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Bei den „Naturmenschen“ von Ascona

(Der Aufenthalt der Frau Wölfling.)

(G. bedeutet Gräser - der Webmaster)

Ein reicher Legendenkranz hat sich um die „Asconeser“ gebildet, und selbst in der Schweiz findet man Leute, die jeden, der Ascona kennt, danach fragen, ob die Vegetarier dort wirklich in adamitischer Tracht sich ergehen, in Gütergemeinschaft und paradiesischer Eintracht leben u. s. w. Aber nichts von all dem trifft heute zu. Heute ist nur ein vegetarisches Sanatorium in dem Städtchen und einige angesiedelte Vegetarier in der Umgebung, die sich einer „naturgemäßen Lebensweise“ befleißigen, lange Haare und eine — zweifellos zweckmäßige — Reformtracht tragen, aber sonst — fast ausnahmslos — sich in nichts von kränklichen, dekadenten Großstadtkindern unterscheiden. Denn das ist das Charakteristische aller dieser Leute: wenn man ihren Werdegang verfolgt — und ich habe mich dieser Mühe bei jedem einzelnen unterzogen —, findet man, bis auf drei weibliche und eine männliche Ausnahme, daß sie durch irgend ein Leiden zu der vegetarischen Lebensweise gezwungen waren.

Nun machen sie aber aus der Not eine Tugend und werden „Weltanschauungshysteriker“. Kleinliche, eifernde Apostelchen, die den Vegetarismus, der ihnen — den Kranken — zur Gesundheit verhelfen soll, nun als Allheil mittel gegen alle physischen, psychischen und sozialen Leiden proklamieren. Leute, deren ganze Kultur die Hygiene und deren soziale Moral die gute Verdauung ist; die, weil sie — aus primitiven Instinkten oder wegen Krankheit — auf gewisse Genüsse verzichten, sich als ethisch hoch über der Gesamtheit stehend betrachten, die den brutalen Egoismus der „Aasfresser“ verdammen und ihr ganzes Sinnen und Trachten auf das physiologische Gedeihen ihres Körpers konzentrieren…

Das emsige Mühen um die körperliche Gesundheit ist das einzige Gemeinsame dieser sonst so heterogenen Elemente. Selbst ihre Nahrungsweise ist verschieden; die einen vermeiden nur den Fleischgenuß, verzehren aber nebst Gemüse- und Fruchtspeisen auch animalische Produkte, wie Milch, Butter und Eier, das sind die „Vegetarier“; die anderen, die „Vegetabilier“, essen nur Gemüse oder Obst und aus diesen zubereitete Speisen; als dritte kommen die „Rohköstler“, die Vegetabilier strengster Observanz, die nur rohe Pflanzenkost genießen und deren Zubereitung in irgend einer Art ablehnen. Verschieden wie ihre Nahrungsweise sind auch die Beweggründe ihrer Lebensführung. Die einen bekennen unverhüllt, daß sie lediglich aus gesundheitlichen Motiven dazu gelangten; die vegetarische Kost, die Arbeit und das Leben in freier Luft bekommen ihnen besser, und das scheint auch den Tatsachen zu entsprechen. Die zweite Gruppe bringt ethisch-religiöse Motive ins Treffen, leihen bei Tolstoj die Argumente, so weit sie ihnen passen — denn die bedeutendsten der Tolstojschen Ideen: die Passivität gegen Gewalt und das Gebot, nur von eigener Arbeit zu leben, acceptieren sie in der Praxis nicht — haben ihre besonderen Lieblingsgedankelchcn und lassen im übrigen den lieben Herrgott einen braven Mann sein, so lange man ihr überaus gesteigertes ethisches Selbstbewußtsein nicht verletzt. Die dritte und kleinste Gruppe will zugleich Sozialreformer sein, umfaßt ausgeprägte Individualitäten, die jeder Kultur und Zivilisation feindlich gegenüberstehen und à tout prix zur „Natur“ zurückkehren wollen. Sie verachten Seife und Bett als „konventionelle Lügen“, sind Asketen oder wollen als solche gelten und versichern dahei laut, viel zu laut, daß sie sich glücklich fühlen. Und sind zu wenig harmlos, um wirklich natürlich zu empfinden und zu leben.

