Immer
wieder brach Gusto Gräser ab oder aus, verließ das Gymnasium, die
Kunstgewerbeschule in Wien, dann die Lebensgemeinschaft des Malers und
Sozialreformers Karl Wilhelm Diefenbach. Immer wieder entwickelte er,
mal aus freien Stücken, öfter gezwungenermaßen, weil verfolgt und
vertrieben, Formen einer alternativen Existenzweise. Legendär ist die
von ihm im Herbst 1900 bei Ascona begründete Siedlung Monte Verità.
Öffentliches Aufsehen erregen seine Auftritte in deutschen Großstädten,
seine Tänze, Reden und Gedichte.
Gusto Gräser, Karikatur von Karl Arnold 1908.Die
beiden Weltkriege bringen dem unbeugsamen Kriegsdienstverweigerer
Ausweisung, Verhaftung und Einweisung in Irrenanstalten. Sein Wirken
stößt auch auf Anerkennung, ja Verehrung. Hermann Hesse setzt ihm ein
literarisches Denkmal in „Demian“. Die nationalsozialistische
Terrorherrschaft überlebt Gräser nach Schreibverbot und mehreren
Verhaftungen mit schwerer Not in München, wo er nach dem Krieg an
seinem unveröffentlicht gebliebenen Werk arbeitet und wo er auch seine
letzte Ruhestätte findet, in einem Armengrab.
Es hat in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen immer wieder
Persönlichkeiten gegeben, die „aus der Reihe tanzten“. Dieses
Anders-Sein wurde ihnen nicht immer gedankt, ja sie galten als
Außenseiter, denen man nicht unbedingt über den Weg traute oder sich
gerne Anekdoten über sie erzählte. Selbst Stephan Ludwig Roth war mit
seinen Reformvorschlägen auf verschiedenen Gebieten, sei es der Schule,
der Wirtschaft allgemein und der Landwirtschaft im Besonderen, bei
seinen Vorgesetzten wie auch in der sächsischen Gesellschaft auf taube
Ohren gestoßen und erst sein gewaltsamer Tod wurde dann zum Anlass
genommen, ihm die gebührende Stelle in der Reihe der Großen
einzuräumen. Auch der Arzt Friedrich Krasser in Hermannstadt, der um
die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen ältesten Sohn nach England
geschickt hat, damit dieser nicht zum k.k. österreichischen
Militärdienst einrücken musste. Gleichzeitig engagierte er sich bei den
Freidenkern, schrieb gesellschaftskritische Gedichte, die vor allem in
Deutschland weite Verbreitung als Flugblätter fanden, und dem man in
Österreich den Prozess machte. Oder man denke an dessen Enkel Hermann
Oberth, dessen wissenschaftlich untermauerte Idee, den Weltraum zu
bereisen, selbst von Universitäten nicht akzeptiert wurde, der aber
noch erleben durfte, dass seine Berechnungen doch noch von Erfolg
gekrönt wurden, als 1969 die ersten Menschen den Mond betraten. Da
hatte er alle Skeptiker Lügen gestraft.
„Gräser im Gras“, um 1955 in München.Und
nun gilt es an einen Mann zu erinnern, der nichts von alledem war. Er
hatte die Schule vorzeitig verlassen müssen, worüber er später
triumphierend berichtete; seine Lehre brach er ab; erst ein
preisgekröntes Gemälde auf der Ausstellung in Budapest brachte seinen
Namen wieder in Erinnerung. Ab da war er, grob gesprochen, für die
Gesellschaft verloren. Er verweigerte den Wehrdienst und wanderte in
die Zelle. Später sollte ihm die Dienstverweigerung während des Ersten
Weltkrieges sogar die Todesstrafe einbringen, die schließlich nicht
vollstreckt wurde. Er lehnte den Staat und all dessen Zwang ab, lebte
in „wilder“ Ehe, ging keinem geregelten Beruf oder Geldverdienst nach,
sorgte allein durch sein Erscheinungsbild für Aufsehen und, wenn er
dann noch das Wort ergriff, fürchteten die Behörden, es würde zu
Unruhen kommen. Nirgends war er wohl gelitten, immer wieder wurde er
ausgewiesen, denn nirgends hatte er Heimatrecht, als Ausländer schon
gar nicht. Dabei wollte er nichts als seine Ruhe haben, um seine
Gedanken aufzuschreiben, mit den Menschen darüber zu reden und sie für
die Natur zu begeistern, die er zu seiner Zeit schon bedroht sah. Er
beschwor die Zuhörer, für einen friedlichen Umgang miteinander
einzutreten und sich nicht allzu sehr in Abhängigkeiten jeder Art zu
begeben.
