A. die deutschbürtigen William Pester und, mit Abstrichen, Hermann Sexauer. Sind sie etwa vom Monte Verità beeinflusst worden oder  gar direkt von Gusto Gräser?

Bestimmte Angaben fehlen. Es finden sich jedoch im Nachlass von Diefenbach Briefabschriften vom Mai 1897 an einen gewissen Emil Pester in Leipzig-Neustadt. Dieser Emil Pester hatte eines der Bücher von Diefenbach angefordert, war also offenbar ein Anhänger seiner Ideen. Vermutlich hatte er ihn im Jahre 1888 kennen gelernt, als sich Diefenbach und Fidus längere Zeit zu einer Kur in der Naturheilanstalt von Louis Kuhne in Leipzig aufhielten. Da Wilhelm/William Pester nach Ausweis von Urkunden 1885 in Sachsen geboren wurde, dürfte er ein Sohn oder sonstiger Verwandter jenes Diefenbachfreundes gewesen sein. Als Einsiedler im Indianer-Reservat wurde er ein Vorbild für die sogenannten "nature boys"."He was colorful enough of a character to have a mountain bench named after him. It is logged as 'Hermit's Bench', and appears on topographical maps as that. ... With his battered guitar and flowing tresses, he could have been a flower child of the sixties." (Fischer 28)

Hermann Sexauer war nach eigenen Angaben "come under the influence of the ideas of Tolstoy around the turn of the century  when I translated from the French a pamphlet of his against patriotism. Therefore I did not want any more compulsory service neither for me nor for my offspring and so I went abroad again in 1911". Er hatte schon früher jahrelang in Kalifornien gelebt und war vorher durch die halbe Welt gereist, nun wurden, nach einem Zwischenaufenthalt in Deutschland, die Staaten endgültig seine neue Heimat. In Santa Barbara scheint er eine Vorläufer-Rolle gespielt zu haben für die Health-food-, Hippie- und Antikriegsbewegung.

5. Der Fastenlehrer

Eine nachweisbare direkte Verbindung zwischen Monte Verità und Kalifornien ist in der Person des Fastenlehrers Arnold Ehret gegeben. Er zählt zu den Naturheilern, verhielt sich allerdings skeptisch zu den "Naturmenschen" des Monte Verità, also zu den Gebrüdern Gräser, und hielt auch nichts von den genossenschaftlichen Bestrebungen Oedenkovens. Die Erfahrung lehre, sagt er, nachdem Oedenkoven aufgegeben hatte, dass "kommunistische" Unternehmungen zum Scheitern verurteilt seien, weil sie der (egoistisch-individualistischen) Natur des Menschen widersprächen. Er selbst verstand sich auf Selbstreklame, gab sich in USA als Professor aus und rühmte sich, in Ascona ein florierendes Sanatorium betrieben zu haben. Seine eigene Ernährungslehre war allerdings erfolgreicher (und anscheinend wirksamer) als die von Oedenkoven. Nach seiner Auffassung liegt die Ursache der meisten Erkrankungen in einer übermässigen Verschlackung (oder, wie er sagt: Verschleimung) des Körpers; durch methodisch geleitetes Fasten oder eine passende Diät könnten sie geheilt werden. Ehret zeigt kein ausgesprochenes Interesse an gesellschaftlichen oder kulturellen Fragen (und ist insofern kein typischer Monteveritaner), aber auch für ihn steht die spirituelle Entwicklung des Menschen im Mittelpunkt. Er war auch ein Anhänger des Spiritismus: Auf dem Monte Verità empfing er Botschaften seiner verstorbenen Geliebten.

6. Schlussfolgerungen

William Pester war sehr wahrscheinlich ein Diefenbachschüler wie Gräser, wenn auch vermutlich ein indirekter. Sexauer war von Tolstoi beeinflusst. Die amerikanische Natur-heilbewegung leitete sich weitgehend von deutschen Vorläufern ab. Andererseits floss durch die Schriften von Thoreau, Emerson und Whitman, durch Künstler wie die Geschwister Duncan und durch Anarchisten wie Robert Reitzel, Johann Most und Emma Goldmann ein Strom von reformerischen und revolutionären Anregungen nach Europa zurück.