Die stärkste Persönlichkeit dieser letzteren Gruppe und eine der wenigen wirklichen Individualitäten im ganzen Orte ist Karl G., ein früherer österreichischer Oberlieutenant, der, durch ein Leiden gezwungen, dem Fleischgenusse entsagen mußte und dann Apostel des Vegetarismus und des Naturmenschentums wurde. Sein soziales Leitmotiv ist: Im Kampfe ums Dasein hat jeder nur auf sich zu sehen. Aber wahrhaftig kein „Uebermensch“, höchstens „Höhlenmensch“; auch kein konsequenter Egoist, der nach Stirner erklärt: „Ich bin ich und die Welt ist mein Eigentum.“ Dazu fehlt ihm die geistige Weite und ein auf ein bestimmtes höheres Ziel gerichteter Wille. Er ist nur ein Fanatiker, der sich in sein Winkelchen zurückgezogen hat und dort trotzig erklärt: „Ich bin ich und mein Körper ist mein alleiniges und höchstes Eigentum“… Aber er ist ein Fanatiker, ein echter Fanatiker, dem schwache Charaktere oder aus dem Gleichgewichte gebrachte Geister erliegen können. Wenn er mit seinen langen Haaren, in seiner Nomadentracht, in seiner verfallenen Hütte auf dem Boden liegt und dem Besucher seine Lehren kündet, in ungelenker Sprache, aber mit harten, scharfen, trotzigen und selbstbewußten Worten, und diese mit den brennenden und stechenden Blicken, die ihm eigen sind und die sich in den Zuhörer einbohren, begleitet, dann übt er wirklich eine suggestive Macht aus. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man mit diesem Manne längere Zeit gemeinsam leben kann, ohne aus dem geistigen Gleichgewichte gebracht zu werden. Weniger widerstandsfähige Naturen ringt er einfach nieder. Seiner Frau ist dieses Schicksal auch widerfahren. Vor zwei Jabren mußte sie in eine Heilanstalt nach Zürich gebracht werden, ist jetzt genesen, lebt aber nicht mehr mit ihrem Manne…

Karl G. ist es auch gewesen, der Frau Wölfling zu dem Naturmenschentum „bekehrt“ hat. Er war einst Regimentskollege des Erzherzogs in Przemysl und mit diesem Mitglied der Tischgesellschaft „Ohne Zwang“, deren Angehörige auf dem Du-Fuße standen. So kam es, daß er Leopold Wölfling in Zug besuchte und dessen Frau ihn kennen lernte. Daß sie seinem Einflüsse erlag, ist — da sie für seine Lehren prädistiniert gewesen sein muß — nicht sehr verwunderlich.

Auch „Individualist“, aber kein asketischer Fanatiker, ist sein jüngerer Bruder Gustav G. Sein Lebenszweck ist, überall „strahlendes Leben“ zu verkünden. Ohne Kopfbedeckung, mit langem, übrigens sehr schönem Haare, langem Barte, einem togaartigcn Ueberwurf, der bis an die Knie reicht, Sandalen an den Füßen und Blumen in der Hand oder im Haare, geht er dahin und lächelt, lächelt glückselig und immer, bei Tag, bei Nacht, auf der Straße und in der Hütte, immer, immer lächelt er und „strahlt Leben“ aus. Ich glaube, er tut überhaupt nichts anderes. Ich kenne da einen für ihn sehr bezeichnenden Vorfall: einige Wintermonate verbrachte er in Zürich bei einem armen Tiscbler als „Gast“. Ein Bekannter machte ihm Vorwürfe, daß er dem armen Tischler zur Last falle, und darauf antwortete Gustav G. wörtlich: „Ach, ich habe ihm mal ein Stückchen Brot wegegessen, aber dafür habe ich ihm täglich eine „Fülle strahlenden Lebens gegeben!“ Ganz sicher fühlte sich Gustav G. in diesem Augenblicke als Wohltäter und Menschheitsbeglücker.

Zu den „Individualisten“ gehört auch S., ein „Rohköstler“ und wahrhaftiger Waldmensch, der sich von irgend einem Grundbesitzer einen Fruchtboum mietet, unter dem Baume schläft und von dessen Früchten lebt. Ist der Baum kahl gegessen, so zieht er aus und mietet eine andere Baum wohnung. Das ist ein sehr gutmütiger, harmloser Mensch, aber selbstverständlich hat er auch eine „Idee“. Er treibt nämlich Rassenstudien und verkündet seine „eigene“ Theorie: Die Menschen, deren Haut von der Sonne gebräunt wird, haben unreines Blut und gehören einer Rassenmischung an; die Haut der Menschen mit reiner Rassenherkungt widersteht in blendender Weiße jedwedem Sonnenbrande.

