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Ausgabe: 11 / 2009, Seite: 102-107

Auf dem Berg der Wahrheiten

Von Gerhard Mack


Der Monte Verità oberhalb von Ascona war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Treffpunkt für Lebensreformer, Anarchisten und Theosophen. Harald Szeemann hat ihn 1978 als Energiezentrum wiederentdeckt - das geistige Nomadentum des großen Kurators markiert den Übergang von der Moderne zur Postmoderne

SERIE

DIE MODERNE Wie Bilder die Welt verändern: Der Kompaktkurs zur Kunst des 20. Jahrhunderts 1970-1980: Die Zeit der individuellen Mythologien + Reportage Monte Verità


Harald habe ich selten so enttäuscht gesehen wie damals", sagt Ingeborg Lüscher. Die Künstlerin sitzt in dem großen Raum, in dem ihr Mann viele seiner legendären Projekte entwickelt hat, und erinnert sich. Die Ausstellung "Monte Verità - die Brüste der Wahrheit", die 1978 die bunte Geschichte des Hügels über Ascona in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wieder lebendig machte, hatte gerade ihre Tournee von Ascona aus nach Zürich, Berlin, München und Wien beendet.

Harald Szeemann (1933 bis 2005) wollte diesen Aufbruch nutzen und auf dem Monte Verità eine Kunsthalle für Gegenwartskunst errichten.

Man hatte bereits einen Sponsor gefunden und einen Ort auf dem Gelände ausgesucht.

Richard Serra und Joseph Beuys hat ten zugesagt, Werke zu schenken. Mario Merz wollte einen Iglu geben. Er sagte: "Harry, du hast mit der Monte-Verità-Ausstellung das Bordell gezeigt, das wir Künstler im Kopf haben." Doch dann bekam Szeemann vom obersten Kulturbeamten des Kantons den Satz zu hören: "Es ist oft sehr schwer, jemanden zu finden, den man für eine Idee begeistern kann, aber es ist noch weit schwerer, so einen wieder loszuwerden." Ingeborg Lüscher schüttelt heute noch den Kopf über so viel Ignoranz.

Der Monte Verità war Szeemanns heiliger Berg wie die Montagne Sainte-Victoire für Paul Cézanne. Aber während der Vater der Moderne das kantige Gebirgsmassiv in der Provence in Farbtupfer zerlegte, um Licht und Atmosphäre einzufangen, war der Kurator am Ende der modernen Avantgarde- Bewegungen weniger an ästhetischen Wahrnehmungsphänomenen interessiert. Der nur wenige Hundert Meter hohe Hausberg Asconas, der auf einer Erdrinne magnetischer Anomalien liegt, war zu Beginn des 20.

Jahrhunderts ein Sammelpunkt für die verschiedensten Aufbrüche und Bewegungen.

In dem milden Klima und der üppigen Vegetation am Lago Maggiore trafen die Naturapostel einer vegetarischen Lebensreform mit Sozialisten, Pazifisten, Theosophen und Anarchisten zusammen. Henri Oedenkoven, ein belgischer Fabrikantensohn, kaufte 1900 mit ein paar Gleichgesinnten auf dem von Ginster und Gestrüpp bewachsenen Hügel 3,5 Hektar Land und gründete eine "Kolonie" für ein naturnahes Leben. In rohem Gemüse, Früchten und Nüssen sah er einen Weg in eine bessere Gesellschaft. Seine Partnerin, die Pianistin Ida Hofmann, machte die Ehe ohne Trauschein und den Verzicht aufs einengende Mieder zum Symbol feministischer Befreiung. Beide zusammen gründeten ein Naturheilsanatorium für zahlende Besucher, um die Gemeinschaft zu finanzieren.

Karl Gräser, ein anderer Mitbegründer, verteufelte dagegen materielle Werte und wusste doch stets, sich neue Mittel zu erschließen.

Einfache Aussteiger, die nicht mehr als ein paar ungezwungene Tage verleben wollten, kamen hier ebenso vorbei wie Utopisten, die sich die Köpfe heiß redeten. Der Arzt Raphael Friedeberg predigte Anarchie, der Psychiater Otto Gross schimpfte auf die Selbstdisziplin der Vegetarier und feierte wilde Orgien.

Und der deutsche Anarchist Erich Mühsam wünschte sich hier "eine Republik der Heimatlosen, der Vertriebenen, des Lumpenproletariats", bevor er sich über die langhaarigen "Christusköpfe" lustig machte, die "sich mit ihrem bisschen Weltanschauung als ‚Individualitäten' aufblasen, während sie doch einander gleichen wie durchgepaust".

Bald kamen auch Künstler und Literaten.