Eine zweite Welle von deutschen Naturheilern kam Kennedy zufolge in den Dreissigerjahren  nach USA. Ob dieser Zustrom eine Folge der politischen Zustände in Deutschland gewesen ist, wäre zu untersuchen. Jedenfalls fanden sich unter den damaligen politischen Emigranten auch solche aus dem Umkreis von Gusto Gräser. So der "Biosoph" und Ökologe Ernst Fuhrmann und dessen Anhänger, der Schriftsteller und Grossfreund Franz Jung, dazu der tolstoianisch inspirierte Schriftsteller Oskar Maria Graf und der Wandervogelführer Karl Otto Paetel. Eben dieser Paetel, der früher sich für Gräser begeistert hatte, förderte jetzt die keimende amerikanische Jugendbewegung, u. a. durch eine Anthologie der Beat-Poeten. Der indirekte Gräser-Schüler Colin Wilson setzte nach dem Krieg durch sein 'Outsider'-Buch die amerikanische Hesse-Welle in Gang. Zur gleichen Zeit begann die breitere Wirkung von D. H. Lawrence und Henry Miller (und damit indirekt von Otto Gross).

In der folgenden Generation weckte die amerikanische Alternativbewegung der 60er und 70erjahre, die aus diesen und anderen Wurzeln erwachsen war, eine entsprechende Bewegung in Europa und mit ihr die Erinnerung an ihre frühen Vorläufer um die Jahrhundertwende.

Die hier angesprochenen Reformbewegungen - Anarchismus, Antimilitarismus, Lebensreform, Naturheil-  und Umweltbewegung - wollten nationale, religiöse und lebenspraktische Vorurteile und Gewohnheiten überwinden. Sie fanden deshalb sehr schnell, zumal sie in der Lage einer hart bedrängten winzigen Minderheit waren, zur Verständigung über Grenzen und räumliche Entfernungen hinweg. Unausgesprochen und ohne jede Organisation gab es in der ersten wie in der zweiten und dritten Periode eine solidarische "Internationale der Alternativen".

7. Von Reitzel zu Gross

Otto Gross hat, nach allem, was wir wissen, den Anarchismus durch Mühsam in Ascona kennengelernt. Mühsam war aber ein Schüler von Landauer und vielleicht mehr noch von dessen befreundetem Kollegen Robert Reitzel. Er hat, zusammen mit Albert Weidner, nach dem Tod des Deutschamerikaners dessen Zeitschrift in Friedrichshagen wieder aufleben lassen - unter dem selben Titel und im selben Geist. Im Unterschied zu Landauer war Reitzel Hedonist, ein Verfechter der freien Liebe und auch der Freikörperkultur. "Seine Vorträge behandelten die klassischen Themen der Freidenker, die Feuerbestattung, das Recht auf Freitod und die Freikörperkultur" (Heider 44). Als Diefenbach verurteilt wurde, weil er seinen Sohn Helios hatte nackt herumlaufen lassen, bemerkte er: "Dabei hängt in Bayern alle Feldweg lang ein fast nackter Christus" (zit. n. Heider 69). Für die Befreiung der Frau aus den Zwängen des Partiarchats kämpfte Reitzel mit Leidenschaft:

Der gesunde Mann muss von Haus aus Revolutionär sein. Mag seine Erziehung eine noch so autoritäre sein, das Bild der Geschichte, das man ihm nicht vorenthalten kann, zeigt ihm in den erhabensten Momenten die Verneinung der Autorität ... Das Weib aber wurde in allen bisherigen Religionen und Gesellschaftsformen zur Niedertracht erzogen. ... Die Angst um den Besitz des Weibes, um die Tyrannis über dieses Sklaventum, das noch keine Zivilisation aufgehoben hat, ist es, welches die Erziehung des Weibes diktiert. ... Man lässt sich schliesslich allerlei Revolutionen gefallen, ... aber wenn es den Weibern einfallen würde, gegen die altheilige Institution des Küssens und Prügelns, des Poussierens und Tyrannisierens zu rebellieren, das wäre doch eine zu ungemütliche Revolution! ... Wenn sie [die Frauen] die Berechtigung zum vollen Lebensgenuss erkannt haben, blüht auch in ihnen der Mut auf, Alles zu verlangen: Zerstörung aller Schranken, welche der freien Entwicklung des Individuums im Wege stehen, die kein anderes Gesetz kennt als die Gerechtigkeit für Alle. (Zit. n. Heider 141-143)