Gusto Gräser, von dem die ganze Zeit schon die Rede ist, stammte aus
gutbürgerlichem Hause in Kronstadt, wo er als zweiter von drei Brüdern
1879 geboren wurde. Es hatte ihm an nichts gemangelt, und doch wollte
er raus aus der Enge der siebenbürgischen Verhältnisse. Er ging nach
Wien, um Künstler zu werden. Dort begann seine – um ein heutiges
Schlagwort zu verwenden – Aussteigerkarriere. Von Wien nach München
übersiedelt, kam er hier in eine Stadt, die damals im Aufbruch war. Der
Jugendstil hatte Einzug gehalten, Schwabing war das Zentrum der
Künstler. In den Zeitschriften Jugend und Simplizissimus wurde alles
aufgespießt. Von München nun zog Gusto Gräser mit Gesinnungsgenossen
und neuen Ideen aus, um im Süden als freie Menschen in und mit der
Natur zu leben. Gusto und sein Bruder Karl wurden zu den Protagonisten
der neuen Bewegung.
Übrig blieb aber schließlich nur der Jüngere der beiden, der sein Leben
konsequent lebte, dessen Denken und Handeln deckungsgleich wurden. Das
kann man sowohl aus seinen Texten wie auch in den Schilderungen, die
von Dritten überliefert sind, nachvollziehen. Dass diese Lebensweise
behördlicherseits mit Argusaugen verfolgt und bei kleinstem Abweichen
von der Norm mit Maßnahmen gegen ihn vorgegangen wurde, war sein
Schicksal, dass er beinahe stoisch hinnahm. In manchen Texten klingt
zwar hin und wieder Resignation durch, aber selbst im Dritten Reich,
als man ihn aus Berlin auswies oder ihm ein Schreibverbot auferlegte,
blieb er mit seinen Briefen und Eingaben ruhig und gelassen und warf
den Behörden Unkenntnis seiner Person vor.
Dass er den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Denn
ein „Nichtstuer“ hatte kein Anrecht auf Zuteilungskarten für
Lebensmittel oder sonstige notwendige Dinge des Alltags. Nach 1945 war
er immer wieder in der Bayerischen Staatsbibliothek zu finden, wo er
nicht nur die Bestände in Anspruch nahm, sondern auch einen Platz fand,
sich in der kalten Jahreszeit aufzuwärmen. Auch im Restaurant „Klein
Bukarest“ in der Augustenstraße war er häufig zu Gast, wenn er
Landsleute treffen wollte, die die Kriegsumstände nach München
verschlagen hatten, um auf diese Weise Nachrichten aus Siebenbürgen,
aus Kronstadt zu bekommen.
Gräser schien vergessen zu sein, als er 1958, seiner Art entsprechend,
still von uns ging. „Doch bereits zwanzig Jahre später versammelten
sich mehr als tausend junge Menschen um seine Felsenhöhle bei Ascona.
Sie gedachten des Mannes, der ihrem Wollen und Denken Wege vorgebahnt
hatte, die vor ihm noch keiner beschritten hatte“, so Hermann Müller,
der beste Kenner und Verwalter des Großteils von Gräsers Nachlass.
Einige der Texte von Gusto Gräser sind erst in jüngster Zeit in
Buchform erschienen („Erdsternzeit. Gedichte und Sprüche“, Umbruch
Verlag, Recklinghausen 2007), und jüngst kam „TAO – Das heilende
Geheimnis“ im selben Verlag heraus.
Gedenkveranstaltungen in München
Im Rahmen der laufenden Veranstaltungsreihe im Haus des Deutschen Ostens, Am Lilienberg 5, in München (siehe Vorbericht in
dieser Zeitung, der Eintritt ist frei) versucht der Schriftsteller Hans Bergel in seinem Vortrag „Der lachende Siebenbürger“ (
6. November,
19.00 Uhr), den Außenseiter in seiner Zeit zu sehen. In Christoph Kühns
Filmdokumentation aus dem Jahre 2006, „Gusto Gräser – Der Eremit vom
Monte Verità“ (
13. November, 19.00 Uhr), kommen
Freunde und Familienmitglieder von Gräser zu Wort. Ein reiches
Fotomaterial und Ausschnitte aus seinem poetischen Werk runden dieses
berührende Porträt des „barfüßigen Propheten“ ab. Hermann Müller, der
Sammler und Erforscher des Gräser’schen Nachlasses sowie Herausgeber
seines Werkes, der auch die Ausstellung gestaltete, zieht ein
vorläufiges Fazit (
20. November, 19.00 Uhr).
Udo Acker