Hermann Hesse machte hier 1907 eine Heilkur und posierte nackt im Frei en. Rainer Maria Rilke wird in den Annalen ebenso vermerkt wie Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky. Die Münchner Gräfin Franziska zu Reventlow schrieb hier ihre besten Romane. Der Philosoph Ernst Bloch feierte vergnügte Tage. Sophie Taeuber, Hans Arp, die ganze Dadaisten-Bande aus Zürich reisten nach Ascona. Auf dem Monte Verità und an den Ufern des La go Maggiore entwickelte Rudolf von Laban ab 1913 mit Mary Wigman den Ausdruckstanz, der als Körpersprache eines freieren Lebensgefühls bald die westliche Welt eroberte.

Selbst Politiker wie die führenden deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky und August Bebel haben vorbeigeschaut. Auch Lenin soll während seiner Exilzeit in Zürich auf dem Berg der Wahrheit gewesen sein. "Über 700 bedeutende Zeitgenossen" hat der Privatforscher Eberhard Mros gezählt, "die auf dem Monte Verità im Laufe der Jahre vorbeigekommen sind und Anregungen in alle Welt mitgenommen haben".

Die Vielfalt der Ansätze, das Zusammentreffen unterschiedlichster Menschen aus halb Europa faszinierten Harald Szeemann.

Auf den Monte Verità kamen Menschen, die genug hatten von den Begrenzungen der bürgerlichen Gesellschaft und die spürten, dass eine Epoche zu Ende ging. Hier wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts versucht, eine neue Gesellschaft von den Rändern her zu denken. Hier schlug die Stunde der Aussteiger. Der Monte Verità war ein anderer Zauberberg der Moderne als Thomas Manns Davoser Lungensanatorium für die besseren Stände in seinem berühmten Roman. Es gab Hippies und Prominente, Esoterik und freie Liebe. Man trug wallende Gewänder und lange Haare. Alles Pro visorische, Unfertige konnte versucht wer den.

Das musste einen faszinieren, der für sich notiert hat: "Picasso hat immer weiter gemalt, Duchamp hat immer weiter gedacht." Der Satz hängt mit anderen Sentenzen hinter Ingeborg Lüscher an einem Wollfaden über Szeemanns Schreibtisch. Das Paar hat sich 1972 bei der fünften Documenta kennen gelernt, die der Berner als jüngster Direktor leitete. Die Künstlerin lebte im Tessin, der Ausstellungsmacher zog mit seinem Ein-Mann-Betrieb "Agentur für geistige Gast arbeit" hierher und sagte künftig, "mein Tessin ist eine Frau", wenn jemand irritiert fragte, wieso der innovativste Kurator so abgelegen wohnt und arbeitet. 1986 brachte er seine Materialien aus den Wohnungen in Bern, Zürich und Tegna in die ehe malige Galvanisierungsfabrik im Maggia- Tal oberhalb von Ascona. Bücher und Dossiers, Zeitschriften und Fotos füllen die Räume auf zwei Stockwerken. Auf den Tischen lagern Hängeregistraturen und Kisten. Das Geschenk eines Künstlers, das Erinnerungsfoto, der Nippes, die Telefonnummer und die gewichtige Monografie sind unmittelbar nebeneinander zu finden, weil sie Gedankengänge vergegenständlichen und Anregungen bergen. "Mein kreatives Chaos" hat Szeemann die überbordende Fülle selbstironisch genannt und darauf hingewiesen, dass er aus dieser Höhle des angesammelten Wissens seine Ideen für Ausstellungsprojekte schöpfte.

Vom Monte Verità sind nur noch wenige Hängeregistraturen vorhanden. Den Großteil der Dokumente hat der Kanton Tessin von den Erben erworben und fürs Erste in seinen Archiven eingelagert. Wer heute von Ascona auf den Monte Verità hinaufsteigt, hat denn auch zunächst einmal Mühe, etwas von den Lebensansätzen wiederzufinden, die hier vor 100 Jahren erprobt wurden. Am Hang wechseln die Villen der Begüterten mit den Hotels für die Touristen. Und auf dem Berg strahlt das Bauhaus-Gebäude, das der Düsseldorfer Architekt Emil Fahrenkamp 1927 für Baron Eduard von der Heydt gebaut hat. Der Baron liebte es mondän, hängte einen Cézanne neben den Aufzug und einen van Gogh in einen Saal. Er war ein grandioser Kunstliebhaber und ein schillernder Bankier. Er finanzierte Kaiser Wilhelm II. und Hitlers Kanonier Fritz Thyssen.