Reitzel kämpfte gegen Sexualverbot und Puritanismus, für Sexualaufklärung, Geburtenverhütung, Frauenrecht, freie Liebe. "Gefängnisse sollen durch Krankenhäuser ersetzt werden, Bordelle und Klöster durch 'Schulen der Liebe' und Kirchen durch 'Gymnasien im wörtlichen Sinn', d. h. durch FKK-Institute für beide Geschlechter" (Heider 71). Er schätzte die Feministin Victoria Woodhull, die aus ihrer Praxiserfahrung in einer fourieristischen Kommune heraus  für die freie Liebe focht, und war befreundet mit Emma Goldmann, die wegen ihres freizügigen Lebenswandels als anarchistische "Hetäre" berühmt und berüchtigt war. Die extreme Prüderie und Schamhaftigkeit seiner Epoche führte er auf die herrschende religiöse Tradition zurück. "Als Hauptursache der eigentlichen Prüderie aber, des Bedürfnisses nach mysteriöser Verhüllung und Verschleierung des nackten Körpers und bestimmter natürlicher Vorgänge des menschlichen Lebens, führt er die antimaterielle Grundhaltung des Christentums an. Allen anderen Religionen voran habe die christliche den Körper mit jenem Mysterium umgeben, das zur Quelle des Sexualverbots geworden sei" (Heider 69). Als einer der ersten in Amerika trat er für die Homosexuellen ein, schrieb eine begeisterte Besprechung der 'Grashalme' von Whitman, dessen Gedichte damals als homosexuelle Texte galten.

Kurz: Reitzel und mit ihm Freidenker und Anarchisten seiner Zeit haben ein Vierteljahrhundert vor Gross das schon praktiziert und gelehrt, was der Analytiker dann in die Höhe einer Theorie erheben sollte. Reitzels Anarchismus bedeutete wesentlich sexuelle Befreiung und Frauenbefreiung, und zwar durch Kritik der Religion und Auflösung ihrer psychischen Mechanismen. Wie seine Artikel und Gedichte bezeugen, hat Mühsam diese libertär-libertinistischen Ideen voll rezipiert, sie standen ihm näher als der bildungsbürgerliche Kulturanarchismus Landauers.

Wenn ein denkfähiger Analytiker auf diesen hedonistischen Anarchismus traf, dann bedurfte es keines grossen Aufwandes, dann musste -  zumal wenn die Kenntnis Bachofens hinzukam -  geradezu zwangsläufig eine Theorie von der Art der grossianischen entstehen. Seine Lehre ist nichts anderes als das logische Junktim von Psychoanalyse und libertärer Ideologie. Das entscheidende Moment für die Entstehung seiner Theorie war also Grossens Begegnung mit den Anarchisten von Ascona: mit Mühsam, Nohl, Friedeberg und den Gebrüdern Gräser.

8. Die Spinne im Netz, die Tiefe im Trichter

Im September 1898 wurde der Anarchist Giuseppe Ciancabilla (1871-1904) aus der Schweiz ausgewiesen. Die Agitationsschriften, an denen er beteiligt gewesen war, wurden unterdrückt. Er ging nach Amerika und gab in San Francisco die Zeitschrift 'La Protesta Umana' heraus. Es ereignete sich ein Vorgang, der für polizeilich unterdrückte Blätter damals wie heute charakteristisch ist: Der Herstellungsort verlagert sich ins freiere Ausland, von dort fliessen die Druckerzeugnisse als propagandistische Schmuggelware in die unfreie Heimat zurück. So verhielt es sich mit tolstoianischen und kommunistischen Blättern, so mit der anarchistischen 'Freiheit' von Johann Most, die erst nach London, dann nach New York verlegt wurde, so mit der ebenfalls anarchistischen 'Autonomie' und anderen mehr.