Unter den „Ethisch-Moralischen“ ist entschieden der „Mexicaner“ das absonderlichste Wesen. Er hat nämlich zwei Monate in Mexico geweilt und fühlt sich daher als „Mexicaner“, ist auf eine Zeitung aus diesem Lande abonniert, hat sein Kapital in merixanischen Papieren angelegt und im Gespräch mit ihm kommt es in jeder Minute hervor: „Wie ich in Mexico war…“ oder „In Mexico ist das so…“, „In Mexico hat man…“ Er ist erst fünfunddreißig Jahre alt, hat aber ganz das Gehaben und die langsame, gedehnte Sprechweise eines neunzigjährigen Greises. Dieser Mann steht nun auf dem Standpunkte, daß es nicht bloß sündhaft ist, ein Tier zu töten, sondern auch, es zu quälen, und eine Quälerei ist, das Tier in einem Stalle gefangen zu halten oder es anzubinden. Nun besitzt er aber eine Ziege. Wie bei mehreren unter den Ansiedlern besitzt auch seine Hütte kein«eTür und kein Fenster (um den Luftzutritt nicht zu behindern). Nun will er aber die Ziege nicht anbinden und doch verhindern, daß sie fortläuft. So muß er immer hinter ihr her sein und ist dadurch tatsächlich der Gefangene der Ziege. Hat er irgend etwas zu besorgen, so läuft er in aller Eile hinunter und zurück, immer in der Sorge, das Tierchen könnte fortgelaufen sein.

Einmal traf eine Frau den „Mexicaner“ gerade dabei an, einen mächtigen, vor seiner Hütte stehenden Baum zu fällen. Er erklärte ihr den Grund: „Wissen Sie, die Leute waren hier so unvernünftig, hier alle Bäume zu fällen. Nun haben die lieben Singvögelchen keinen Ort, ihre Nester zu bauen. Dieser Baum ist hohl, da fälle ich seine Krone, damit die armen Tiercben ihre Nester in den hohlen Stamm bauen können.“ Am Abend ging die Frau an dem Hause des Mexicaners vorüber und sah ihn ganz betrübt neben dem entkronten Baume stehen. „Ach, sehen Sie“ — klagte er — „jetzt habe ich die Krone gefällt und nun ist der Baum gar nicht hohl!“ Dabei muß man bedenken, daß der Mann dadurch den „lieben Tierchen“ den letzten Ort für den Nestbau — nämlich die Krone des Baumes — genommen hat. Mir erscheint dieser Vorfall für diese ganze Gruppe sehr charakteristisch. Sie sind nämlich fast durchwegs gütige und gutwillige Menschen, aber unfähig, für diese Gefühle eine nützliche Betäiigung zu finden. Zweifellos sind unter der Gruppe der „Ethisch-Moralischen“ die sympathischesten Personen der „Asconeser“ zu finden. Da ist zum Beispiel der kurländiscbe Baron R. ein überzeugter Tolstojaner, dem keine Spur Lächerlichkeii, Schrulle oder Pose anhaftet. Oder die Frau v. Sch., die eine der feinfühligsten und vornehmsten Persönlichkeiten ist, denen ich im Leben begegnet bin.

Ueberhaupt ist es merkwürdig, daß die Frauen dieses Kreises fast durchwegs die geistig und seelisch wertvolleren und körperlich gesünderen Elemente und stärkeren Persönlichkeiten sind. Vielleicht stehen sie wirklich der Natur näher. Ganz gering ist unter ihnen die Zahl jener, die lächerlich und vom Apostelgrößenwahn befallen sind. Lächerlich ist unter ihnen eigentlich nur Fräulein M., die Seifentante, wie sie von Spöttern genannt wird. Ihre Schilderung wird vielleicht an eine Possenfigur mahnen, aber diese Frau lebt wirklick! Sie hat nämlich die Entdeckung gemacht, daß die Bibel kein religiöses Werk, sondern ein medizinisches Geheimbuch ist. Jene Materialien, die in den einzelnen Büchern der Evangelien am meisten genannt werden, sind die besten Heilmittel. Nun hat sie herausgefunden, daß Salz, Sand und Wein, die in der Bibel am öftesten genannten Stoffe sind. Die Marseiller Seife besteht nun größtenteils aus Sand und Salz, diese Seife — so ist ihre Kombination — in Weinschaum aufgelöst, gibt nun ein Allheilmitiel. Erkrankt jemand im Orte. so ist sie mit ihrem Heilmittel zur Stelle und weicht nicht, bevor man ihr gestattet, den Erkrankten mit ihrer Seifenweinschaumlösung einzureiben. Genest der Kranke, so triumphiert sie; genest er aber nicht, so bringt sie das nicht in Verlegenheit. Sie erklärt dann einfach: „Der Kranke ist vom bösen Geiste besessen!“ Das alles ist nicht erfunden — das ist Tatsache.