Mit von der Heydt kam die internationale High Society nach Ascona. Sein Hotel war für viele Jahre das feinste am Ort. Erst als nach dem Zweiten Weltkrieg der Massentourismus einsetzte, verlor es an Strahlkraft; als er starb, schenkte er Park und Gebäude dem Kanton Tessin, mit der Auflage, sie kulturell zu nutzen. Heute wird die Anlage nach verschiedenen Um- und Anbauten als wissenschaftliches Kongresszentrum der ETH Zürich genutzt. Das sichert die Finanzierung und fügt den Widersprüchen der Lebensreformer einen weiteren hinzu. Wo einst mit Rohkost und harter Gartenarbeit ein natürliches Leben geprobt wurde, reflektiert man über Gentechnologie und mathematische Kurven für Himmelskörper.

Aus der Frühphase des Monte Verità ist nur wenig erhalten. Wer durch den Wald spaziert, findet noch eine Dusche im Freien von 1901 und zwei Betonwannen für Fußbäder. Das Holzhäuschen Casa Selma zeigt mit seinen zwei kleinen Räumen, einem winzigen Waschbecken und einer Sonnenterrasse, wie die Lebensreformer in den ersten Jahren der Kolonie wohnten. Die Casa Anatta bauten sich Henri Oedenkoven und Ida Hofmann 1904 als theosophisches Experiment: ganz in Holz, mit Schiebetüren und gerundeten Fenstern und Kanten, um die Harmonie nicht durch zu viele Ecken zu stören. Aber auch mit Zentralheizung und Badezimmer. Man war nicht gegen die Annehmlichkeiten der Zivilisation, nur gegen ihre Zwänge. Hier lag mit Konzerten und Vorträgen der kulturelle Mittelpunkt der Kolonie. Hier hatte Harald Szeemann 1981 seine Ausstellung zum Monte Verità als verkleinerte Dauerpräsentation ein gerichtet, bis das Dach leckte und die Farbe abblätterte. Sie soll ab 2012 wieder zu sehen sein, wenn das Gebäude endlich restauriert sein wird.

Gleich daneben hat die Deutschrussin Maria Adler das "Russenhäuschen" errichtet.

Später baute sie das vierstöckige "Hotel Semiramis" und warb in den Zeitungen rund um den Lago Maggiore, man könne von den beiden Rundtürmchen aus die Naturisten beim Nacktbaden beobachten.

Sonntags herrschte Hochbetrieb, die Schifffahrtsgesellschaft aus Italien bot Extrafahrten an.

Zu Tausenden sollen Neugierige gekommen sein, um über die hohen Zäune zu schauen, hinter denen Männlein und Weiblein brav getrennt lagen. Das Entgeld für das Peepvergnügen in Höhe von 50 Rappen war stattlich. Gereicht hat es dennoch nicht. Maria Adler ging nach zwei Jahren pleite wie so viele andere. Oedenkoven kaufte ihr das Gebäude ab und ließ als erstes die Türme ins Tal stürzen. "Es gefällt mir an diesem Hügel, dass nie jemand an ihm etwas verdient hat", hat Harald Szeemann einmal gesagt. Die Experimente sind stets Versuche geblieben, hier hat die Moderne nicht die siegessichere Geste der grandiosen Formulierungen gezeigt, sondern dass sie genauso vom Ausprobieren und vom Scheitern lebt.

Darin liegt noch immer das Potenzial des Monte Verità. Der Skandal um die Nacktheit ist längst vorbei. Heute recken Hüllenlosbräuner ihre Körper überall auf den Felsen des Flusses Maggia in die Sonne. Die Einheimischen nennen sie nicht mehr "Verrückte" wie einst, es sind normale Touristen aus Kassel, Basel und Berlin, die sich nach ein bisschen südlicher Sonne und Sexappeal sehnen und vor allem Geld in die Kassen der Gemeinden am Lago Maggiore spülen.

Der Tourismus hat die einfacheren Forderungen der Lebensreformbewegung von vor 100 Jahren für die große Masse erfüllt. Die Sehnsucht nach Aufbruch, die Sensibilität für die Brüche einer Gesellschaft und die Bereitschaft zur Erprobung von Entwürfen sind dagegen schwerer einzulösen. An ihnen war Szeemann interessiert. Ihre Offenheit passte zu seinem Selbstverständnis als erster freischaffender Kurator und zum Ende der Avantgarden in den siebziger Jahren. Nicht der Kampf gegen die Vorläufer, sondern das fast schon postmodern friedliche Miteinander und Nebeneinander war angesagt. "Make love not war!", lautete die Parole. Wenn sie sie gekannt hätte, hätte die Hippie-Bewegung in den Aussteigern vom Monte Verità ihre Ahnen feiern können.


Literatur:

Harald Szeemann: Monte Verità - Berg der Wahrheit. Electa, Mailand, 1978

Hans-Joachim Müller: Harald Szeemann. Ausstellungsmacher, Hatje Cantz Verlag, 2006

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