Wir dürfen also davon ausgehen, dass der Artikel von Arnaldi weniger für die Leser an der amerikanischen Westküste  als für die Gesinnungsgenossen in der Heimat gedacht war, für die Tessiner und für die italienischen Wanderarbeiter, die in der Schweiz den weitaus überwiegenden Anteil der anarchistischen Bewegung ausmachten. Möglicherweise war Arnaldi nicht Italo-Amerikaner, sondern ein Tessiner, der die Verbindung zu einem vertriebenen Landsmann nutzte, um seine Gesinnungsgenossen in der Schweiz anzusprechen. Dies ist ihm auch bis ins bürgerliche Lager hinein gelungen, denn vermutlich auf seinen Artikel hin entsandten der 'Corriere delle sera' und die 'Gazzetta Ticinese' noch im selben Jahr eigene Korrespondenten zum Monte Verità.

Der Vorgang erhellt aber nicht nur die nahe Verbindung Ascona-San Francisco, sondern ist typisch für die internationale Vernetzung der literarischen und politischen Avantgarde überhaupt. Da innerhalb des politischen Spektrums die Anarchisten das radikalste und darum am meisten verfolgte Element ausmachten, waren sie umso mehr in der Welt verteilt und darum umso mehr auf Zusammenhalt angewiesen und speziell auf das Mittel der literarischen Kommunikation. Die weit verstreuten anarchistischen Ortsgruppen umfassten nur selten mehr als 20, in der Regel sogar nur 4 bis 6 Personen. Eine Organisation der Anarchisten gab es kaum, sie sammelten sich um bestimmte Blätter als sogenannte "Zeitungsparteien". Von daher kam ihren Zeitschriften zentrale Bedeutung zu. Zugleich aber die Möglichkeit sowohl wie die Aufgabe, die progressiven und emanzipatorischen Bestrebungen diesseits und jenseits des Ozeans zusammenzuführen. 'Der Arme Teufel' von Robert Reitzel hat diese Aufgabe musterhaft erfüllt.

In seinem Gedenkartikel für Reitzel im 'Sozialist' vom 4. Mai 1898 hat Gustav Landauer diese vermittelnde Rolle hervorgehoben:

Er vermittelte den Deutsch-Amerikanern die deutsche Literatur: auf Goethe, Heine, Scheffel, Gottfried Keller, Storm, Vischer, hat er immer wieder verwiesen. ... Henckell, Mackay und so viele andere, später vor allem Nietzsche, führte er in Amerika ein. Uns vermittelte er die Bekanntschaft mit der amerikanischen Literatur: auf Emerson, Henry David Thoreau, Walt Whitman verwies er mit Nachdruck. Und auch die grosse Arme Teufel-Familie vermittelte die verschiedensten Elemente: alte Korpsburschen, der katholische Pfarrer Hans-Jakob, der Gotteslästerer Panizza, der Freidenker Rüdebusch, der Demokrat [Michael Georg] Conrad, der Kommunist [Johann] Most, der Individualist Tucker, Gelehrte, Kaufleute, Arbeiter, alle kamen im "Armen Teufel" friedlich zusammen. (In Heider 191f.)

"Reitzel", sagt Landauer, "der Sprachkünstler, Reitzel, der Lebenskünstler, Reitzel, der Rebell, war ein Einziger, der so nicht wiederkommen wird" (ebd. 191).

Der geistige Boden war vorbereitet, als Monte Verità gegründet wurde. Was fehlte, war die Verwirklichung. Ascona konnte deshalb zum Zentrum und Sammelpunkt werden, weil die Siedler verwirklichten, was bisher nur Phantasie, Theorie und Hoffnung gewesen war. Ascona konnte alle freiheitlich-sozialen und freidenkerischen Bestrebungen der Zeit an sich ziehen und zusammenfassen. Dies umso mehr als die jesuanisch-franziskanische Lebens-weise von Gusto Gräser diesen Tendenzen eine religiöse Tiefendimension gab, die sie bisher nicht besessen hatten. Nach taoistischer Lehre fliessen alle Lebensströme zu dem, der sich am tiefsten stellt, der sich "unten hält". "Von seinem Heimkreis", heisst es in Gräsers Tao-Dichtung, "geht ein Segen aus". (Gräser: Tao - das heilende Geheimnis, S.61 und 54)


Gordon Kennedy: Children of the Sun.