Aber abgesehen von dieser „Seifentante“ find die Frauen fast durchwegs gesunde und ehrliche Menschen, denen die „naturgemäße Lebensweise“ wirklich reine Herzenssache ist. der sie mit Ausdauer und Enthusiasmus ergeben sind; sie kokettieren nicht damit, sie sind echt. Das muß man rundwegs anerkennen. Sie sind viel einfacher und natürlicher als die männlichen Ansiedler und haben keine speziellen Lieblingsideechen, keine Steckenpferde. Da ist zum Beispiel die Frau Z, eine Professorstochter, sehr intelligent, bescheiden, einfach und trotz ihrer Reformtracht distinguiert. Oder Frau T.. deren Lebenskraft und Freude einfach Neid erweckt. Oder Frau L …. r, die plaudern, springen, lachen, kochen und Gemüse pflanzen ebenso gut kann, wie Klavierspielen und Kinder pflegen. Oder die Schriftstellersgattin, die wie ein irdisch rotbackig Rautendelein des Weges kommt. Kurz, es ist verblüffend, so konfus und posierend die Männer dort erscheinen, umso ernster zu nehmen ist die ganze Asconeser Weiblichkeit. Vielleicht liegt das daran, daß die Frau wirklich einfacher, elementarer ist. Oder aber sind es besonders geartete Frauen, die durch Veranlagung unfähig sind, sich traditioneller Art zu fügen. Denn die meisten dieser Frauen haben den Mut, dort in vollster Oeffentlichkeit in freier Ehe zu leben.

Zwei dieser Frauen sind in den letzten zwei Jahren einer Katastrophe verfallen. Die eine — die schon erwähnt: Frau Karl G.s — hat sich von der geistigen Störung schon erholt, die andere. Lotte H.. die Tochter eines hohen preußischen Beamten, hat im April vorigen Jahres Selbstmord verübt. Ihr Schicktsal und ihre Entwicklung sind charakteristisch für die Grenzlinien geistiger Krankheit. Aus rein physiologischen Ursachen hatte sie seid ihrer Kindheit eine Abneigung gegen Fleischkost; sie wurde Vegetarierin, lebte zuerst in einer Kolonie im Harz und ging dann mit G. und Oe. nach Ascona, um die Kolonie Monte Verità zu gründen. Das war die erste Etappe ihrer Entwicklung: Verzicht auf verschiedene Nahrungs- und Kulturgenüsse; dann lernte sie in Ascona den Buddhismus kennen, und das schuf die zweite Etappe ihrer Entwicklung: Verachtung des Lebens und Sehnsucht nachdem Nirwana; dann wurde sie mit Nietzsches Zarathustra bekannt und schuf sich so eine eigene Heilslshre, nämlich: man hat den Menschen überwunden, wenn man die Materie — das ist, den Körper — durch Entziehung aller Genüsse besiegt und so in das Nirwana eingeht… Sie lebte in einer verfallenen, einsamen Hütte, ohne Tür und Fenster, schlief auf dem Rasen, entzog sich die Nahrung — einmal durch drei Tage — und vergiftete sich schließlich mit Morphium. „Eine Närrin,“ wird man vielleicht sagen. Nein, das war sie nicht. Sie war ein seelemgutes, feinfühliges, kluges Mädchen, das, wenn auch nicht gesund, so doch lebensfähig war, aber äußeren Einflüssen nicht standhalten konnte.

Eines muß man den Leuten lassen: sie haben sich einen wunder-wundervollen Flecken Erde für ihre Ansiedlungen ausgewählt. Der einzige prächtige Waldweg am ganzen Logo Maggiore ist hier — auf den Höhen ober Ascona — der Höhenweg von Losone nach Ronco, von dessen Kirchenterrasse sich ein wirklich betäubend schöner Ausblick auf Land und See bietet. Dann hat Ascona noch etwas, das am ganzen See nicht wieder zu finden ist: eine sich weit in den See hinausschiebende Fläche, das Maggiadelta, das von der hier in den See einmündenden Maggia, die aus den Bergen viel Sand und Geröll mitführt und hier durch Jahrhunderte ablagert, gebildet wird. Eine weite und sich weit in den See vorschiebende Ebene voll Weiden und hohem Schilf. Eine Mondnacht an dieser Stätte oder aber ein wilder Sturm, der den Lago Maggiore — den wildesten aller italienischen Seen — rasen lässt, ist etwas unvergeßlich Schönes. Und billig ist hier der Boden, denn die Reblaus hat die Weinkulturen zerstört und die meisten Bewohner sind ausgewandert. Auch das Klima ist vorzüglich. Im letzten Winter gab es nur an zwei Tagen leichten Schneefall und Ascona hat im Durchschnitt nur 24 sonnenlose Tage im Jahre. Es wäre wirklich ein paradiesischer Flecken, wenn — dieses dekadente, apostelposenhafte „Naturmenschen“-Völkchen nicht dort wäre!

C. M.

Neues Wiener Tagblatt, 41. Jahrg., 7. Juli 1907, Nr. 183, S. 7-8. Online