A Pictorial Anthology

From Germany to California

1883-1949

Nivaria Press. Ojai, California U.S.A. 2003

LIFE-REFORM

It was Germany where the iron cage weighed heaviest. As in nature the antidote to a poisonous plant often exists within the same eco-system. Many alternative ideas originated in German speaking countries: homeopathy, vitamin therapy, hydrotherapy, helio-therapy, Julius Hensel’s crushed rock fertilizer, nature cure, mucusless diet and anthroposophy. (8) …

Even Mahatma Gandhi was deeply inspired by the works of Adolf Just and Louis Kuhne, and believed that it is our duty to read them.”

The four significant social reform groups of this era were: Wandervogel (free spirit/migrating bird), Naturmenschen (natural men), Lebensreform (life-reform) and Monte Verità (mountain of truth), the community at Ascona, Switzerland; a pre-cursor to Esalen in Big Sur, California. 

This cultural Renaissance in Germany and Switzerland showed its greatest influence up until the First World War in 1914. Aspects of it lasted through the 1920’s and 30’s, and even until the present time in Europe. (9f.)

 
HERMANN HESSE

Hermann Hesse came to Ascona in 1907, and was fascinated by Graser. While living in the village of Gaienhofen he became friends with Gusto, and saw in ihm a man who had done what he had dreamed of doing; living the life of the footlose pilgrim he had always wanted to be.  (41)

In 1908 he published Among the Rocks – Notes of a Nature Man, wherein he describes how le lived like a natural man and hermit, going naked in the woods, sleeping on the ground or in a hut made of brushes and leaves, fasting for days and weeks or living from water, berries and the fruits of the trees, trying in this way to get near to the heart of nature and to gain insight. All of this in following the example of his teacher Gusto Graser who showed him the way. (54) …

In 1916 he suffered from the stress of the war, and was further burdened by his child’s illness, father’s death and failing marriage. He returned to Ascona and to Gusto Graser and now underwent a fundamental change in his convictions and his view of life as we know from his novel Demian (1919). Once more Graser became his friend and teacher, but now in a less literal and more philosophical and spiritual way. After having suffered for a number of years being separated from Graser and his own deeper longings, he was now more ripe to hear and accept the message of his friend.

In 1919 he began to work on Siddharta, which was published in 1922. The guru-disciple relationship within the story was a mirror of Hesse’s own association with Graser his teacher. (54) …

Aldous Huxley once revealed that his own spiritual and intellectual development in England amd California followed the ideal of Hesse in Germany. Some of his best sellers like Brave New World, Doors of Perception and Island were parallels of Hesse’s works, though still unique unto them selves.

Beginning in the 1950’s with the Beat Generation, Hesse’s novels became immensely popular in the English-speaking world, where their criticism of bourgeois values and interest in Eastern spirituality and Jungian psychology echoed the emerging revolt against the unreflected life.

In the 1960’s Hermann became the novelist of the decade, with Demian, Siddharta and Steppenwolf selling in the millions and capturing and shaping an American audience. He was posthumously idolized by Timothy Leary and many of the keyplayers in the American youth movements of that era who had divorced themselves from the social needs of mainstream Western thought and cultivated their own “Glass Bead Games” in autonomous retreats.

Hermann Hesse died on August 9, 1962, but legitimate history will always recount him as the most important link between the European counter-culture of his youth, and their latter-day descendant in America. (55)

KARL WILHELM DIEFENBACH

… From 1897-1899 he reformed his community on the outskirts of Vienna at Himmelhof (Heaven’s Inn) this time joined by a 19 year old Gusto Graser, who later left in protest. Graser eventually helped to build a similar community near the vineyards of Ascona, Switzerland, Monte Verita.

By late 1899 Diefenbach again went bankrupt and fled to Triest, then finally to the isle of Capri in he Mediterranean Sea. On Capri he became succesful as a painter and respected as a curious eccentric. He always wanted to go back to Germany but all his attempts were met with failure. He lived the rest of his life on Capri until he died in 1913.

He was an inspiration and teacher for both Fidus and Gusto Graser.

In 1975 a Diefenbach Museum was founded by the Italian state in the ancient covenant of Certosa, on Capri. In 1988 another Diefenbach Museum opened in the castle of his home-town Hadamar, in Germany. (18)




Quellen und Literatur:
Anonymus "The Hermit of Palm Canyon" William Pester. In: The Desert Sun of Palm Springs. June 18, 1937.
Arnaldi, Carlo   Gli uomini della natura. In. La Protesta Umana, San Francisco, August 20, 1903. Supplemento Letterario, p. 6-7.
Botwright, Bill Master of Quail Canyon still at it - maybe even more so. In: News Press, 1964.
Child, B. W. Biographical Sketch of Prof. Arnold Ehret. In Ehret: The Story of my Life. New York 1980.
Ehret, Arnold Kranke Menschen. Der gemeinsame Grundfaktor im Wesen aller Krankheiten, des Alterns und des Todes. München 1911.
Ehret, Arnold Lebensfragen. München 1912.
Ehret, Arnold Rational Fasting for Physical, Mental and Spiritual Rejuvenation. Ehret Literature Publishing Co, New York.
Ehret, Arnold Mucusless Diet Healing System. Ehret Lit.
Ehret, Arnold Thus speaketh the Stomach. Ehret Lit.
Ehret, Arnold The Story of my life. As told to Anita Bauer.  New York 1980.
Ehret, Arnold Vom kranken zum gesunden Menschen durch Fasten. Waldthausen Verlag, Ritterhude.
Ehret, Arnold Die schleimfreie Heilkost. 7. Auflage. Waldthausen Verlag, Ritterhude 1994.
Ehret, Arnold Definite Cure of Chronic Obstipation. Ehret Lit.
Ehret, Arnold Physical Fitness through a Superior Diet. Ehret Lit.
Ehret, Arnold and others Roads to Health & Happiness. Ehret Lit.
Fischer, Millie W. Footprints through the Palms. Palm Springs, California, 1999.
Heelas, Paul The New Age Movement. The Celebration of the Self and the Sacralization of Modernity. Blackwell Publishers, Cambridge USA, 1996.
Heider, Ulrike Der arme Teufel. Robert Reitzel. Vom Vormärz zum Haymarket. Bühl-Moos: Elster Verlag, 1986.
Hesse, Hermann Doktor Knölge's Ende. In: Die Erzählungen. Frankfurt/M. 1973, erster Band, S. 12-17.
Kennedy, Edward Sage of Quail Canyon favors a freer World. Zeitungsartikel von 1947.
Kennedy, Gordon Briefe an Hermann Müller. Im Deutschen Monte Verità Archiv Freudenstein.
Kennedy, Gordon Still Ehret after all these Years. In: Just eat an Apple. Isdsue # 8, 1999.
Kennedy, Gordon Children of the Sun. A pictorial Anthology from Germany to California 1883-1949. Ojai, California, 2003.
Kennedy Gordon u. Ryan, Kody Hippie Roots and the Perennial Subculture. .In:  www.hipforums.com
Kirchfeld, F. u. Boyle, W. Nature Doctors. Pioneers in Naturopathic Medicine. Oregon, Portland, 1994.
Nettlau, Max   Geschichte der Anarchie. Band 5: Anarchisten und Syndikalisten. Teil 1. Vaduz: Topos Verlag, 1984.
Pieper, Werner Maximum Respekt. Der MedienXperimentor erzählt Geschichten von den Wurzeln und Rauchzeichen der Grünen Kraft. Löhrbach 1999.
Rezzonico, Giò (Hg.) Antologia di Cronaca del Monte Verità. Locarno: Eco di Locarno, 1992.
Rowe, Pearl to nature boy, life needn't be capitalized. In: Los Angeles Times, July 24, 1977, p. 74.
Sexauer, Hermann Why I have not yet become a citizen. Santa Barbara, California, June 1947. Typescript.  
Sutcliffe, Steve and Bowman, Marion  (Ed.) Beyond New Age. Exploring Alternative Spirituality. Edinburgh University Press, Edinburgh 2000.
Wellbery, David E.  u.a. (Hg.) A New History of German Literature. Harvard University Press 2004.
Wollen, Peter Ein vegetarisches Utopia in den Alpen. In: David E. Wellberry u. a. (Hg.): Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin University Press 2007, S. 822-826.

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